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Frank Witzels "Inniger Schiffbruch" mit Nashorn
Die Situation der überstandenen Katastrophe, wie sie im Laufe der Geschichte von Autoren immer wieder aufgegriffen und je nach Standpunkt variiert wird, ist für Hans Blumenberg eine zentrale philosophische Ausgangserfahrung. Daher ist es schlüssig, dass Frank Witzel in seinem autofiktionalen Erinnerungsbuch "Inniger Schiffbruch" schon im Titel auf das bekannteste Werk des Philosophen, "Schiffbruch mit Zuschauer", verweist. Bei Witzel sind es der Tod der Eltern und die eigene Unfähigkeit zu trauern, die ihm zum gedanklichen Auslöser werden für seine Auseinandersetzung mit den Eltern, seiner Kindheit und der Familie in den sechziger Jahren der Bundesrepublik. Historisches Milieu und eigene Träume, Erinnerungen, Briefe und Aufzeichnungen der Eltern sowie die aus dem Alltag überlieferten Mythen und Legenden lässt er nahtlos ineinanderfließen. Zugleich reflektiert er immer auch, was er da tut.
Heraus kommt nicht nur eine intensive Beschäftigung mit der jungen Bundesrepublik aus Kinderperspektive. Witzel ist Jahrgang 1955 und wurde in Wiesbaden geboren, jener bürgerlichen Stadt am Rhein mit ihren geraden Alleen, die seine Eltern alsbald verließen, um sich im ländlicheren Biebrich mit seinen krummen Gassen niederzulassen. Da hat der Vater seine Träume, Pianist und Komponist zu werden, längst fahrenlassen, um die Familie als Musiklehrer zu ernähren.
"Inniger Schiffbruch" ist eine analytische Durchdringung der elterlichen Verhaltensweisen, die sich, so unterschiedlich sie bei Vater und Mutter dem Autor als Kind und Jugendlichen gegenüber auch ausfallen, doch gleichermaßen und bis ins hohe Alter geprägt sind von der Urkatastrophe des Zweiten Weltkriegs, die sie selbst als Kind erlebten, womit wir wieder bei Blumenberg wären. Die Familie des Vaters wurde in Frankfurt ausgebombt. Die Mutter stammte aus Polen und musste vor den einrückenden Sowjets fliehen. Doch wenn Frank Witzel Szenen vom Zuhause seiner Kindheit rekonstruiert, ist vom Gefühlshaushalt der Eltern kaum etwas zu bemerken.
Die elterlichen Traumata werden in Gegenwart des Kindes nicht angesprochen, sondern übergegangen und überspielt. Der Vater hat zu Kriegsende, als er gerade vierzehn ist, ein Resümee seines Lebens geschrieben, auf das sich der Sohn stützt und das durch seine vermeintliche Normalität beschäftigt. Die Hilflosigkeit der Mutter gegenüber den erlittenen Erfahrungen drückt sich hingegen in ihrem Schweigen aus. Wie sie als junges Mädchen aus dem damaligen Oberschlesien vertrieben wurde, hat sie zeitlebens nicht thematisiert. Die Leerstellen und Fragen, die das angesichts des Todes der Eltern zwangsläufig hinterlässt, füllt Frank Witzel mit Suchbewegungen in der Literatur. Neben Blumenberg gibt er Lektüreeindrücke aus Prousts Romanen und Benjamins "Berliner Kindheit" wieder und beschreibt Träume, für die er nicht zuletzt durch eine Psychoanalyse aufmerksam ist. Darin taucht als zentrales Motiv unter anderen toten und verletzten Tieren auch ein sterbendes Rhinozeros auf, von dem der Autor während der Abschrift des Buchs ein ums andere Mal träumt. Natürlich kommt ihm Ionescos Theaterstück "Rhinocéros" den Sinn, worin der rumänische Dramatiker anhand einer sich in Nashörner verwandelten Stadtgesellschaft den Totalitarismus thematisiert.
In Witzels Traum hingegen, der sich in einem dieser bungalowähnlichen Einfamilienhäusern zuträgt, wie sie typisch waren für die sechziger Jahre in Straßen mit Wendehammer und mit Blauzedern vor der Tür, stellt das keine Bedrohung dar, sondern Bedürftigkeit. Erschöpft und abgemagert, starrt das Nashorn den Träumenden an. "Keinerlei Geräusche waren zu hören", und auch das Rhinozeros selbst "verharrte eigenartig still und unbeweglich vor mir, fast, als habe es nur so lange ausgeharrt, um nun vor meinen Augen zu verenden", erinnert sich der Erzähler.
Obwohl er verstört aufwacht, reagiert er auf die verrätselten Nachtbilder mit Verweigerung, nicht zuletzt, weil er das "billige Effekthascherische" des Traums augenblicklich erkennt, die aufdringliche Symbolik des Tieres und die filmische Inszenierung des ganzen Settings, das ihn glauben lässt, einem "fremden Traum" beigewohnt zu haben. Nicht zuletzt an der Beschreibung dieser kurzen Sequenz, die den Schriftsteller den eigenen Traum redigieren lässt wie ein um seinen Autor bekümmerter Lektor, der diesem kein Klischee durchgehen lassen will, zeigt sich die Meisterschaft Frank Witzels.
Nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" ist ihm mit "Inniger Schiffbruch" aufs Neue eine augenöffnende bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte geglückt, die sich zwischen realistischem Erzählen und Phantastik bewegt.
SANDRA KEGEL
Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 360 S., geb. 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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