Im ersten Teil seiner Autobiographie schildert Jón Gnarr eine Kindheit im Ausnahmezustand: seine Probleme mit dem Schulsystem, das schwierige Verhältnis zu seinen überforderten Eltern und die aufkeimende Liebe für die Ideen des Anarchismus – klar, dass der junge Jón überall aneckt und sich auch viele Feinde macht. Doch der Störenfried entdeckt bei den Kämpfen gegen eine wenig tolerante Mitwelt auch die Ideale, für die er später als Politiker kämpfen wird: Gewaltlosigkeit und vor allem: die Dinge nicht so ernst zu nehmen. Mit viel Herzenswärme und beeindruckender Offenheit erzählt Jón Gnarr von seiner schwierigen Kindheit und macht damit Eltern und Jugendlichen Mut. Denn auch ohne Schulabschluss kann man auf dem Bürgermeistersessel einer Hauptstadt landen.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in BG, B, A, EW, DK, CZ, D, CY, H, GR, F, FIN, E, LT, I, IRL, NL, M, L, LR, S, R, P, PL, SK, SLO ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.06.2015Abenteurer
in Anarcholand
Jón Gnarr hat eine sehr bewegende
Autobiografie geschrieben
VON ALEX RÜHLE
Er galt einst als hoffnungsloses Problemkind und wurde später gefeierter Bürgermeister von Reykjavik. Er hat in der Schule komplett versagt und reformierte in seiner Amtszeit die Schulen seiner Stadt. Er hatte eine unglückliche, einsame Kindheit und ist heute Islands beliebtester Comedian und Schauspieler.
Man könnte lange weitermachen mit solchen Gegensätzen von einst und heute, es ist kaum zu glauben, welchen Weg Jón Gnarr zurückgelegt hat, er, der als Erwachsener permanent im Rampenlicht steht, aber eine stark unterbelichtete Kindheit hatte: Es gibt kaum Fotos aus den ersten Lebensjahren, „nur eines, auf dem ich mit Mama und Papa drauf bin, aber man kann mein Gesicht nicht sehen, weil ich ein Micky-Maus-Heft lese. Mama und Papa fotografieren mich nie. Das einzige schöne Bild, das ich von mir habe, hat Gunni an meinem Geburtstag gemacht.“
Gunni ist einer der wenigen Freunde, die Jón Gnarr in seiner Kindheit hatte, ein Junge aus reichem Hause, während er selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt. Wobei Gnarr das so nicht formulieren würde in „Indianer und Pirat“, ist dieses Buch doch aus der Sicht des heranwachsenden Jungen geschrieben. Klassenunterschiede nimmt ein Kind wohl wahr, drückt sie aber anders aus: „Gunni war schon in Mallorca. Er ist mit seinen Eltern hingefahren. Als er zurückkam, war er ganz braun.“
Es ist dieser Ton, der Gnarrs Autobiografie über seine ersten achtzehn Lebensjahre so besonders macht. Nun kippt ein kindlicher Ton, formuliert von einem Erwachsenen, meist ins naiv Infantile, klingt absichtlich niedlich und damit falsch. Hier aber spricht wirklich das Kind zu einem, ein Kind, das nicht versteht, was so missraten an ihm ist, dass die Erwachsenen es immer erschöpft ansehen. Ein Kind, in dessen einsamem Leben ohnehin kein Platz für niedliche Anekdoten ist: „Ich möchte dabei sein, aber ich weiß genau, dass ich seltsam bin. Ich bin in nichts gut, dass etwas wert ist. In mir drin bin ich zerknittert und komme damit nicht zurecht. Ich weiß nicht, was ich machen soll und habe das Gefühl, mich in mir selbst verlaufen zu haben.“
Heute würde man dem kleinen Jón Gnarr wohl eine frühkindliche Depression attestieren, nebst ADHS und eventueller Hochbegabung. Er reimt unentwegt im Unterricht, erfindet eigene Worte und hat ein reiches seelisches Innenleben. Er gerät aber auch dauernd in Streit mit anderen, ist totaler Schulversager, hat eine schreckliche Schrift und wenn er Mathe lernt, „ist es, als bestünden die Zahlen aus kleinen Männchen, die in verschiedene Richtungen laufen, sobald ich sie anschaue.“
Seine Eltern können ihm nicht helfen, der Vater ist Streifenpolizist und glühender Kommunist – was im konservativen Island der frühen Siebziger ein Synonym für einsamer Spinner gewesen sein dürfte –, die Mutter arbeitet in einer Cafeteria und schämt sich, mit 45 noch ein Kind bekommen zu haben. Kein Wunder, dass Jón sich weit weg imaginiert: Der Indianer aus dem Titel des Buches, das ist er, in den Weiten Arizonas, wo ihm kein Psychiater sagen kann, er sei geistig behindert, und wo er nicht als einziger Rothaariger in der Familie das Gewisper anhören muss, er sei ja wahrscheinlich ein Bastard. Seine Rollenspiele gehen so weit, dass er als eingebildeter Indianer ein so reales wie riesiges Lagerfeuer in seinem Kinderzimmer anzündet, was ihn aus den Weiten Arizonas einmal mehr zu einer Untersuchung ins psychiatrische Landeskrankenhaus führt . . .
Wie kann es sein, dass aus einem derart verstörten Jungen voller Ängste ein Mann wurde, der es auch deshalb im Moment der größten Krise der jüngeren Geschichte Islands zum Bürgermeister brachte, weil er so frei wirkte, frei von Ängsten, von Neurosen und von Rollenzwängen? Gnarr führte in seiner Zeit als Bürgermeister jedes Jahr den Christopher Street Day als beeindruckend schrille Dragqueen an. Er machte aber vor allem, das war das eigentliche Wunder seiner vierjährigen Amtszeit, zusammen mit seinen Punk- und Musikfreunden richtig gute Politik: Von der längst überfälligen Schulreform war schon die Rede, Gnarr legte sich aber auch mit dem immens mächtigen städtischen Energiekonzern an, indem er ihn umstrukturierte und damit letzten Endes rettete. Als ihm einer der entlassenen Direktoren wutschnaubend sagte, er werde dafür sorgen, dass Gnarr auf keinen Fall wiedergewählt werde, antwortete der, die Mühe könne er sich sparen, er werde das Ganze eh nur eine Legislaturperiode lang machen. Politiker aus aller Welt kamen nach Reykjavik um zu sehen, wie der Mann das hinkriegte mit dem Regieren. Befragt nach seinem Hintergrund, sagte er dann immer, er sehe sich als Anarcho-Surrealisten.
Was er damit meinte, wird klar, wenn man „Pirat“, den zweiten Teil dieser Autobiografie liest: Gnarr muss früh eine Art starken Willenskern in sich gespürt haben. Am Ende der siebten Klasse verbrennt er auf dem Schulhof sein Zeugnis, wirft seine Bücher gleich noch hinterher und betritt nie wieder ein Klassenzimmer. Er wird Punk, was nicht ohne Komplikationen abläuft, schließlich ist es im Reykjavik der Siebzigerjahre schon schwer, das richtige Outfit für einen waschecht ungewaschenen Punk aufzutreiben.
Der Autor Jón Gnarr hat in diesem zweiten Teil großen Spaß daran, die grotesken Leiden der Selbstfindung, die peinlichen Situationen, in die man als pubertierender Jugendlicher ohnehin dauernd stolpert, auszuerzählen. Aber er bastelt sich in jener Zeit auch eine beeindruckend idealistische Version des Anarchismus zurecht, eine Mischung aus Urchristentum und Summerhill, denn Anarchie, das heißt für ihn nicht Regellosigkeit, sondern „Freiheit mit Verantwortung. Im Anarcholand darf jeder so sein, wie er ist, ohne ständig hören zu müssen, das sei abweichend oder falsch.“
Das heißt nun nicht, dass das Buch mit irgendeiner Art von Läuterung oder lebenspraktischer Patentlösung endet. Im Gegenteil, Gnarr ist sich am Ende des Textes sicher, als ungelernter Arbeiter und Sonderling zu enden. Tja, und ausgerechnet der Typ machte später seinen Job als Bürgermeister so gut, dass ihn die Reykjaviker beknieten, doch im Amt zu bleiben. Er lehnte dankend ab: Das Leben, sagte er, habe noch so viel mehr Abenteuer zu bieten.
Jón Gnarr: Indianer und Pirat - Kindheit eines begabten Störenfrieds. Aus dem Isländischen von Tina Flecken und Betty Wahl. Tropen Verlag, Stuttgart 2015. 253 S., 18,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Heute würde einem Kind,
wie er es war, ADHS mit Verdacht
auf Hochbegabung attestiert
Als Dragqueen führte Gnarr,
der Bürgermeister, in jedem Jahr
den Christopher Street Day an
Der springende Punk: Jón Gnarr, geboren 1962, Comedian, Bürgermeister, Autor. Foto: Hordur Sveinsson/Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in Anarcholand
Jón Gnarr hat eine sehr bewegende
Autobiografie geschrieben
VON ALEX RÜHLE
Er galt einst als hoffnungsloses Problemkind und wurde später gefeierter Bürgermeister von Reykjavik. Er hat in der Schule komplett versagt und reformierte in seiner Amtszeit die Schulen seiner Stadt. Er hatte eine unglückliche, einsame Kindheit und ist heute Islands beliebtester Comedian und Schauspieler.
Man könnte lange weitermachen mit solchen Gegensätzen von einst und heute, es ist kaum zu glauben, welchen Weg Jón Gnarr zurückgelegt hat, er, der als Erwachsener permanent im Rampenlicht steht, aber eine stark unterbelichtete Kindheit hatte: Es gibt kaum Fotos aus den ersten Lebensjahren, „nur eines, auf dem ich mit Mama und Papa drauf bin, aber man kann mein Gesicht nicht sehen, weil ich ein Micky-Maus-Heft lese. Mama und Papa fotografieren mich nie. Das einzige schöne Bild, das ich von mir habe, hat Gunni an meinem Geburtstag gemacht.“
Gunni ist einer der wenigen Freunde, die Jón Gnarr in seiner Kindheit hatte, ein Junge aus reichem Hause, während er selbst aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt. Wobei Gnarr das so nicht formulieren würde in „Indianer und Pirat“, ist dieses Buch doch aus der Sicht des heranwachsenden Jungen geschrieben. Klassenunterschiede nimmt ein Kind wohl wahr, drückt sie aber anders aus: „Gunni war schon in Mallorca. Er ist mit seinen Eltern hingefahren. Als er zurückkam, war er ganz braun.“
Es ist dieser Ton, der Gnarrs Autobiografie über seine ersten achtzehn Lebensjahre so besonders macht. Nun kippt ein kindlicher Ton, formuliert von einem Erwachsenen, meist ins naiv Infantile, klingt absichtlich niedlich und damit falsch. Hier aber spricht wirklich das Kind zu einem, ein Kind, das nicht versteht, was so missraten an ihm ist, dass die Erwachsenen es immer erschöpft ansehen. Ein Kind, in dessen einsamem Leben ohnehin kein Platz für niedliche Anekdoten ist: „Ich möchte dabei sein, aber ich weiß genau, dass ich seltsam bin. Ich bin in nichts gut, dass etwas wert ist. In mir drin bin ich zerknittert und komme damit nicht zurecht. Ich weiß nicht, was ich machen soll und habe das Gefühl, mich in mir selbst verlaufen zu haben.“
Heute würde man dem kleinen Jón Gnarr wohl eine frühkindliche Depression attestieren, nebst ADHS und eventueller Hochbegabung. Er reimt unentwegt im Unterricht, erfindet eigene Worte und hat ein reiches seelisches Innenleben. Er gerät aber auch dauernd in Streit mit anderen, ist totaler Schulversager, hat eine schreckliche Schrift und wenn er Mathe lernt, „ist es, als bestünden die Zahlen aus kleinen Männchen, die in verschiedene Richtungen laufen, sobald ich sie anschaue.“
Seine Eltern können ihm nicht helfen, der Vater ist Streifenpolizist und glühender Kommunist – was im konservativen Island der frühen Siebziger ein Synonym für einsamer Spinner gewesen sein dürfte –, die Mutter arbeitet in einer Cafeteria und schämt sich, mit 45 noch ein Kind bekommen zu haben. Kein Wunder, dass Jón sich weit weg imaginiert: Der Indianer aus dem Titel des Buches, das ist er, in den Weiten Arizonas, wo ihm kein Psychiater sagen kann, er sei geistig behindert, und wo er nicht als einziger Rothaariger in der Familie das Gewisper anhören muss, er sei ja wahrscheinlich ein Bastard. Seine Rollenspiele gehen so weit, dass er als eingebildeter Indianer ein so reales wie riesiges Lagerfeuer in seinem Kinderzimmer anzündet, was ihn aus den Weiten Arizonas einmal mehr zu einer Untersuchung ins psychiatrische Landeskrankenhaus führt . . .
Wie kann es sein, dass aus einem derart verstörten Jungen voller Ängste ein Mann wurde, der es auch deshalb im Moment der größten Krise der jüngeren Geschichte Islands zum Bürgermeister brachte, weil er so frei wirkte, frei von Ängsten, von Neurosen und von Rollenzwängen? Gnarr führte in seiner Zeit als Bürgermeister jedes Jahr den Christopher Street Day als beeindruckend schrille Dragqueen an. Er machte aber vor allem, das war das eigentliche Wunder seiner vierjährigen Amtszeit, zusammen mit seinen Punk- und Musikfreunden richtig gute Politik: Von der längst überfälligen Schulreform war schon die Rede, Gnarr legte sich aber auch mit dem immens mächtigen städtischen Energiekonzern an, indem er ihn umstrukturierte und damit letzten Endes rettete. Als ihm einer der entlassenen Direktoren wutschnaubend sagte, er werde dafür sorgen, dass Gnarr auf keinen Fall wiedergewählt werde, antwortete der, die Mühe könne er sich sparen, er werde das Ganze eh nur eine Legislaturperiode lang machen. Politiker aus aller Welt kamen nach Reykjavik um zu sehen, wie der Mann das hinkriegte mit dem Regieren. Befragt nach seinem Hintergrund, sagte er dann immer, er sehe sich als Anarcho-Surrealisten.
Was er damit meinte, wird klar, wenn man „Pirat“, den zweiten Teil dieser Autobiografie liest: Gnarr muss früh eine Art starken Willenskern in sich gespürt haben. Am Ende der siebten Klasse verbrennt er auf dem Schulhof sein Zeugnis, wirft seine Bücher gleich noch hinterher und betritt nie wieder ein Klassenzimmer. Er wird Punk, was nicht ohne Komplikationen abläuft, schließlich ist es im Reykjavik der Siebzigerjahre schon schwer, das richtige Outfit für einen waschecht ungewaschenen Punk aufzutreiben.
Der Autor Jón Gnarr hat in diesem zweiten Teil großen Spaß daran, die grotesken Leiden der Selbstfindung, die peinlichen Situationen, in die man als pubertierender Jugendlicher ohnehin dauernd stolpert, auszuerzählen. Aber er bastelt sich in jener Zeit auch eine beeindruckend idealistische Version des Anarchismus zurecht, eine Mischung aus Urchristentum und Summerhill, denn Anarchie, das heißt für ihn nicht Regellosigkeit, sondern „Freiheit mit Verantwortung. Im Anarcholand darf jeder so sein, wie er ist, ohne ständig hören zu müssen, das sei abweichend oder falsch.“
Das heißt nun nicht, dass das Buch mit irgendeiner Art von Läuterung oder lebenspraktischer Patentlösung endet. Im Gegenteil, Gnarr ist sich am Ende des Textes sicher, als ungelernter Arbeiter und Sonderling zu enden. Tja, und ausgerechnet der Typ machte später seinen Job als Bürgermeister so gut, dass ihn die Reykjaviker beknieten, doch im Amt zu bleiben. Er lehnte dankend ab: Das Leben, sagte er, habe noch so viel mehr Abenteuer zu bieten.
Jón Gnarr: Indianer und Pirat - Kindheit eines begabten Störenfrieds. Aus dem Isländischen von Tina Flecken und Betty Wahl. Tropen Verlag, Stuttgart 2015. 253 S., 18,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Heute würde einem Kind,
wie er es war, ADHS mit Verdacht
auf Hochbegabung attestiert
Als Dragqueen führte Gnarr,
der Bürgermeister, in jedem Jahr
den Christopher Street Day an
Der springende Punk: Jón Gnarr, geboren 1962, Comedian, Bürgermeister, Autor. Foto: Hordur Sveinsson/Verlag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Gnarr ist sich am Ende des Textes sicher, als ungelernter Arbeiter und Sonderling zu enden. Tja, und ausgerechnet der Typ machte später seinen Job als Bürgermeister so gut, dass ihn die Reykjaviker beknieten, doch im Amt zu bleiben.« Alex Rühle, Süddeutsche Zeitung, 11.6.2015 »Dieses Buch macht betroffen.« Anne Hahn, Weltexpress, 1.6.2015 »Gnarrs Autobiografie ist ein sehr emotionales Pamphlet gegen ein Schulsystem, das auf Drill beharrt und ungewöhnliche Kinder sofort der Kategorie "schwierig" zuordnet.« Profil, 20.7.2015 »Jón Gnarrs Erinnerungen sind in ihrer grundehrlichen Offenheit ein erschütterndes Dokument darüber, wie eine Gesellschaft uns alle einordnet und klein macht. So lange, bis wir funktionieren.« Matthias Pierre Lubinsky, Dandy-Club.de, 19.7.2015