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Eine editorische Großtat: Jüngers "In Stahlgewittern"
Er hätte sein Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" eigentlich gerne "Rot und Grau" genannt, hat der Schriftsteller Ernst Jünger 1995 gesagt, in Anlehnung an Stendhals "Rot und Schwarz". Bei Stendhal sagt man immer, Rot stehe für das Militär, Schwarz für den Klerus. Rot und Grau wären beides Kriegsfarben gewesen: das Stahlgrau der Waffen, das Feldgrau der deutschen Uniformen, das der Kriegslandschaft und das Rot vielleicht ganz einfach das vergossene Blut.
Rot und Grau jedenfalls waren am Donnerstagabend die beiden Bände, die - noch als Druckfahnen - in den Redaktionsräumen der Zeitschrift "Merkur" in Berlin-Charlottenburg auf den Tischen lagen. Der Germanist Helmuth Kiesel stellte dort die von ihm edierte historisch-kritische Ausgabe der "Stahlgewitter" vor, die Ende Oktober in den Buchhandel kommen wird und am 10. September auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin erstmals einer größeren Öffentlichkeit präsentiert werden soll. Der Schauspieler Ulrich Matthes wird dort den Text lesen und hat schon Übung darin: In Volker Schlöndorffs "Das Meer am Morgen" war er im vergangenen Jahr als Ernst Jünger zu sehen.
Was Helmuth Kiesel geleistet hat, ist bewunderungswürdig und die Ausgabe für all jene, die "In Stahlgewittern" nicht einfach lesen, sondern sich genau damit beschäftigen wollen, spektakulär. Sie klärt, längst überfällig, auch ein Missverständnis, das mit der Werkausgabe, die unter Jüngers Mitwirkung 1978 bei Klett Cotta erschien, in die Welt kam. Dort nämlich stand vor dem Text der "Stahlgewitter" im ersten Band die Jahreszahl 1920. Was man auf den darauffolgenden Seiten lesen konnte, waren aber gar nicht die "Stahlgewitter" von 1920. Es war die siebte von Jünger erstellte Fassung. Ein völlig anderer Text.
Mit "ameisenhaftem Trieb, am beschriebenen und bedruckten Papier herumzuminieren", so nannte er das selbst einmal, hat Ernst Jünger sein Kriegstagebuch immer neuen Umstellungen, Einfügungen und Streichungen unterzogen. Von einer "Revisionsmanie" ist in der Forschung deshalb gesprochen und natürlich auch versucht worden, diesen "ameisenhaften Trieb" zu deuten: Die lebenslange Korrekturarbeit sei ein nach Vollendung strebender Prozess, behaupteten die einen. Sie sei eine politische Angelegenheit, meinten - insbesondere in den Lektüren der siebziger Jahre - die anderen. Jünger, der die extrem nationalistischen Passagen, die er 1924 in sein Werk einfügte, 1934 wieder löschte, weil er sich mit den Nazis nicht gemein machen wollte, habe das Buch je nach politischer Lage umgeschrieben. Wieder andere lasen seine Retuschierarbeit als ästhetische Aufrüstung mit Plötzlichkeitsmomenten, so dass sich der Text wie eine Art Schocktraining lesen lasse, wie ein Trimm-dich-Pfad, auf dem der "Neue Mensch" für die gefährlichen Landschaften der Moderne ausgebildet werden sollte.
Bisher musste, wer solche Überlegungen anstellen oder nachvollziehen wollte, sich die verschiedenen Ausgaben mühsam besorgen, Kopien anfertigen, Passagen ausschneiden und nebeneinanderlegen. Jetzt gibt es - dank Helmuth Kiesel - auf 1250 Seiten in zwei Bänden alles in einem Buch. Kiesel hat sich für einen Paralleldruck entschieden: Jeweils auf der linken Seite der Ausgabe findet der Leser den Text der Erstausgabe von 1920 und rechts den von 1978. Die dazwischenliegenden Fassungen werden zweimal präsentiert: in Form eines textgeschichtlichen Apparatbands (das ist der zweite Band der Ausgabe), der alle Veränderungen registriert. Und in Form verschiedenfarbiger Einfügungen im Text des ersten Bandes. Alles, was rot ist, stammt von 1922, dunkelrot von 1924, dunkelblau von 1934, hellblau von 1935 und grün von 1961.
Was dabei herauskommt, ist nicht nur die farbenfroheste Ernst-Jünger-Ausgabe, die es jemals gegeben hat. Es ist auch ein einmaliges editorisches Projekt, das Lesern die Möglichkeit gibt, die "Stahlgewitter" buchstäblich historisch und kritisch zu lesen und auch biographische Rückschlüsse zu ziehen. Orte der Selbstbespiegelung des Autors Jünger sind in diesem lebenslangen Umschreibungsprozess insbesondere die jeweiligen Vorworte der Ausgaben: "Es war eine seltsame Beschäftigung, im bequemen Sessel das Gekritzel dieser Hefte zu entziffern, an deren Deckeln noch der vertrocknete Schlamm der Gräben klebte, und dunkle Flecken, von denen ich nicht mehr wusste, war es Blut oder Wein", liest man etwa im Vorwort der fünften Auflage.
Immer wieder hat Jünger bei seinen Bearbeitungen die Notizhefte aus den Gräben zur Hand genommen, die seinem Buch zugrunde liegen und im Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt werden. Da sind sie dann auch wieder, die Farben Grau und Rot, der vertrocknete Schlamm, Blut oder Wein. Es sind die Farben seines nie endenden Krieges.
JULIA ENCKE
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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