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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Bestechende Funde neben verbissenen Spekulationen: Johannes Schild folgt biographischen Spuren in den Symphonien von Johannes Brahms.
Die Musik von Johannes Brahms enthalte lauter "biographische Chiffren, Kassiber allenthalben, darunter gewiss viele nicht mehr auffindbare und lesbare", mutmaßte Peter Gülke schon 1989 in seinem Brahms-Essay. Überall habe der Komponist "heimliche Erkennungsmarken" gesetzt, "kryptische Symbole, ein oft nur ihm selbst durchschaubares Spiel mit sibyllinischen Andeutungen". Und seit der Monographie "Späte Idylle" von Reinhold Brinkmann über die zweite Symphonie von Brahms, nur wenige Monate nach dem Buch von Gülke erschienen, ist durch einen damals neu aufgefundenen Brief des Komponisten selbst geklärt, dass die nämliche Symphonie - als Werk reiner Instrumentalmusik - in Zusammenhang steht mit Brahms' "kleiner Abhandlung über das große Warum", also der gleichzeitig komponierten Motette op. 74 Nr. 1 nach einem Text aus dem Buch Hiob "Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen".
Insofern stellt der Komponist und Hochschullehrer Johannes Schild in seinem neuen Buch zu "Brahms und die Symphonie" nur noch einmal alte, längst geschlagene Schlachten nach, wenn er über viele Seiten hinweg zu belegen sucht, dass Brahms durch eine Ästhetik der "absoluten Musik", wie sie dessen Zeitgenosse Eduard Hanslick formuliert hatte, nicht zu fassen sei. Natürlich sind Brahms' vier Symphonien "tönend bewegte Formen", wie Hanslicks Worte lauten, aber sie sind zugleich mehr als das und verweisen auf Dinge wie Erfahrungen außerhalb ihrer selbst. Und so hat man das Brahms-Zitat über Schilds Buch, "In meinen Tönen spreche ich", auch in der Wissenschaft längst ernst genommen.
Schild geht nun dieser Ich-Kundgabe jenseits von Worten mit einer analytischen Energie nach, die sein Buch in der Methode wie im Ergebnis arg problematisch, zugleich aber sehr wichtig und für jede weitere Forschung unausweichlich macht. Hanebüchene Spekulationen liegen hier dicht neben eminenten Funden samt hochgradig plausibler Deutung.
So erneuert Schild noch einmal alte Gerüchte, Brahms könne der Vater von Clara Schumanns jüngstem Sohn Felix sein. Er lässt, wie alle Anhänger dieser Gerüchte vor ihm, außer Acht, dass dies hieße, der zwanzigjährige Brahms habe unmittelbar nach der ersten Bekanntschaft mit dem Ehepaar Schumann die Frau seines verehrten Vorbilds Robert geschwängert. Schon mental scheint das unwahrscheinlich angesichts des ehrfurchtsvollen Umgangs miteinander und der Verstörung des jungen Brahms, als ihm Frau Schumann im Sommer 1856, zwei Jahre nach Felix' Geburt, brieflich das Du anbietet. Zudem ignoriert Schild den längst bekannten Fund, dass Robert Schumann in den ehelichen Haushaltstagebüchern jeden Beischlaf mit Clara vermerkte und dass dieser Vermerk auch zum Zeugungstermin von Felix im Herbst 1853 nachgewiesen ist.
Trotzdem baut Schild in seinem Buch die mögliche Vaterschaft Brahms' zu einer "geheimen, schweren Last" aus, erklärt den Ton Fis - französisch gesprochen "fils", also Sohn, was bei einem erklärten Francophobiker wie Brahms besonders amüsant wirkt - zu Brahms' Symbol für Felix und baut darum großartige Vaterschaftskomplexe auf, die sich in Tonartenplänen wie dem des zweiten Klavierkonzerts niederschlagen. Dass Fis - enharmonisch verwechselt: Ges - als Terz zur Grundtonart des Konzerts, nämlich B-Dur, schon in Beethovens zweitem Klavierkonzert zentral ist und es erst recht bei einem derart terzbasierten Denken wie dem von Brahms sein muss, irritiert Schild nicht im Mindesten.
Auch beim Versuch, eine musikalische Nähe zwischen Brahms und Richard Wagner nachzuweisen, kennt der Eifer keinen Zweifel. Hier war ebenfalls längst bekannt, wie sehr Brahms Wagners Musik verehrte und sich - das gestand er Hermann Levi unverklemmt ein - ihrem Zauber fraglos hingab. Schild aber glaubt, Brahms' vier Symphonien seien eine geheime, bewundernde Antwort auf Wagners Tetralogie "Der Ring des Nibelungen"; und auch der alte Verdacht, das erste Thema von Brahms' Violinsonate A-Dur op. 100 sei eine Reminiszenz ans Preislied aus Wagners "Meistersingern von Nürnberg", wird nochmals hochgekocht. Sollte das eine Hypothese sein, müsste man auch Gegenhypothesen ausschließen wie jene, dass es sich um "anonymes Material" oder auch - in der Intervallfolge völlig gleich - um eine Entlehnung aus dem Kopfthema von Beethovens "Erzherzogtrio" handeln könnte. Es ist methodisch ohnehin schwer, in reiner Instrumentalmusik ohne zusätzliche Quellen ein Zitat als "Zitat" dingfest zu machen und die Absicht nachzuweisen.
In anderen Fällen aber, die durchaus die Substanz von Schilds Buch ausmachen, greifen Analyse und Biographik überzeugend ineinander. Dazu gehört die Verbindung von Brahms' erster Symphonie mit Schumanns Schauspielmusik für Byrons "Manfred", die schon Clara Schumann aufgefallen war. Der Schweiz-Bezug ist in diesem Stück überdeterminiert: durch Byrons dortigen Aufenthalt selbst, durch den Alphornruf, den Brahms 1868 aus der Schweiz als Geburtstagsgruß an Clara Schumann sandte und dann im Finale seiner Symphonie aufgriff, und durch einen Umstand, der Schild sogar entgangen ist: Brahms' erste Auslandsreise, mit Clara Schumann unmittelbar nach Roberts Tod, führte im Sommer 1856 in die Schweiz, nach Luzern und Gersau, wo beide vermutlich auch geklärt haben, ob sie ihr gemeinsames Leben nach Roberts Tod als Paar oder als Freunde fortsetzen würden. In Schilds Analyse werden musikalisches Material und biographische Umstände so zwingend miteinander enggeführt, dass man hier geradezu folgen muss: Die erste Symphonie verarbeitet - auch - ein komplexes autobiographisches Verhältnis zum eigenen Mentor und zu dessen Frau.
Äußerst anregend sind die Nachweise einer tiefen Faszination, die Brahms für Wolfgang Amadé Mozart hegte und die - obzwar auch seit Langem bekannt - viel größer war als die für Ludwig van Beethoven, an dem Brahms zeit seines Lebens immer wieder gemessen wurde. Die ersten vier Töne des Finalthemas aus der "Jupitersymphonie", die schon bei Mozart von deren eigener Spiegelung und zudem rückwärts im Kanon begleitet werden, sind bei Brahms offenbar zu einer Chiffre höchster Klassizität geworden, Symbol für die Sphäre des Göttlichen in der Kunst. Als Fugenthema sind sie alt, bei vielen Theoretikern und im "Wohltemperierten Clavier" bei Bach nachweisbar. Schild entdeckt sie in der Originalform wie im "Spiegelkrebs" nun mannigfach bei Brahms: ebenso überraschend wie überzeugend im ersten Choreinsatz des "Schicksalsliedes" nach Friedrich Hölderlin: "Ihr wandelt droben im Licht", gut verborgen und vielfach verrätselt schon in der ersten, dann aber auch in der vierten Symphonie.
Den Gipfel der Entdeckungen erreicht Schild in Brahms' letztem autorisiertem Werk, den "Vier ernsten Gesängen" op. 121. Der letzte der Gesänge folgt dem Hohelied der Liebe im ersten Korintherbrief des Paulus. Die ersten fünf Töne zu den Worten "Wir sehen jetzt in einen Spiegel", thematisch übrigens dem Spiegelkrebs des Mozart-Themas sehr nahekommend, lassen sich genau wie Mozarts Thema spiegelverkehrt und rückläufig als identische Intervallfolge lesen, wenn man am Zeilenanfang und am Zeilenende jeweils unterschiedliche Notenschlüssel setzt.
Bewegend ist diese Entdeckung nicht nur dadurch, dass die Notenfolge eine Umsetzung der sprachlichen Spiegelmetapher darstellt, sondern auch dadurch, dass sich mit dieser Kreisfigur ein Lebenswerk schließt, das am Ende das Hohelied der Liebe mit einem Hohelied der Kunst verbindet. Aus diesem Bekenntnis spricht ein Ich, das die Welt des allzu Privaten längst hinter sich gelassen hat. JAN BRACHMANN
Johannes Schild: "In meinen Tönen spreche ich". Brahms und die Symphonie.
Bärenreiter/Metzler Verlag, Kassel und Berlin 2022. 443 S., geb., 49,99 Euro.
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