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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Indien und die Ärmsten
Man hat sich schon daran gewöhnt, Indien mit zweierlei Maß zu messen. Das eine gilt für die glitzernde Welt der Dienstleistungstempel und IT-Unternehmen, die für das beachtliche Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahrzehnte stehen und Indien den Ruf einer aufstrebenden Weltmacht eingebracht haben. Das andere wird in den Slums und ländlichen Gebieten angelegt, wo Mangelernährung und Kindersterblichkeit so allgegenwärtig sind wie in den ärmsten Entwicklungsländern. Das Klischee vom "Land der Widersprüche" hat der krassen sozialen Ungleichheit gar den Anschein des Unabänderlichen gegeben. Ganz so, als bedürfe es keiner Erklärung, warum die Früchte des Booms bei den Ärmsten nicht ankommen.
Gegen diesen in Indien verbreiteten Defätismus richten sich die Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen und Jean Drèze in ihrem nun auf Deutsch erschienenen Buch "Indien. Ein Land und seine Widersprüche". Darin diagnostizieren sie "etwas Fehlerhaftes an Indiens Entwicklungsweg", ein kollektives Versagen der Eliten. Weltweit und in historischer Perspektive gebe es, "wenn überhaupt, nur wenige andere Beispiele", in denen ein so rasantes und lang anhaltendes Wachstum so wenig zur Verringerung menschlichen Elends beigetragen habe. Das belegen die Autoren mit einer Vielzahl von - aus indischer Sicht - wenig schmeichelhaften Vergleichen.
In Bangladesch, dem einstigen Armenhaus Asiens, verdient ein Bürger zwar durchschnittlich nur halb so viel wie ein Inder, lebt statistisch aber vier Jahre länger und muss sich weniger Sorgen machen, dass seine Kinder schon vor dem fünften Lebensjahr sterben. Ein weiteres Beispiel: Pakistan steht international am Pranger, weil es der Regierung in Islamabad wegen der häufigen Talibanangriffe auf Impfhelfer nicht gelingt, Polio zu besiegen. Dabei erreicht das Land bei anderen Krankheiten wie Masern und Diphtherie deutlich höhere Impfraten als Indien. Und China, ein Bezugspunkt, bei dem die Eliten in Delhi und Bombay besonders hellhörig werden, vermag es trotz seines undemokratischen Systems weit besser, seinen Bürgern einen gerechten Zugang zu Bildung und Gesundheit zu verschaffen.
Der Nobelpreisträger Sen und sein Schüler Drèze haben ihre Beispiele bewusst so ausgesucht, dass sie für Indien beschämend sind. Ihr Buch ist faktenreiche Analyse und engagierte Streitschrift zugleich. Ihr Argument: Über Jahrzehnte haben indische Regierungen viel zu wenig in das Bildungs- und das Gesundheitssystem investiert und damit die Grundlage dafür gelegt, dass ein Großteil der Armen vom Wirtschaftswachstum kaum oder gar nicht profitiert hat. Ohne eine gesunde und gut ausgebildete Bevölkerung aber fehle Indien die Basis für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Damit richten sich die Autoren gegen die verbreitete These, wonach eine Liberalisierung der indischen Märkte der Schlüssel zu mehr Wachstum sei, das dann automatisch auch den Armen zugutekommen werde. Mit Blick auf Indiens staatliche Programme, die bekannt sind für ihre Ineffizienz und Anfälligkeit für Korruption, fragt sich der Leser, woher die Autoren ihre Hoffnung nehmen, durch mehr Staat mehr Entwicklung zu erreichen. Solchen Zweifeln halten Sen und Drèze Erfolge in den Bundesstaaten Kerala, Tamil Nadu und Himachal Pradesh entgegen, deren positive Entwicklung sie auf ambitionierte staatliche Programme zurückführen.
Indien ist zu Recht stolz auf seine Demokratie, in der die Stimmen der Armen wahlentscheidend sein können. Warum aber haben sie ihr politisches Gewicht nicht in Zugang zu Bildung, Gesundheit und Aufstiegschancen ummünzen können? Sen und Drèze machen dafür die indischen Medien und die politische Klasse verantwortlich, die sich mehr für Raumfahrt und Bollywood als beispielsweise für den skandalösen Mangel an Toiletten interessieren, zu denen nur die Hälfte der Bevölkerung Zugang hat. Das fast vollständige Ausblenden der Ärmsten - also der Bevölkerungsmehrheit - in öffentlichen Debatten habe zur Folge, dass ein Großteil der staatlichen Mittel in Konsumsubventionen fließe, die vor allem der Mittelschicht zugutekämen.
Der Glaube der Autoren an die Macht des richtigen Diskurses wurde allerdings schon bei der Rezeption des Buches in Indien enttäuscht, das 2013 unter dem Titel "An Uncertain Glory" erschien. In den indischen Medien wurde über das Buch vor allem im Zusammenhang mit einem angeblichen Duell zwischen Amartya Sen und dem an der Columbia-Universität lehrenden Ökonomen Jagdish Bhagwati berichtet, das eigentlich nur aus persönlichen Angriffen Bhagwatis gegen Sen bestand. Der vermeintliche Zweikampf der wirtschaftswissenschaftlichen Giganten las sich wie ein Drama aus Bollywood. Und so gar nicht wie die lösungsorientierte Debattenkultur, die Sen und Drèze jetzt einfordern.
FRIEDERIKE BÖGE
Jean Drèze/Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Verlag C.H. Beck, München 2014. 376 S., 29,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Amartya Sen und Jean Drèze analysieren Indien: Das Land hat erstaunliche politische und wirtschaftliche
Erfolge vorzuweisen – aber scheitert an der Aufgabe, den Armen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen
VON KARIN STEINBERGER
Natürlich, ein Buch über aschebeschmierte, heilige Männer in Indien, die das weltliche Leben hinter sich gelassen haben und als Prüfung zwanzig Jahre stehen oder jahrzehntelang einen Arm in die Luft recken, das mag für die meisten eine größere Faszination haben als ein Buch mit dem doch eher asketischen Titel: „Indien – Ein Land und seine Widersprüche“.
Und klar ist auch: Der Nobelpreisträger Amartya Sen und sein Schüler Jean Drèze haben dieses Buch nicht geschrieben für ein Publikum, das sich auf eine zweiwöchige Indienrundreise vorbereiten will. Sie haben dieses Buch geschrieben für diejenigen, die sich mit Indien tiefer auseinandersetzen, die also gewillt sind, diese in Teilen knochentrockene Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen des Subkontinents von der Unabhängigkeit bis in die Gegenwart durchzuarbeiten. Eine kritische Betrachtung, aufgelockert nur von Tabellen und Statistiken und Querverweisen.
Aber wer sich einlässt auf diese Betrachtung, der wird am Ende fassungslos zurückbleiben. Hier wird der Zustand eines Landes aufgezeigt, das seit seiner Unabhängigkeit 1947 einerseits erstaunliche politische und wirtschaftliche Erfolge vorzuweisen hat, das aber auf der anderen Seite grotesk versagt darin, die Mehrheit der Bevölkerung aus dem Elend zu befreien. „Man muss Indien schwere Vorwürfe machen“, schreiben Sen und Drèze.
Amartya Sen, Philosophie- und Ökonomieprofessor an der Harvard Universität, und Jean Drèze, der seit 1979 in Indien lebt und momentan Visiting Professor an der Allahabad Universität ist, schreiben von Indiens Abstieg innerhalb Südostasiens, von der ungesunden Konzentration von Reichtum und Macht, der man sich widersetzen muss. Von einer Elite, die ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist; von der schlechten Regierungsführung vor allem im nördlichen Herzland; von dem indischen Selbstbewusstsein, das angesichts der grotesken Armut nicht zu verstehen ist. Sie schreiben von der indischen Mehrheit – machtlos und im Elend gefangen.
Für Sen und Drèze ist das Drama Indiens, dass es den Großteil seiner eigenen Bevölkerung ignoriert. Die Armen kommen nicht vor. Nicht in der politischen Diskussion, nicht in den eigentlich erfreulich lebendigen und freien Medien, nicht im öffentlichen Diskurs. Das Elend wird konfrontiert mit einer empörend gleichgültigen Gesellschaft. Die Autoren nennen es eine „absurde Asymmetrie des Gehörtwerdens“.
Was ist passiert in diesem Land der Bildung? Als im Jahr 1088 die älteste Universität Europas in Bologna gegründet wurde, war die Universität im indischen Nalanda schon mehr als sechshundert Jahre alt. Es war der weitsichtige Rabindranath Tagore, der einmal schrieb: „In meinen Augen gründet das turmhoch aufragende Elend, das heute Indiens Herz beschwert, einzig auf der Abwesenheit von Bildung.“
Es ist nicht zu begreifen, dass sich der Stand der Bildung in Indien in den vergangenen Jahren sogar noch verschlechtert hat. In den meisten Schulen setzt man, wenn der Unterricht überhaupt stattfindet, auf stupides Auswendiglernen und Nachsprechen von Vorgelesenem. Zwei Drittel der Viertklässler, ergaben Untersuchungen, konnten nicht die Länge eines Bleistifts mit einem Lineal bestimmen.
Und auch wenn die Autoren den Zustand der Bildung nicht allein für den Zustand Indiens verantwortlich machen, ist er auf jeden Fall mitverantwortlich. Selbst die Ärmsten wissen, dass Bildung alles verändert, dass ein Mensch, der weder lesen noch schreiben kann, keine Möglichkeit hat, auf sich aufmerksam zu machen.
So wie die Bildung wird auch das Thema Gesundheit im heutigen Indien aus nicht nachvollziehbaren Gründen ignoriert. Es spielt einfach keine Rolle. Und das, obwohl der Zustand der Bevölkerung beängstigend ist.Ein Drittel der Menschen im Distrikt Udaipur hat Schwierigkeiten damit, Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen, zwanzig Prozent schaffen es kaum, aus einer sitzenden Position aufzustehen. Kinder bis zum sechsten Lebensjahr werden vom Staat komplett ignoriert, die Mütter haben oft weder das Wissen noch die Kraft, sie am Leben zu halten. Frauen sind in Indien häufiger unterernährt als in jedem anderen Land der Welt, sogar dreimal so oft wie in Elendsländern südlich der Sahara. Die Lebenserwartung ist selbst im armen Nachbarland Bangladesch höher als in Indien.
Nichts in diesem Buch ist plakativ, die Daten werden mit Akribie aber auch mit Wut aufgelistet und analysiert. Alles wird mit Beispielen belegt. Einzelne staatliche Programme wie die Integrated Child Development Services oder die Primar Health Centers werden kritisch durchleuchtet, aber nicht generell infrage gestellt. Die Autoren haben sich durch die von der Regierung und von Organisationen über Jahrzehnte gesammelten Daten gearbeitet, sie sezieren Indien und bohren in seinen seit Jahren schwärenden Wunden.
Sen und Drèze stellen sich den Verfechtern des puren Wirtschaftswachstums entgegen und zeigen, dass die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich das Land enorm schwächt. Sie warnen einerseits vor der verheerenden Ineffizienz der Marktverweigerung und andererseits vor der pathologisch-ideologischen Marktgläubigkeit. Sie belegen, dass durch die fahrlässige Vernachlässigung sozialer Probleme auch das ökonomische System gefährdet wird.
Dieses Buch ist ein hochemotionales Manifest, ein Appell für die Kultur des Protestierens und des sich Einmischens. Es ist ein Aufruf: dass sich der Staat eben nicht aus allem raushalten darf und dass der freie Markt mitnichten alles richten wird.
Sen und Drèze kritisieren vieles, vor allem das systematische Versagen von Behörden und Verwaltung, aber sie beschreiben auch, wie sich einzelne Bundesstaaten aus der Misere herausarbeiten. Indien ist in Bewegung, Themen wie Korruption, die lange Zeit verdrängt wurden, werden endlich angesprochen: Todesstrafe, Gewalt gegen Frauen, der Wert der Mädchen, das Versagen von Polizei und Justiz, die Verantwortungslosigkeit im staatlichen Sektor, diese Missstände werden immer öfter thematisiert. Auch wenn erst so etwas wie die entsetzliche Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 passieren muss, um etwas in Bewegung zu bringen. Es ist ein Anfang.
Jean Drèze, Amartya Sen: Indien. Ein Land und seine Widersprüche. Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Andreas Wirthensohn. Verlag C. H. Beck, München 2015. 376 Seiten, 29,95 Euro.
Die Themen Bildung und
Gesundheit werden von der
politischen Klasse ignoriert
Frauen sind in Indien häufiger unterernährt als in jedem anderen Land der Welt. Trotzdem ignoriert die Regierung das Thema Gesundheit.
Foto: Dhiraj Singh/Bloomberg
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Patrick Hesse, Sehepunkte, 12/2015
"Ein umfassendes, wichtiges Buch (...), das eine tiefgreifende Analyse mit anschaulichen Beispielen und zukunftsweisenden Handlungsoptionen verbindet."
Markus Spörndli, Die Wochenzeitung, 22. Januar 2015
"Amartya Sen und Jean Drèze verkörpern so etwas wie das moralische Gewissen der indischen Nation." Claudia Kramatschek, Südwestrundfunk, 30. November 2014
"Drèze und Sen haben ihr Buch gegen den Hype um das Wirtschaftswunderland und die kommende Supermacht Indien geschrieben"
Jan Ross, die Zeit, 1. Oktober 2014
"Ein leidenschaftliches und fundiertes Plädoyer für die Weiterentwicklung und Stärkung des indischen Sozialstaates."
Edda Kirleis, Südasien 01/2014
"Das Material, das Drèze und Sen präsentieren, ist sachlich dargestellt, Argumente und Ansichten werden abgewogen, das beeindruckt tiefer als jede Sensationsmache."
Martin Kämpchen, Meine Welt, Sommer 2015
"[Ein] Schlüssel zum Verständnis des heutigen Indien."
Thomas Speckmann, Tagesspiegel, 22. Juli 2015
"Ein so spannendes wie ambitiöses Unterfangen."
Gunther Neumann, Wiener Zeitung, 25. April 2015
"Dieses Buch ist ein hochemotionales Manifest, ein Appell für die Kultur des Protestierens und des sich Einmischens."
Karin Steinberger, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2015
"Sachlich kompetente Bücher über Indien sind immer rar gewesen. (...) Hier ist aber ein solches Buch gelungen."
Frankfurter Allgemeine, 28. Februar 2015
"Materialreich und immer wieder verblüffend."
Barbara Wahlster, Deutschlandradio Kultur, 6. Februar 2015
"Die Verhältnisse sind skandalös. Das Buch macht dies mit reichlich Zahlenwerk und plausiblen Schlussfolgerungen deutlich, ohne zu verschweigen, dass Wandel durch konstruktives Handeln möglich wäre."
Shirin Sojitrawalla, TAZ, 30. Januar 2015