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4 Kundenbewertungen

Die Beschäftigung mit dem Nachlass seines verstorbenen Vaters ruft im Erzähler von Frank Witzels autobiografischem Roman Erinnerungen an eine Kindheit wach, in der das Fernsehen den Vorabend erfindet. Eine Kindheit voller Disziplinierungsmaßnahmen wie Hausarrest, Tonband- und Fernsehverbot, in der die Eltern ihrem Kind unwissentlich den Schrecken der einst selbst erlittenen Trennung als unentwegte Drohung weitergeben. Eine Kindheit, in der ein Sonntag klar strukturiert, die Kittelschürze für die Hausfrau unabdingbar und die von Erwachsenen erdachte Mondfahrt Peterchens ein Horrorszenario ist…mehr

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Produktbeschreibung
Die Beschäftigung mit dem Nachlass seines verstorbenen Vaters ruft im Erzähler von Frank Witzels autobiografischem Roman Erinnerungen an eine Kindheit wach, in der das Fernsehen den Vorabend erfindet. Eine Kindheit voller Disziplinierungsmaßnahmen wie Hausarrest, Tonband- und Fernsehverbot, in der die Eltern ihrem Kind unwissentlich den Schrecken der einst selbst erlittenen Trennung als unentwegte Drohung weitergeben. Eine Kindheit, in der ein Sonntag klar strukturiert, die Kittelschürze für die Hausfrau unabdingbar und die von Erwachsenen erdachte Mondfahrt Peterchens ein Horrorszenario ist wie das der Mainzer Fastnacht. Wie sehr sich das individuell Erlebte und kollektiv Erfahrene gegenseitig durchdringen, zeigt sich, wenn Witzel gerade nicht die inszenierten Bilder aus dem Familienalbum »Unser Kind«, sondern vielmehr die ausgesonderten Aufnahmen mit der Frage zur Hand nimmt, ob nicht sie es sind, die Auskunft darüber geben können, wie etwas wirklich gewesen ist. Im unentwegten Zweifel am Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerungen zeigt sich Frank Witzel einmal mehr als ein so nahbarer wie begnadeter Erzähler, dem es gelingt, über das Persönliche die Verfasstheit einer Nachkriegsgesellschaft in der neuen BRD zu erfassen.

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Autorenporträt
Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt.
Rezensionen
In »Inniger Schiffbruch« kommt nicht ein Satz aufgeblasen oder hochtrabend daher. Dieser Roman ist so komplex, weil Erinnern so komplex ist, weil es sich nur so darstellen lässt. Diese Form macht ihn zu etwas Besonderem in der gefälligen Gegenwartsliteratur, die viel zu oft nur Antworten geben will. Bei diesem Roman sind jedoch die Fragen das weit wichtigere Mittel. Ein Roman, der seine Leser lange beschäftigen wird. Björn Bischoff Nürnberger Nachrichten 20200516

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2021

Gemischter Gefühlshaushalt
Frank Witzels "Inniger Schiffbruch" mit Nashorn

Die Situation der überstandenen Katastrophe, wie sie im Laufe der Geschichte von Autoren immer wieder aufgegriffen und je nach Standpunkt variiert wird, ist für Hans Blumenberg eine zentrale philosophische Ausgangserfahrung. Daher ist es schlüssig, dass Frank Witzel in seinem autofiktionalen Erinnerungsbuch "Inniger Schiffbruch" schon im Titel auf das bekannteste Werk des Philosophen, "Schiffbruch mit Zuschauer", verweist. Bei Witzel sind es der Tod der Eltern und die eigene Unfähigkeit zu trauern, die ihm zum gedanklichen Auslöser werden für seine Auseinandersetzung mit den Eltern, seiner Kindheit und der Familie in den sechziger Jahren der Bundesrepublik. Historisches Milieu und eigene Träume, Erinnerungen, Briefe und Aufzeichnungen der Eltern sowie die aus dem Alltag überlieferten Mythen und Legenden lässt er nahtlos ineinanderfließen. Zugleich reflektiert er immer auch, was er da tut.

Heraus kommt nicht nur eine intensive Beschäftigung mit der jungen Bundesrepublik aus Kinderperspektive. Witzel ist Jahrgang 1955 und wurde in Wiesbaden geboren, jener bürgerlichen Stadt am Rhein mit ihren geraden Alleen, die seine Eltern alsbald verließen, um sich im ländlicheren Biebrich mit seinen krummen Gassen niederzulassen. Da hat der Vater seine Träume, Pianist und Komponist zu werden, längst fahrenlassen, um die Familie als Musiklehrer zu ernähren.

"Inniger Schiffbruch" ist eine analytische Durchdringung der elterlichen Verhaltensweisen, die sich, so unterschiedlich sie bei Vater und Mutter dem Autor als Kind und Jugendlichen gegenüber auch ausfallen, doch gleichermaßen und bis ins hohe Alter geprägt sind von der Urkatastrophe des Zweiten Weltkriegs, die sie selbst als Kind erlebten, womit wir wieder bei Blumenberg wären. Die Familie des Vaters wurde in Frankfurt ausgebombt. Die Mutter stammte aus Polen und musste vor den einrückenden Sowjets fliehen. Doch wenn Frank Witzel Szenen vom Zuhause seiner Kindheit rekonstruiert, ist vom Gefühlshaushalt der Eltern kaum etwas zu bemerken.

Die elterlichen Traumata werden in Gegenwart des Kindes nicht angesprochen, sondern übergegangen und überspielt. Der Vater hat zu Kriegsende, als er gerade vierzehn ist, ein Resümee seines Lebens geschrieben, auf das sich der Sohn stützt und das durch seine vermeintliche Normalität beschäftigt. Die Hilflosigkeit der Mutter gegenüber den erlittenen Erfahrungen drückt sich hingegen in ihrem Schweigen aus. Wie sie als junges Mädchen aus dem damaligen Oberschlesien vertrieben wurde, hat sie zeitlebens nicht thematisiert. Die Leerstellen und Fragen, die das angesichts des Todes der Eltern zwangsläufig hinterlässt, füllt Frank Witzel mit Suchbewegungen in der Literatur. Neben Blumenberg gibt er Lektüreeindrücke aus Prousts Romanen und Benjamins "Berliner Kindheit" wieder und beschreibt Träume, für die er nicht zuletzt durch eine Psychoanalyse aufmerksam ist. Darin taucht als zentrales Motiv unter anderen toten und verletzten Tieren auch ein sterbendes Rhinozeros auf, von dem der Autor während der Abschrift des Buchs ein ums andere Mal träumt. Natürlich kommt ihm Ionescos Theaterstück "Rhinocéros" den Sinn, worin der rumänische Dramatiker anhand einer sich in Nashörner verwandelten Stadtgesellschaft den Totalitarismus thematisiert.

In Witzels Traum hingegen, der sich in einem dieser bungalowähnlichen Einfamilienhäusern zuträgt, wie sie typisch waren für die sechziger Jahre in Straßen mit Wendehammer und mit Blauzedern vor der Tür, stellt das keine Bedrohung dar, sondern Bedürftigkeit. Erschöpft und abgemagert, starrt das Nashorn den Träumenden an. "Keinerlei Geräusche waren zu hören", und auch das Rhinozeros selbst "verharrte eigenartig still und unbeweglich vor mir, fast, als habe es nur so lange ausgeharrt, um nun vor meinen Augen zu verenden", erinnert sich der Erzähler.

Obwohl er verstört aufwacht, reagiert er auf die verrätselten Nachtbilder mit Verweigerung, nicht zuletzt, weil er das "billige Effekthascherische" des Traums augenblicklich erkennt, die aufdringliche Symbolik des Tieres und die filmische Inszenierung des ganzen Settings, das ihn glauben lässt, einem "fremden Traum" beigewohnt zu haben. Nicht zuletzt an der Beschreibung dieser kurzen Sequenz, die den Schriftsteller den eigenen Traum redigieren lässt wie ein um seinen Autor bekümmerter Lektor, der diesem kein Klischee durchgehen lassen will, zeigt sich die Meisterschaft Frank Witzels.

Nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" ist ihm mit "Inniger Schiffbruch" aufs Neue eine augenöffnende bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte geglückt, die sich zwischen realistischem Erzählen und Phantastik bewegt.

SANDRA KEGEL

Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch". Roman.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 360 S., geb. 25,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Sandra Kegel hält Frank Witzels neues Buch für doppelt geglückt. Als Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik wie als persönliche Rückschau auf die eigene Kindheit und die Kriegstraumata der Eltern. Witzels selbstkritische, mit allerhand Gewährsleuten von Walter Benjamin bis Hans Blumenberg bestückte, zwischen Realismus und Fantastik changierende Annäherungsweise an Literatur, eigene Träume, Alltagsmythen und den elterlichen Bungalow scheint Kegel sympathisch und erkenntnisträchtig - für den Autor selbst, aber auch für die geneigte Leserin.

© Perlentaucher Medien GmbH