Der Klassiker zum Wiederentdecken: Mit seinem Weltbestseller revolutionierte der Bergsteiger und Schriftsteller Jon Krakauer die Abenteuerliteratur - und läßt Spannung und Faszination, Fassungslosigkeit und blankes Entsetzen eins werden. 1996 nahm der amerikanische Journalist Jon Krakauer an einer Mount-Everest-Expedition teil. Das Unternehmen endete in einer Katastrophe, fünf von Krakauers Kameraden kamen auf tragische Weise in einem peitschenden Schneesturm ums Leben, er selbst konnte sich mit letzter Kraft in Sicherheit bringen. Minutiös und eindrucksvoll schildert er in diesem Bericht den Verlauf der Expedition. Er äußert sich außerdem kritisch über die Auswüchse des modernen Alpinismus mit seinen oft tödlichen Folgen, vermittelt aber zugleich einen Eindruck von der magischen Anziehungskraft und der Faszination des Bergsteigens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998Die Besteigung des weißen Wals
Vor das Gipfeltreffen am Mount Everest haben die Götter den Tod gesetzt: Jon Kracauer dokumentiert den Weg ins Nichts / Von Freddy Langer
Daß die Everest-Besteigungen des Frühjahrs 1996 von den Medien dankbar aufgenommen würden, war von Beginn an klar. Mehr Betrieb dürfte am Fuße dieses Bergs selten geherrscht haben. Dreißig Expeditionen waren damals unterwegs, unter ihnen zehn kommerzielle Gruppen, deren Teilnehmer bis zu hundertzwanzigtausend Mark für die ausgefallene Pauschalreise bezahlt hatten. Mehrere hundert Männer und Frauen kämpften sich innerhalb weniger Wochen mit kleinen Schritten dem Gipfel entgegen. Sie alle, so schien es damals, würden ihre jeweils eigene, einzigartige Geschichte zu erzählen haben, darunter ebenso sensationelle wie kuriose Meldungen.
Der Schwede Göran Kropp etwa war mit dem Fahrrad angereist, wollte auf den Gipfel steigen und anschließend zurück nach Stockholm radeln. Südafrika hatte die erste gemeinsame Expedition von schwarzen und weißen Bergsteigern auf den Weg geschickt. Yasuko Namba, in Japan eine Nationalheldin, hoffte auf den Rekord, die älteste Frau zu sein, die je auf dem Dachfirst der Welt gestanden hat. Der New Yorker Millionärsgattin Sandy Hill Pittman fehlte nur noch der Everest, um ihre Liste der "Seven Summits" mit dem jeweils höchsten Berg jedes Kontinents zu komplettieren. Ihr Buch über die Erfahrungen hatte sie schon vor der Reise angekündigt: "Summits of my Soul". Sogar eine Imax-Crew war mit zentnerschwerer Technik unterwegs zum Gipfel, um einen Naturfilm für die eigenen Großkinos zu drehen. Doch am Ende sollte vor allem eine Geschichte übrigbleiben: der Bericht des amerikanischen Bergsteigers und Journalisten Jon Kracauer. Es ist die Chronik einer Tragödie, die sich von Fehlleistung zu Fehlleistung unaufhaltsam und immer schneller ihren Weg "in das albtraumhafte Reich des Wahnsinns" bricht, wie Kracauer es nennt - und dabei nach und nach zwölf Menschen in den Tod reißt. Nie zuvor hatte es am Everest so viele Tote in einer Saison gegeben.
"In eisige Höhen" ist ein schreckliches Buch. Es raubt einem den Schlaf und bisweilen die Sinne. Dem lieblichen Berg-Idyll ebenso fern wie der hehren Vorstellung des Sublimen, beschreibt Kracauer den Mount Everest als kalte, menschenabweisende Welt, in der es nicht das vielgepriesene Gipfelglück gibt, sondern nur Sturm und Kälte. Selbst auf der Spitze, mit 8848 Metern dem Himmel näher als jeder andere Punkt der Erde, bleibt der Rausch der Gefühle aus. Für Empfindungen fehlt dort oben die Kraft - für Freude über das erreichte Ziel genauso wie für Mitgefühl angesichts der Leichen, die mit zerfetzten Gesichtern und verdrehten Gliedern den steilen Weg in schwindelnde Höhen säumen. "Es war, als gäbe es auf dem Berg ein stilles Einverständnis, daß diese verwesten Überreste nicht wirklich existierten", schreibt Kracauer, "als würde es niemand von uns wagen zuzugeben, was hier wirklich auf dem Spiel stand."
Auf dem Mount Everest herrschen Bedingungen wie während eines Langstreckenflugs außerhalb der Kabine. Die Temperatur steigt kaum über minus vierzig Grad. Der Jet Stream bläst über den Gipfel. Der Sauerstoffgehalt der Luft entspricht einem Drittel desjenigen auf Meereshöhe. "Todeszone" nennen Bergsteiger Höhen jenseits von achttausend Metern. Wunden heilen dort nicht mehr, Magen und Darm hören auf zu arbeiten, der Körper verzehrt sich selbst, der Flüssigkeitsverlust ist lebensbedrohlich hoch. Permanente Kopfschmerzen sind noch das geringste Übel. Herz und Lunge pumpen in erschöpfendem Tempo, und doch kommt man allenfalls ein paar Schritte vom Fleck, ohne eine Pause einlegen zu müssen. Den Gipfel zu erreichen ist ein Triumph der Begierde über den Verstand.
Etwa siebenhundert Menschen haben seit der Erstbesteigung 1953 durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem Mount Everest gestanden; etwa hundertfünfzig Menschen sind seit den ersten Expeditionen zu Beginn der zwanziger Jahre an seinen Flanken ums Leben gekommen. Aber für viele, auch für Kracauer, liegt das Wesen des Bergsteigens gerade in jenem "prickelnden Gefühl, das Geheimnis des Todes zu streifen, einen verstohlenen Blick über die verbotene Grenze zu werfen". In seinem Buch berichtet er vom Besuch in der Hölle. Als Beobachter des größten Unglücks am Mount Everest bedient er sich der Variante eines mythenerprobten Topos: des Schiffsuntergangs mit Zuschauer.
Kracauer ist Ismael. Um Haaresbreite hat er die Katastrophe überlebt, und nun erzählt er von der irrsinnigen Jagd nach dem mißverstandenen Lebenstraum, erzählt, um sich selbst vom Everest zu befreien und seiner eigenen Schuld bewußt zu werden, folgt, wie er sagt, einer "inneren Notwendigkeit" und will sich mit "unnachsichtiger Ehrlichkeit" den Schmerz von der Seele schreiben - in der Hoffnung auf die erlösende Kartharsis. Aber "In eisige Höhen" ist kein Roman, sondern eine Reportage. Dem Tod ist hier kein höherer Sinn zu entnehmen. Die Läuterung bleibt aus. Am Ende steht der grausige Schrecken - und ungerührt dieser massige Berg, Fluchtpunkt des Wahnsinns und der Eitelkeiten, dessen vereiste Wände als Projektionsfläche für ebenso viele Sehnsüchte, Ängste und Hirngespinste taugen wie bei Melville der weiße Körper des Wals.
Dennoch gelang Kracauer zugleich ein ansehliches Stück Literatur. Mit Vorschauen und Rückblenden bewegt er sich durch die Historie, vom eigenen Gipfelerlebnis zu den ersten Vermessungsexpeditionen im Himalaya, von der ersten Besteigung des Everest zu den Problemen des Massenandrangs in unseren Tagen, selbst für Ausführungen über die Kultur der Sherpas und die Eigenheiten des Hochlandviehs läßt er sich anfangs Zeit. Roter Faden aber bleibt der Aufstieg und Untergang jener kommerziellen Expedition, mit der er unterwegs gewesen ist, die Verkettung zunächst unscheinbarer Ereignisse, die sich allmählich zur kritischen Masse verbanden und deren fatale Konsequenz erst am Ende deutlich wurde. Kracauer hat das Buch mit Ortswechseln, Zeitsprüngen und Tempowechseln strukturiert wie einen Bestseller, was es in Amerika tatsächlich geworden ist. Mehr als siebenhunderttausend Mal hat es sich verkauft.
Vor allem, daß das Unglück am Everest geschah, macht es so spektakulär, auch mythenträchtig. Bei jedem anderen Berg hätte das Publikum vermutlich mit den Schultern gezuckt. Selbst die Naturkatastrophe in Bangla Desh mit sechshundert Toten und 34000 Verletzten, zur gleichen Zeit und ausgelöst durch vielleicht denselben Sturm wie die doch soviel geringere Tragödie am Everest, schaffte es damals nur in die vermischten Meldungen, während Zeitungen und Magazine den verunglückten Bergsteigern ihre Schlagzeilen und Titelgeschichten widmeten. Neben den ethisch-religiös unterlegten Überlegungen, wie weit die Kommerzialisierung noch gehen dürfe an einem Berg, der den Einheimischen immer heilig war, der in Tibet Jomolungma heißt, "Mutter der Erde", und in Nepal Sagarmatha, "Göttin des Himmels", und neben der esoterisch angehauchten Vorstellung, der Berg habe sich der Eindringlinge erwehrt, sich gerächt, galt das Interesse allerdings in kaum geringerem Maß den betroffenen Personen; Kracauer nennt sie "Dramatis Personae".
Sie sind Figuren wie für einen Film ersonnen: Die Gesellschaftsdame aus New York, die ihre eigene Espresso-Maschine mitgebracht hat, im Basislager per Kurier die jeweils aktuellen Mode- und Klatschmagazine aus Amerika erhält und sich Laptop sowie Telefon auf 7900 Meter schleppen läßt, um über Internet mit der Welt zu kommunizieren. Der bergbesessene Postbeamte von der Westküste, der im Jahr zuvor hundert Meter vom Gipfel entfernt hatte umkehren müssen und seither keine Ruhe mehr findet. Der Pathologe aus Dallas, der im verheerenden Sturm mehrmals als tot zurückgelassen wird und sich immer wieder, am Ende einem Zombie ähnlicher als einem Menschen, aus dem Schnee schaufelt und mit erfrorenen Gliedmaßen, halbblind dem Team hinterherläuft. Oder der neuseeländische Bergführer Rob Hall, der im Sterben ein letztesmal über Satellitentelefon mit seiner schwangeren Frau zu Hause spricht: "Ich liebe Dich. Schlaf gut, mein Schatz. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen."
Ebendieser Rob Hall ist es gewesen, der die kommerziellen Besteigungen des Mount Everest perfektioniert hat. Innerhalb von vier Jahren hatte er bis 1994 immerhin 39 Menschen auf den Gipfel geführt. Mit "100 % Everest Success" warb er in Bergsteiger-Magazinen für seine Touren. Doch 1995 erreichte trotz seines ausgetüftelten Akklimatisierungsplans mit Streifzügen zwischen vier Camps hinauf und hinunter keiner seiner Klienten den Gipfel. Hall stand unter Erfolgsdruck - zumal diesmal seinem Mitbewerber Scott Fischer, zur selben Zeit auf dem Weg zum Gipfel, mit seinem Team mehr Fortune beschieden schien. Seine Sherpas hätten ihnen eine "Yellow Brick Road" zum Gipfel gelegt, pflegte Fischer seinen Kunden zu sagen - jene legendäre Märchenstraße aus dem "Zauberer von Oz". Auch Fischer starb am Berg.
Seitdem Anfang der neunziger Jahre vierzig Menschen am selben Tag auf dem höchsten Gipfel der Welt gestanden haben, sprach man in Bergsteigerkreisen davon, daß dieser Andrang früher oder später zur Katastrophe führen müsse - schon deshalb, weil man durch die perfekt organisierten Veranstalter mangelnde Höhenerfahrung mit Geld wettmachen konnte. Der Gipfel wurde zur Bühne für finanzkräftige Selbstdarsteller, von denen mancher angeblich nicht einmal die Steigeisen selbst hat anlegen können.
Einiges spricht dafür, daß wegen des Konkurrenzkampfs zwischen Hall und Fischer so vieles falsch gelaufen ist und am Ende nicht einmal der wichtigste Punkt der exakt kalkulierten Strategie noch etwas galt: der endgültige Zeitpunkt der Rückkehr. Weshalb aber ausgerechnet die Expeditionsleiter Hall und Fischer nicht mehr herunterkamen, darüber kann man nur spekulieren. Kracauer greift einige der Debatten auf, und längst setzen sie sich in weiteren Büchern fort, etwa "The Climb" von Anatoli Boukreev, einem der Bergführer aus Fischers Mannschaft, der mittlerweile andernorts, am Annapurna, umgekommen ist, oder "Dark Shadows Falling" des britischen Bergsteigers Joe Simpson, der aus ethischen Gründen am liebsten den Mount Everest für Bergsteiger geschlossen sähe.
Daß das Unwetter eine Strafe war für gotteslästerlichen Übermut einiger sich allmächtig wähnender Menschen, das freilich behauptet in all diesen Büchern niemand. Und dennoch könnte man damit den Erfolg des Buchs erklären, daß mancher Leser das glaubt. Dann wären die Käufer identisch mit jenen Kinobesuchern, die dieser Tage dem Film "Titanic" zu seinem großen Triumph verholfen haben. Die Verbindung von kleinen Schicksalen und großen Katastrophen ist noch am Ende eines jeden Jahrhunderts des allgemeinen Interesses sicher gewesen.
Jon Kracauer: "In eisige Höhen". Das Drama am Mount Everest. Aus dem Amerikanischen von Stephan Steger. Malik Verlag, München 1998. 368 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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Vor das Gipfeltreffen am Mount Everest haben die Götter den Tod gesetzt: Jon Kracauer dokumentiert den Weg ins Nichts / Von Freddy Langer
Daß die Everest-Besteigungen des Frühjahrs 1996 von den Medien dankbar aufgenommen würden, war von Beginn an klar. Mehr Betrieb dürfte am Fuße dieses Bergs selten geherrscht haben. Dreißig Expeditionen waren damals unterwegs, unter ihnen zehn kommerzielle Gruppen, deren Teilnehmer bis zu hundertzwanzigtausend Mark für die ausgefallene Pauschalreise bezahlt hatten. Mehrere hundert Männer und Frauen kämpften sich innerhalb weniger Wochen mit kleinen Schritten dem Gipfel entgegen. Sie alle, so schien es damals, würden ihre jeweils eigene, einzigartige Geschichte zu erzählen haben, darunter ebenso sensationelle wie kuriose Meldungen.
Der Schwede Göran Kropp etwa war mit dem Fahrrad angereist, wollte auf den Gipfel steigen und anschließend zurück nach Stockholm radeln. Südafrika hatte die erste gemeinsame Expedition von schwarzen und weißen Bergsteigern auf den Weg geschickt. Yasuko Namba, in Japan eine Nationalheldin, hoffte auf den Rekord, die älteste Frau zu sein, die je auf dem Dachfirst der Welt gestanden hat. Der New Yorker Millionärsgattin Sandy Hill Pittman fehlte nur noch der Everest, um ihre Liste der "Seven Summits" mit dem jeweils höchsten Berg jedes Kontinents zu komplettieren. Ihr Buch über die Erfahrungen hatte sie schon vor der Reise angekündigt: "Summits of my Soul". Sogar eine Imax-Crew war mit zentnerschwerer Technik unterwegs zum Gipfel, um einen Naturfilm für die eigenen Großkinos zu drehen. Doch am Ende sollte vor allem eine Geschichte übrigbleiben: der Bericht des amerikanischen Bergsteigers und Journalisten Jon Kracauer. Es ist die Chronik einer Tragödie, die sich von Fehlleistung zu Fehlleistung unaufhaltsam und immer schneller ihren Weg "in das albtraumhafte Reich des Wahnsinns" bricht, wie Kracauer es nennt - und dabei nach und nach zwölf Menschen in den Tod reißt. Nie zuvor hatte es am Everest so viele Tote in einer Saison gegeben.
"In eisige Höhen" ist ein schreckliches Buch. Es raubt einem den Schlaf und bisweilen die Sinne. Dem lieblichen Berg-Idyll ebenso fern wie der hehren Vorstellung des Sublimen, beschreibt Kracauer den Mount Everest als kalte, menschenabweisende Welt, in der es nicht das vielgepriesene Gipfelglück gibt, sondern nur Sturm und Kälte. Selbst auf der Spitze, mit 8848 Metern dem Himmel näher als jeder andere Punkt der Erde, bleibt der Rausch der Gefühle aus. Für Empfindungen fehlt dort oben die Kraft - für Freude über das erreichte Ziel genauso wie für Mitgefühl angesichts der Leichen, die mit zerfetzten Gesichtern und verdrehten Gliedern den steilen Weg in schwindelnde Höhen säumen. "Es war, als gäbe es auf dem Berg ein stilles Einverständnis, daß diese verwesten Überreste nicht wirklich existierten", schreibt Kracauer, "als würde es niemand von uns wagen zuzugeben, was hier wirklich auf dem Spiel stand."
Auf dem Mount Everest herrschen Bedingungen wie während eines Langstreckenflugs außerhalb der Kabine. Die Temperatur steigt kaum über minus vierzig Grad. Der Jet Stream bläst über den Gipfel. Der Sauerstoffgehalt der Luft entspricht einem Drittel desjenigen auf Meereshöhe. "Todeszone" nennen Bergsteiger Höhen jenseits von achttausend Metern. Wunden heilen dort nicht mehr, Magen und Darm hören auf zu arbeiten, der Körper verzehrt sich selbst, der Flüssigkeitsverlust ist lebensbedrohlich hoch. Permanente Kopfschmerzen sind noch das geringste Übel. Herz und Lunge pumpen in erschöpfendem Tempo, und doch kommt man allenfalls ein paar Schritte vom Fleck, ohne eine Pause einlegen zu müssen. Den Gipfel zu erreichen ist ein Triumph der Begierde über den Verstand.
Etwa siebenhundert Menschen haben seit der Erstbesteigung 1953 durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay auf dem Mount Everest gestanden; etwa hundertfünfzig Menschen sind seit den ersten Expeditionen zu Beginn der zwanziger Jahre an seinen Flanken ums Leben gekommen. Aber für viele, auch für Kracauer, liegt das Wesen des Bergsteigens gerade in jenem "prickelnden Gefühl, das Geheimnis des Todes zu streifen, einen verstohlenen Blick über die verbotene Grenze zu werfen". In seinem Buch berichtet er vom Besuch in der Hölle. Als Beobachter des größten Unglücks am Mount Everest bedient er sich der Variante eines mythenerprobten Topos: des Schiffsuntergangs mit Zuschauer.
Kracauer ist Ismael. Um Haaresbreite hat er die Katastrophe überlebt, und nun erzählt er von der irrsinnigen Jagd nach dem mißverstandenen Lebenstraum, erzählt, um sich selbst vom Everest zu befreien und seiner eigenen Schuld bewußt zu werden, folgt, wie er sagt, einer "inneren Notwendigkeit" und will sich mit "unnachsichtiger Ehrlichkeit" den Schmerz von der Seele schreiben - in der Hoffnung auf die erlösende Kartharsis. Aber "In eisige Höhen" ist kein Roman, sondern eine Reportage. Dem Tod ist hier kein höherer Sinn zu entnehmen. Die Läuterung bleibt aus. Am Ende steht der grausige Schrecken - und ungerührt dieser massige Berg, Fluchtpunkt des Wahnsinns und der Eitelkeiten, dessen vereiste Wände als Projektionsfläche für ebenso viele Sehnsüchte, Ängste und Hirngespinste taugen wie bei Melville der weiße Körper des Wals.
Dennoch gelang Kracauer zugleich ein ansehliches Stück Literatur. Mit Vorschauen und Rückblenden bewegt er sich durch die Historie, vom eigenen Gipfelerlebnis zu den ersten Vermessungsexpeditionen im Himalaya, von der ersten Besteigung des Everest zu den Problemen des Massenandrangs in unseren Tagen, selbst für Ausführungen über die Kultur der Sherpas und die Eigenheiten des Hochlandviehs läßt er sich anfangs Zeit. Roter Faden aber bleibt der Aufstieg und Untergang jener kommerziellen Expedition, mit der er unterwegs gewesen ist, die Verkettung zunächst unscheinbarer Ereignisse, die sich allmählich zur kritischen Masse verbanden und deren fatale Konsequenz erst am Ende deutlich wurde. Kracauer hat das Buch mit Ortswechseln, Zeitsprüngen und Tempowechseln strukturiert wie einen Bestseller, was es in Amerika tatsächlich geworden ist. Mehr als siebenhunderttausend Mal hat es sich verkauft.
Vor allem, daß das Unglück am Everest geschah, macht es so spektakulär, auch mythenträchtig. Bei jedem anderen Berg hätte das Publikum vermutlich mit den Schultern gezuckt. Selbst die Naturkatastrophe in Bangla Desh mit sechshundert Toten und 34000 Verletzten, zur gleichen Zeit und ausgelöst durch vielleicht denselben Sturm wie die doch soviel geringere Tragödie am Everest, schaffte es damals nur in die vermischten Meldungen, während Zeitungen und Magazine den verunglückten Bergsteigern ihre Schlagzeilen und Titelgeschichten widmeten. Neben den ethisch-religiös unterlegten Überlegungen, wie weit die Kommerzialisierung noch gehen dürfe an einem Berg, der den Einheimischen immer heilig war, der in Tibet Jomolungma heißt, "Mutter der Erde", und in Nepal Sagarmatha, "Göttin des Himmels", und neben der esoterisch angehauchten Vorstellung, der Berg habe sich der Eindringlinge erwehrt, sich gerächt, galt das Interesse allerdings in kaum geringerem Maß den betroffenen Personen; Kracauer nennt sie "Dramatis Personae".
Sie sind Figuren wie für einen Film ersonnen: Die Gesellschaftsdame aus New York, die ihre eigene Espresso-Maschine mitgebracht hat, im Basislager per Kurier die jeweils aktuellen Mode- und Klatschmagazine aus Amerika erhält und sich Laptop sowie Telefon auf 7900 Meter schleppen läßt, um über Internet mit der Welt zu kommunizieren. Der bergbesessene Postbeamte von der Westküste, der im Jahr zuvor hundert Meter vom Gipfel entfernt hatte umkehren müssen und seither keine Ruhe mehr findet. Der Pathologe aus Dallas, der im verheerenden Sturm mehrmals als tot zurückgelassen wird und sich immer wieder, am Ende einem Zombie ähnlicher als einem Menschen, aus dem Schnee schaufelt und mit erfrorenen Gliedmaßen, halbblind dem Team hinterherläuft. Oder der neuseeländische Bergführer Rob Hall, der im Sterben ein letztesmal über Satellitentelefon mit seiner schwangeren Frau zu Hause spricht: "Ich liebe Dich. Schlaf gut, mein Schatz. Mach dir bitte nicht zu viele Sorgen."
Ebendieser Rob Hall ist es gewesen, der die kommerziellen Besteigungen des Mount Everest perfektioniert hat. Innerhalb von vier Jahren hatte er bis 1994 immerhin 39 Menschen auf den Gipfel geführt. Mit "100 % Everest Success" warb er in Bergsteiger-Magazinen für seine Touren. Doch 1995 erreichte trotz seines ausgetüftelten Akklimatisierungsplans mit Streifzügen zwischen vier Camps hinauf und hinunter keiner seiner Klienten den Gipfel. Hall stand unter Erfolgsdruck - zumal diesmal seinem Mitbewerber Scott Fischer, zur selben Zeit auf dem Weg zum Gipfel, mit seinem Team mehr Fortune beschieden schien. Seine Sherpas hätten ihnen eine "Yellow Brick Road" zum Gipfel gelegt, pflegte Fischer seinen Kunden zu sagen - jene legendäre Märchenstraße aus dem "Zauberer von Oz". Auch Fischer starb am Berg.
Seitdem Anfang der neunziger Jahre vierzig Menschen am selben Tag auf dem höchsten Gipfel der Welt gestanden haben, sprach man in Bergsteigerkreisen davon, daß dieser Andrang früher oder später zur Katastrophe führen müsse - schon deshalb, weil man durch die perfekt organisierten Veranstalter mangelnde Höhenerfahrung mit Geld wettmachen konnte. Der Gipfel wurde zur Bühne für finanzkräftige Selbstdarsteller, von denen mancher angeblich nicht einmal die Steigeisen selbst hat anlegen können.
Einiges spricht dafür, daß wegen des Konkurrenzkampfs zwischen Hall und Fischer so vieles falsch gelaufen ist und am Ende nicht einmal der wichtigste Punkt der exakt kalkulierten Strategie noch etwas galt: der endgültige Zeitpunkt der Rückkehr. Weshalb aber ausgerechnet die Expeditionsleiter Hall und Fischer nicht mehr herunterkamen, darüber kann man nur spekulieren. Kracauer greift einige der Debatten auf, und längst setzen sie sich in weiteren Büchern fort, etwa "The Climb" von Anatoli Boukreev, einem der Bergführer aus Fischers Mannschaft, der mittlerweile andernorts, am Annapurna, umgekommen ist, oder "Dark Shadows Falling" des britischen Bergsteigers Joe Simpson, der aus ethischen Gründen am liebsten den Mount Everest für Bergsteiger geschlossen sähe.
Daß das Unwetter eine Strafe war für gotteslästerlichen Übermut einiger sich allmächtig wähnender Menschen, das freilich behauptet in all diesen Büchern niemand. Und dennoch könnte man damit den Erfolg des Buchs erklären, daß mancher Leser das glaubt. Dann wären die Käufer identisch mit jenen Kinobesuchern, die dieser Tage dem Film "Titanic" zu seinem großen Triumph verholfen haben. Die Verbindung von kleinen Schicksalen und großen Katastrophen ist noch am Ende eines jeden Jahrhunderts des allgemeinen Interesses sicher gewesen.
Jon Kracauer: "In eisige Höhen". Das Drama am Mount Everest. Aus dem Amerikanischen von Stephan Steger. Malik Verlag, München 1998. 368 S., Abb., geb., 39,80 DM.
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»Der Bericht ist packend geschrieben und machte einer breiten Öffentlichkeit erstmals den ganzen Umfang des kommerziellen Bergsteigens bekannt. Das Problem besteht heute mehr denn je, das Buch ist zeitlos aktuell.« Welt am Sonntag 20200712
»Den Abstieg vom Gipfel schildert Krakauer mit einer Intensität und Genauigkeit, die dieses Buch zu einem Klassiker der Alpinliteratur macht.« NDR 1 »Ein Drama, das fast das Blut in den Adern gefrieren lässt. Und am Ende auch den Wahnsinn des Abenteuertourismus enthüllt.« Kölnische Rundschau