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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Erinnerung an einen Großen: Rupert Neudecks letztes Buch
Rupert Neudeck und ich trafen uns vor einigen Jahren nach der Leipziger Buchmesse am Flughafen. Gemeinsam warteten wir auf den Rückflug, das Gespräch kam auf Gott und die Welt. Kurz darauf schrieb er mir eine E-Mail in der Hoffnung "auf gemeinsame Taten". Warum auch immer, es kam nicht dazu . Doch sollte er mir später einen großen Dienst erweisen.
Rupert Neudeck starb im Mai dieses Jahres, nun liegt sein literarisches Vermächtnis vor. Unser eigentliches Problem und gleichzeitig unsere zentrale Herausforderung für das künftige Zusammenleben, schreibt er darin, sei der Mangel an Menschlichkeit. Er belegt es an seinem Lebensthema: "In uns allen steckt ein Flüchtling". Und so nimmt der gebürtige Westpreuße uns mit auf eine kurze Reise durch sein Leben.
Der Leser erlebt mit, wie Neudeck als Kind 1945 aus Danzig fliehen muss. Die Flucht hat Neudecks Leben geprägt. Seine Erfahrungen wurden ihm zum Lebenskompass und Maßstab fürs Helfen. Zu größter Wirkung kam diese Hilfe bei der Rettung vietnamesischer Flüchtlinge im Südchinesischen Meer 1979, woraus die Gründung der Hilfsorganisation Cap Anamur resultierte. 2003 gründete er zusammen mit Aiman Mazyek, dem heutigen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, eine zweite Hilfsorganisation: die Grünhelme - die sich zugleich dem christlich-islamischen Dialog verschrieben haben.
Ein Interview war Auslöser für Neudecks Einsatz für die Boatpeople. Der "Deutschlandfunk"-Redakteur führte es Anfang 1979 mit dem Philosophen Jean-Paul Sartre. "Wir alle sind entfremdet von den Institutionen, entfremdet vom Staat, entfremdet von den Menschen, die wiederum sich selbst entfremdet sind", dozierte Sartre damals: "Diese Entfremdungsverhältnisse muss man brechen. Man muss versuchen, für sich selbst und für die anderen zu leben. Man muss sich selbst verwirklichen, indem man sich den anderen gibt." Für Neudeck wurden diese Worte eine moralische Verpflichtung zum Handeln.
Und Neudeck folgte diesem Imperativ fortan wie wenig andere, suchte zeit seines Lebens Verbündete und fand Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Günter Grass, die ihn unterstützten und Öffentlichkeit schufen. Sein "Vermächtnis" bewegt, weil er die richtigen falschen Fragen stellt: Gibt es gute und böse Flüchtlinge? Wer ist politischer und wer wirtschaftlicher Flüchtling? Wer ist ein berechtigter Asylbewerber, wer ein "Asylerschleicher"? Seine Antworten weisen alle diese Generalisierungen zurück, um dafür zu plädieren, in den Flüchtlingen die einzelnen Menschen zu sehen. Neudeck lenkt die Aufmerksamkeit auch auf jene, die helfen wollen, doch in den Mühlen staatlicher Bürokraten zermahlt zu werden drohen. Eine schöne Episode ist, wie ihn ausgerechnet einer "seiner" geretteten Vietnamesen später als Kardiologe operiert. Das Buch endet so persönlich, wie es beginnt: Ein junger Mann tritt ins Leben der Familie Neudeck. Sie nimmt einen afghanischen Flüchtling auf.
Manche werden dieses Bauch als Zeugnis eines unverbesserlichen Gutmenschen ansehen. Neudeck war genau das, im besten Sinn des Worts. Reden und Schreiben reichten ihm nicht aus, er musste handeln. Ich konnte das selbst erfahren. Meine Familie ist syrischer Herkunft. 2015 wurde mein vierundsiebzigjähriger Vater, auf Heimatbesuch im vergleichsweise ruhigen Teil Nordsyriens, bei einem Luftangriff lebensgefährlich verletzt. Plötzlich stellte sich für uns als Familie, die Bomben bislang nur vom Hörensagen kannten, die Frage, wie holt man einen schwerverletzten Rentner aus einem Kriegsgebiet. In meiner Verzweiflung erinnerte ich mich an das Gespräch mit Neudeck. Ich kontaktierte ihn, er gab mir Tipps und vor allem - er hörte mir zu. Ich finde, wir sollten ihm zuhören. Nicht jeder kann und soll sein wie er. Aber es schadet nicht, sich ein wenig darauf einzulassen, über ein Leben wie seines nachzudenken.
LAMYA KADDOR
Rupert Neudeck: "In uns allen steckt ein Flüchtling".
Ein Vermächtnis.
Verlag C. H. Beck, München 2016.
169 S., br., 14,95 [Euro].
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