„In Europa“ - ein Geschichtsbuch? Ein belletristischer Reisebericht? Um es vorweg zu sagen: die 900 Seiten sind beides. Der niederländische Journalist und Historiker Geert Mak war zwölf Monate kreuz und quer durch Europa, durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts gereist. Per Flugzeug
und Auto, gelegentlich auch mit dem Fahrrad oder einem Wohnmobil. Übernachtet hat er in…mehr„In Europa“ - ein Geschichtsbuch? Ein belletristischer Reisebericht? Um es vorweg zu sagen: die 900 Seiten sind beides. Der niederländische Journalist und Historiker Geert Mak war zwölf Monate kreuz und quer durch Europa, durch die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts gereist. Per Flugzeug und Auto, gelegentlich auch mit dem Fahrrad oder einem Wohnmobil. Übernachtet hat er in First-Class-Hotels oder irgendwo auf einem Campingplatz.
Am 4. Januar 1999 brach Geert Mak in Amsterdam zu seiner Europareise auf, im Gepäck ein Notebook, ein Mobiltelefon, etwas Wäsche, Toilettensachen, eine CD-ROM der Encyclopaedia Britannica und fünfzehn Kilo Bücher. Drei Tage zuvor war der Euro auf den Finanzmärkten gestartet. Es war das letzte Jahr des 20. Jahrhunderts. Auf seinem ersten Reiseabschnitt besuchte er die großen mittel- und westeuropäischen Hauptstädte Brüssel, Paris, London, Berlin, Prag und Wien.
Auf zwölf Monats-Reisen bewegte sich der Autor chronologisch durch das 20. Jahrhundert. Sein besonderes Augenmerk galt dabei den Eckdaten des martialischen Jahrhunderts: 1914, 1918, 1933, 1945 und 1989. Bei seiner Februar-Reise waren u.a. Ypern, Verdun und Versailles seine Zwischenstationen. Er ging den Ereignissen des Ersten Weltkrieges nach. Die „Urkatastrophe“ des Jahrhunderts begann im armen Südosten Europas und wurde durch die Beteiligung aller großen Industrieländer zu einem grauenhaften Weltkrieg.
Auf der Etappe der 30er Jahre besuchte er München und Guernica, während bei seinen Erkundungen der 40er Jahre Auschwitz und Stalingrad im Mittelpunkt standen. Einst Inbegriff der NS-Verbrechen und des Holocausts, ist das polnische Städtchen heute voller tödlicher Langeweile. Auch in Wolgograd sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch Spuren des großen Krieges zu finden, abgesehen von einigen Ruinen, die man bewusst stehen gelassen hat.
Gut zwei Drittel der fast tausend Seiten beschäftigen sich mit den beiden Weltkriegen, wobei Mak auf das „gesamteuropäische Versagen“ hinweist, ohne jedoch die Hauptschuldner zu entbinden. Jedes Land, das er bereiste, hat sich für den mörderischen Krieg 1939 bis 1945 seine eigene Geschichte zurechtgelegt, um Unrecht zu rechtfertigen oder Helden zu erschaffen. Auf seinem letzten Abschnitt war der literarisch Reisende in Südosteuropa unterwegs, es war das letzte Jahrzehnt des scheidenden Jahrhunderts. Fünfzig Jahre nach Kriegsende brachen im ehemaligen Jugoslawien vier Konflikte aus und so stehen die Tragödien von Sarajevo und Srebrenica wie Menetekel am Ende seines Reiseberichtes.
Neben diesen Entscheidungszentren und historischen Stätten, die fast jeder aus dem Ge-schichtsunterricht kennt, stellt Geert Mak auch eine Fülle von unbekannten und stillen Orten vor. Er macht in seinem Reisebuch die Spuren ausfindig, die das 20. Jahrhundert auf unserem Kontinent hinterlassen hat. Er gibt unserer jüngsten Geschichte ein Gesicht. Unterwegs sprach Mak mit Schriftstellern und Politikern, aber auch mit einfachen Menschen, die ihm alle ihre Erfahrungen, Erinnerungen und ihre Sicht der Dinge anvertraut haben.
Der Autor kennt sich aus in Europa, er war an den meisten Orten nicht das erste Mal, und so profitiert man von dem Faktenwissen und dem wachsamen Auge eines kritischen Journalisten. Mit seiner anschaulichen Darstellung nimmt er den Leser auf eine Reise durch hundert Jahre und sechzig Städte mit. Gemeinsam werfen sie einen Blick auf das alte und zerrissene Europa, auf die Schlachtfelder und Schauplätze, auf die Selbstzerstörung und die Wiedergeburt eines Kontinents.
Manfred Orlick