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Tahir Hamut Izgils "Uigurische Notizen" sind ein bedrückendes Literaturzeugnis der chinesischen Repression
Von der Geschichte und der Lage der Uiguren in der Volksrepublik China weiß man hierzulande immer noch viel zu wenig. Umso verdienstvoller, dass der Hanser-Verlag nun die "Uigurischen Notizen" des Dichters und Filmemachers Tahir Hamut Izgil herausgebracht hat. Izgil, ein ehemaliger Angestellter des chinesisch-uigurischen Staatsfernsehens, dem 2017 mit seiner Familie die Ausreise in die USA gelang, hat aus der Erinnerung niedergeschrieben, was er in den Jahren zuvor am eigenen Leibe erfahren hat: wie sich die Repression seit den Aufständen im Jahr 2009 massiv verschärfte und er und seine Umgebung zunehmend in den Bann von staatlichem Terror und Gegenterror gerieten.
Die Uiguren leben heute mehrheitlich im Nordwesten Chinas, in der autonomen Region Xinjiang. Sie sind in ihrer großen Mehrheit muslimisch: ein Turkvolk mit einer wechselhaften Geschichte, stets in der Gefahr, zwischen den Interessen der Imperien - allen voran China und Russland - zerrieben zu werden. In jüngerer Zeit haben Chinas Kommunisten im Zuge des Seidenstraßen-Projekts in großem Stil in die Region investiert und dort, vom Staat gelenkt, Hunderttausende Han-Chinesen angesiedelt. Der wirtschaftliche Aufschwung kam vor allem Letzteren zugute; viele Uiguren verdienen ihren Lebensunterhalt als Wanderarbeiter in anderen Provinzen.
Izgil selbst wurde 1969 in Kashgar geboren, einer Stadt im Südwesten der autonomen Region. 1986 verfasste er erste Gedichte. Als er 1996 in die Türkei aufbrach, um dort sein Studium fortzusetzen, wurde er an der Grenze unter dem Vorwand des versuchten Schmuggels unerwünschter Materialien verhaftet. Nach drei Jahren kam er frei, heiratete und bekam zwei Kinder.
Er erzählt, dass Ärger und Groll der Uiguren zwar angesichts der zunehmenden Unterdrückung Jahr für Jahr wuchsen, doch lange nicht sichtbar waren, bis es 2009 zu Aufständen kam, nachdem Han-Angestellte in einer Spielzeugfabrik im Osten Chinas uigurische Kollegen auf haltlose Gerüchte über Vergewaltigungen hin gelyncht hatten. Damals müssen Hunderte ums Leben gekommen sein, mehr als tausend wurden verletzt. Seither haben sich Überwachung und Unterdrückung enorm verschärft.
Izgils Notizen "In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung" beginnen 2009 in Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang. Zwei Polizisten statten dem Autor und seiner Familie einen Besuch ab - vorgeblich, um die "Haushaltsregistrierungen" zu überprüfen. Dann nehmen sie ihn mit aufs Revier, angeblich zur Kontrolle der Papiere, tatsächlich zum Verhör. Wird er wieder verhaftet werden? Tatsächlich geht es den Sicherheitskräften darum, alle Uiguren mit Auslandskontakten zu erfassen. Eindrücklich beschreibt Izgil bereits hier das Lügengespinst, in das die Staatsmacht alle Bürger hineinzwingt.
In der Not werden besondere Sinne geschult, allen voran permanente Wachsamkeit. So wird Izgil zum intensivsten Beobachter seiner selbst. Man versteht: Echte Spontanität, wie sie das Menschliche auszeichnet, wäre lebensbedrohlich. Umso lebensnotwendiger ist es, Gesten und Worte immer neu genauestens auszuleuchten. Wann darf man, soll man, muss man etwas sagen? Wann darf, soll, muss man schweigen? Und was tun mit all den Ängsten, den Verlusten und dem Schmerz?
Nichts, was man tut oder unterlässt, ist unschuldig. Doch der Autor klagt nicht an. Wieder und wieder ermahnt er sich, trotz seiner Empörung Ruhe zu bewahren, weil jede undurchdachte spontane Äußerung mordsgefährlich wäre. Entsprechend umsichtig und nüchtern sind auch seine Notizen abgefasst. Er liefert uns keine Zahlen, etwa über die forcierte Ansiedlungspolitik der Chinesen, er spricht nicht über Vergewaltigungen oder Zwangssterilisationen, die, von der Regierung zynisch als "Frauenbefreiung" deklariert, auf einen Geburtenrückgang unter Uiguren abzielt. Nur am Rande wird die staatliche Folterpraxis erwähnt, wenn der Autor bei einem Besuch auf dem Amt im Keller einen "Tigerstuhl", den eiserne Verhörsessel, sichtet.
Izgils Aufzeichnungen konzentrieren sich auf eigene Erfahrungen und Schilderungen aus Freundes- und Bekanntenkreis. So erfährt man, auf welche Weise die chinesische Umerziehungspolitik die kulturelle uigurische Identität zu zerstören versucht: Man liest von Imamen, die gezwungen werden, öffentlich zu chinesischen Liedern zu tanzen. Oder davon, wie Deportierte in den Lagern "rote Hymnen" absingen müssen. Einmal, so erzählt Izgil, empört sich ein chinesischer Beamter beim Besuch eines uigurischen Theaterstücks über den alltäglichen Gruß "assalamu alaikum" und "wa alaikum assalam" und verbietet ihn. Ein anderes Mal wird erzählt, wie unter dem Vorwand des Kampfes gegen Terrorismus die Namensgebung der Uiguren eingeschränkt wird, sodass Menschen mit verbotenen Namen sich umbenennen mussten. Lächerlicherweise fanden sich auf der Verbotsliste neben Namen wie Bin Laden, Saddam Hussein und Arafat auch religiöse Benennungen wie Saifuddin, Aisha und Fatimah oder "ethnische" wie Turkzat und Turkinaz. "Der Name", so kommentiert Izgil diese Zwangsassimilation, "ist der persönlichste Besitz eines Menschen; wenn er nicht einmal daran festhalten kann, welche Hoffnung hat er dann, an irgendetwas festzuhalten?"
In welchem Ausmaß die Regierung jede Zivilcourage unterdrückt, beschreibt Izgil an der Geschichte des Wirtschaftsprofessors und Menschenrechtsaktivisten Ilham Tohti, mit dem er lange befreundet war. Tohti hatte um 2006 in Peking eine chinesisch-uigurische Website aufgebaut. Ihr Ziel: die Beförderung eines "lebendigen Dialogs" zwischen Han-Chinesen und Uiguren. Schnell wurde Uyghur Online zum Dreh- und Angelpunkt gleichgesinnter Intellektueller - und gewann als Initiative zur interethnischen Verständigung in In- und Ausland zunehmend an Einfluss. Nachdem Tohtis Verhaftung 2009 zahlreiche Proteste hervorgerufen hatte, kam er zunächst wieder frei. Um 2014, im Zuge der Unterdrückungswelle "Harter Schlag", die sich angeblich gegen "religiösen Extremismus, ethnischen Separatismus und gewaltbereiten Terrorismus" richtete, wurde er jedoch abermals verhaftet, verschleppt und im Schnellprozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt. Auch internationale Proteste und Preise brachten ihm nicht die Freiheit zurück.
Izgils alltägliche Beobachtungen - die Kontrolle durch die Nachbarschaftskomitees ebenso wie die systematische Erfassung von Blutproben, Stimmerkennungen und Gesichtserkennungen - sind eindrücklich. Immer mehr Menschen verschwinden in "Studienzentren", wie die Konzentrationslager euphemistisch genannt werden. Jedes Überleben, auch die eigene Rettung, das weiß Izgil, hängt am dünnen Faden von Glück und Zufall. Die Angst davor, abgeholt zu werden, ist manchmal so quälend, dass man sich fast wünscht, es wäre schon geschehen.
Das Uigurische ist eine Turksprache, als Schrift hat sich ein modifiziertes persisch-arabisches Alphabet durchgesetzt. Für das Erlernen und Übersetzen aus dieser Sprache dürften also Kenntnisse des Türkischen hilfreich sein, doch zum Lesen der Texte bedarf es der Kenntnis arabischer Schriftzeichen. Der Hanser-Verlag hat die Notizen nicht aus dem Uigurischen, sondern aus dessen englischer Übersetzung übertragen lassen. Dabei sind offensichtlich diverse uigurische Eigenheiten des Textes über Bord gegangen. In den Aufzeichnungen erzählt der Autor etwa, dass eine Zeit lang das Wort "Allah" verboten war und man nur noch von "meinem Herrn" sprechen durfte. Dennoch sind im ganzen Buch die typischen Redewendungen, in denen Allah angerufen wird, mit "Gott" übersetzt: "Möge Gott dich beschützen" oder "Möge Gottes Barmherzigkeit mit dir sein". Einmal kommentiert ein Ladenbesitzer in der deutschen Fassung eine neue Maßnahme der chinesischen Kommunisten mit dem Satz: "Ach, das ist nur eine weitere Sau, die durchs Dorf getrieben wird" - mehr als merkwürdig im muslimischen Kontext der Uiguren, zumal, wenn im Englischen "Oh, just another gust of wind" steht. Man fragt sich, welches Bild der Dichter Izgil an dieser Stelle im Original wohl verwendet hat und welche anderen Bilder und Redensarten auf dem Weg ins Deutsche abhandengekommen sind? Trotz dieser Zweifel ist Tahir Hamut Izgils "In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung" ein großartiger Kassiber, der alle Unwissenden vieles Besseren belehren wird. MARIE LUISE KNOTT
Tahir Hamut Izgil: "In Erwartung meiner nächtlichen Verhaftung". Uigurische Notizen.
Aus dem Englischen von Ulrike Kretschmer. Hanser Verlag, München 2024.
272 S., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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