Die Beschäftigung mit dem Nachlass seines verstorbenen Vaters ruft im Erzähler von Frank Witzels autobiografischem Roman Erinnerungen an eine Kindheit wach, in der das Fernsehen den Vorabend erfindet. Eine Kindheit voller Disziplinierungsmaßnahmen wie Hausarrest, Tonband- und Fernsehverbot, in der die Eltern ihrem Kind unwissentlich den Schrecken der einst selbst erlittenen Trennung als unentwegte Drohung weitergeben. Eine Kindheit, in der ein Sonntag klar strukturiert, die Kittelschürze für die Hausfrau unabdingbar und die von Erwachsenen erdachte Mondfahrt Peterchens ein Horrorszenario ist wie das der Mainzer Fastnacht. Wie sehr sich das individuell Erlebte und kollektiv Erfahrene gegenseitig durchdringen, zeigt sich, wenn Witzel gerade nicht die inszenierten Bilder aus dem Familienalbum "Unser Kind", sondern vielmehr die ausgesonderten Aufnahmen mit der Frage zur Hand nimmt, ob nicht sie es sind, die Auskunft darüber geben können, wie etwas wirklich gewesen ist. Im unentwegten Zweifel am Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerungen zeigt sich Frank Witzel einmal mehr als ein so nahbarer wie begnadeter Erzähler, dem es gelingt, über das Persönliche die Verfasstheit einer Nachkriegsgesellschaft in der neuen BRD zu erfassen.
In »Inniger Schiffbruch« kommt nicht ein Satz aufgeblasen oder hochtrabend daher. Dieser Roman ist so komplex, weil Erinnern so komplex ist, weil es sich nur so darstellen lässt. Diese Form macht ihn zu etwas Besonderem in der gefälligen Gegenwartsliteratur, die viel zu oft nur Antworten geben will. Bei diesem Roman sind jedoch die Fragen das weit wichtigere Mittel. Ein Roman, der seine Leser lange beschäftigen wird. Björn Bischoff Nürnberger Nachrichten 20200516
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.03.2020Panikattacken im Plattenladen
Wendehammer, Allzweckhallen, Psychodrama: Frank Witzels autobiografische Recherche „Inniger Schiffbruch“
über die Abgründe der unhinterfragten Normalität in der Bundesrepublik
VON HELMUT BÖTTIGER
Ein Gitarrengurt aus Schlangenlederimitat – wenn der Siebzehnjährige zum Geburtstag von einem Mädchen so etwas geschenkt bekommt, scheint das Glück zum Greifen nah. Erstaunlich selten ist bisher die frühe Bundesrepublik als Kindheitslandschaft literarisch vermessen worden. Das hat sicher etwas mit der Generation zu tun, die in diese Wohlstands- und Konsumwelt hineingeboren wurde. Frank Witzel aber hat sich spätestens durch sein berühmtes Buch mit dem Langspielplatten-Titel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion …“ zum Spezialisten für dieses ausgefallene Genre entwickelt.
Für die ersten Jahrgänge, die durch die Popmusik sozialisiert wurden und sich weniger für ausschweifende Panoramen in Romanform interessierten, ist Witzel einer der raren Sonderfälle. Ihn treibt die gesellschaftliche Atmosphäre der Gründerjahre der Bundesrepublik um. Der Titel „Inniger Schiffbruch“ zitiert ein Bild, das Rilke für die Übersetzung des Gedichts „L’infinito“ von Giacomo Leopardi eingefallen ist. Witzel folgt der großen Vision dieses Lyrikers, dem „Untergehen“ im „Meer“ des „Unendlichen“, in mehreren Anläufen.
Zum einen geht es um eine schonungslose Reise in das eigene Ich, die durch den Tod der Eltern einsetzt, und zum anderen um das Schreiben, das dadurch ausgelöst wird. „Schiffbruch“ heißt Scheitern. Das Vieldeutige, nicht restlos zu Klärende aber liegt im „Innigen“ verborgen. Denn es bezeichnet nicht einfach nur ein Inneres, sondern auch etwas Zugewandtes, Einverständiges.
Am Anfang des Textes steht ein Traum, ein surrealer Rhinozeros-Traum, der im Haus des gerade gestorbenen Vaters spielt. Im weiteren Verlauf wird klar, dass Frank Witzel hier ein Experiment startet, das in Fachkreisen immer wieder Diskussionen ausgelöst hat: Welche Entsprechungen hat der Vorgang des literarischen Schreibens mit dem psychoanalytischen Verfahren auf der Couch, mit dem Prinzip der freien Assoziation? Der aufgeschriebene erste Traum führt zu weiteren Träumen und Augenblickssplittern. Der Autor sammelt Erinnerungsbruchstücke und stellt sie nebeneinander. Sein Konzept besteht darin, das Material, das er in seiner aktuellen Psychoanalyse zu Tage fördert, in der literarischen Vergegenwärtigung noch einmal zu befragen.
Man spürt schnell, dass diese Familiengeschichte ganz spezifische Abgründe birgt. Dabei handelt es sich nicht um etwas Skandalöses oder Geschichtsträchtiges, sondern um eine, wie der Autor schreibt, „unhinterfragte Normalität“. Sie ist aber kontaminiert von der noch nicht sehr lange zurückliegenden Zeit des Nationalsozialismus und den üblichen Moral- und Erziehungsvorstellungen.
Das Bedrängende, Enge und Stickige dieser Atmosphäre wird gerade an einem solchen, intensiv vor Augen geführten individuellen Beispiel deutlich. Der Autor zielt mit seinem Schreiben ins Innerste, er bemüht sich nicht einmal im Ansatz um Fiktionalisierung oder andere literarisierende Ausweichbewegungen. Immer wieder reflektiert er darüber, was er gerade tut. Der Text kommentiert sich fortlaufend selbst. Und der Sog, der den Autor erfasst, wie er sich selbst auf den Grund zu kommen versucht, überträgt sich dabei auch auf den Leser.
Der Vater war Musiklehrer sowie Chor- und Orchesterleiter im Dienst der katholischen Kirche – ein bildungsbürgerlich geprägter Haushalt, aber mit sehr restriktiven katholischen Vorgaben. Das Grundproblem, das der Autor Zug um Zug enthüllt, liegt darin, dass Vater wie Mutter durch den Krieg traumatisiert worden sind und das vor sich selbst zu verbergen versuchen. Die Familie des Vaters wurde während des Kriegs in Frankfurt ausgebombt, die Mutter stammte aus Polen und floh vor den „Russen“. Frank Witzel sichtet alles, was zur Verfügung steht, Fotos und Aufzeichnungen, vor allem aber auch Szenen und Sätze am Familientisch – doch vom Gefühlsleben der Eltern ist nichts zu erahnen. Alles wurde überspielt und überdeckt.
Der Vater „löste“ auch zu Hause nie „die Krawatte“, und bei seinen Nachforschungen in den Hinterlassenschaften findet der Sohn zwar lauter Tabellen, Listen, mehrere gleichzeitig geführte Kalender – aber nie etwas Persönliches. Er versuchte, ganz pragmatisch in der Gegenwart zu leben. Die Vergangenheit, die völkischen Prägungen in der Kindheit und die „Jungmann“-Erziehung der katholischen Kirche bekam der Sohn aber dennoch zu spüren: rituelle Prügelstrafe durch den Vater, häufiger „Hausarrest“ und die laufend wiederholte Drohung, ihn „wegzuschicken“ und in ein Internat zu stecken. Frank Witzel macht sich während seines Schreibvorganges klar, dass die Eltern an ihm „ihr eigenes Psychodrama“ wiederholten, „ohne es zu merken“ – die emotionale Leerstelle, der Verlust der Kindheit und der heimischen Umgebung wird ihm dadurch bewusst. Und dazu passen die typischen Arrangements der Sechzigerjahre: die Wendehammer, die bungalowartigen Einfamilienhäuser, die Allzweckhallen.
Witzel nähert sich den inneren Vorgängen, die vieles an Scham und Pein freisetzen, mit einem distanzierten, objektivierenden Stil. Und so wird es auch möglich, bedrängende Kontinuitäten zu erkennen und die Angst zu thematisieren, „genau das Schicksal“ zu erfüllen, „dem er mit aller Kraft zu entfliehen versuchte hatte“. Das Schreiben hat einen äußerst zwiespältigen, bedrängenden Charakter, und dazu gehört auch die Erkenntnis, die zum Schmerzlichsten einer Psychoanalyse gehört und jetzt in diesem Text zutage tritt: „Meine Rolle in dem Ganzen“ hatte „sich schon längst von der des passiv Ausgelieferten in die des aktiv Handelnden gewandelt, während ich immer weiter meinen alten Rollentext des bedauernswerten Knäbleins aufsagte.“
Witzel thematisiert ein „Panikgefühl“, das seinen Ursprung in seinem Elternhaus hat und ihn sogar überfällt, wenn er Befreiungsübungen versucht. Zu den einschlägigen Momenten gehörte es, wenn seinem Vater „die Hand ausrutschte“, unvorhersehbare Schläge am Essenstisch etwa: „Bis weit in mein Erwachsenenleben hinein konnte ich es nur schwer ertragen, dicht neben anderen Menschen zu stehen. Besonders in Plattenläden musste ich gegen die unwillkürlich in mir aufsteigende Angst ankämpfen, ohne Vorwarnung ‚eine geschmiert zu bekommen‘.“
Die Plattenläden gehören zu einer Gegenwelt, in ihnen liegen die Möglichkeiten einer Entgrenzung verborgen. Wie Signale aus einem fernen Universum tauchen sie in den sich dunkel dahinziehenden Sätzen auf: wenn der Autor im Autoradio seiner Eltern zum ersten Mal „Ruby Tuesday“ hört. Oder „Michelle“ im heimlichen „Clubhaus“ auf dem Dachboden. Oder Pink Floyds außerirdisches „Ummagumma“ in einem Partykeller. Als der Vater einmal „Beatclub“ schaut, um einen vernichtenden Vortrag über die zeitgenössische „Unterhaltungsmusik“ vorzubereiten, ruft sich der Sohn noch einmal liebevoll ins Gedächtnis, wen sein Vater da so heftig niedermachte: „Es handelte sich bei dieser Band um Manfred Mann, die am Ufer der Themse ihre Version von Just Like A Woman spielten.“
Von diesen Erfahrungen zehrte der Sohn, und sie bilden noch heute die Basis, von der aus es ihm gelingt, „in diesen Schlund hinabzutauchen“. Während sich Frank Witzel als Autor die Versehrungen seines Herkommens schmerzhaft vor Augen führt, werden auch Kräfte mobilisiert, die eigene Existenz zu beglaubigen. Dieses Buch setzt sich aus. „Inniger Schiffbruch“ ist ein bewegender Text, er sichert sich nicht durch scheinbare Schutzmechanismen ab. Aber er verharrt eben nicht im „Verstummen“, das die Eltern definierte und das Kind in Schockstarre versetzte. Er widmet sich in faszinierenden Kreisbewegungen etwas anderem, Entscheidendem: der „Stummheit“ nämlich, „die dem Sprechen vorausging“.
Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 355 Seiten, 25 Euro.
Die Erziehung des Erzählers
ist noch geprägt von der Moral
des Nationalsozialismus
Witzel nähert sich den
inneren Vorgängen mit einem
objektivierenden Stil
Die Eltern waren noch nationalsozialistisch geprägt, in der Erziehung des Kindes wiederholten sie ihr eigenes Psychodrama: der Schriftsteller Frank Witzel.
Foto: imago/Manfred Segerer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wendehammer, Allzweckhallen, Psychodrama: Frank Witzels autobiografische Recherche „Inniger Schiffbruch“
über die Abgründe der unhinterfragten Normalität in der Bundesrepublik
VON HELMUT BÖTTIGER
Ein Gitarrengurt aus Schlangenlederimitat – wenn der Siebzehnjährige zum Geburtstag von einem Mädchen so etwas geschenkt bekommt, scheint das Glück zum Greifen nah. Erstaunlich selten ist bisher die frühe Bundesrepublik als Kindheitslandschaft literarisch vermessen worden. Das hat sicher etwas mit der Generation zu tun, die in diese Wohlstands- und Konsumwelt hineingeboren wurde. Frank Witzel aber hat sich spätestens durch sein berühmtes Buch mit dem Langspielplatten-Titel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion …“ zum Spezialisten für dieses ausgefallene Genre entwickelt.
Für die ersten Jahrgänge, die durch die Popmusik sozialisiert wurden und sich weniger für ausschweifende Panoramen in Romanform interessierten, ist Witzel einer der raren Sonderfälle. Ihn treibt die gesellschaftliche Atmosphäre der Gründerjahre der Bundesrepublik um. Der Titel „Inniger Schiffbruch“ zitiert ein Bild, das Rilke für die Übersetzung des Gedichts „L’infinito“ von Giacomo Leopardi eingefallen ist. Witzel folgt der großen Vision dieses Lyrikers, dem „Untergehen“ im „Meer“ des „Unendlichen“, in mehreren Anläufen.
Zum einen geht es um eine schonungslose Reise in das eigene Ich, die durch den Tod der Eltern einsetzt, und zum anderen um das Schreiben, das dadurch ausgelöst wird. „Schiffbruch“ heißt Scheitern. Das Vieldeutige, nicht restlos zu Klärende aber liegt im „Innigen“ verborgen. Denn es bezeichnet nicht einfach nur ein Inneres, sondern auch etwas Zugewandtes, Einverständiges.
Am Anfang des Textes steht ein Traum, ein surrealer Rhinozeros-Traum, der im Haus des gerade gestorbenen Vaters spielt. Im weiteren Verlauf wird klar, dass Frank Witzel hier ein Experiment startet, das in Fachkreisen immer wieder Diskussionen ausgelöst hat: Welche Entsprechungen hat der Vorgang des literarischen Schreibens mit dem psychoanalytischen Verfahren auf der Couch, mit dem Prinzip der freien Assoziation? Der aufgeschriebene erste Traum führt zu weiteren Träumen und Augenblickssplittern. Der Autor sammelt Erinnerungsbruchstücke und stellt sie nebeneinander. Sein Konzept besteht darin, das Material, das er in seiner aktuellen Psychoanalyse zu Tage fördert, in der literarischen Vergegenwärtigung noch einmal zu befragen.
Man spürt schnell, dass diese Familiengeschichte ganz spezifische Abgründe birgt. Dabei handelt es sich nicht um etwas Skandalöses oder Geschichtsträchtiges, sondern um eine, wie der Autor schreibt, „unhinterfragte Normalität“. Sie ist aber kontaminiert von der noch nicht sehr lange zurückliegenden Zeit des Nationalsozialismus und den üblichen Moral- und Erziehungsvorstellungen.
Das Bedrängende, Enge und Stickige dieser Atmosphäre wird gerade an einem solchen, intensiv vor Augen geführten individuellen Beispiel deutlich. Der Autor zielt mit seinem Schreiben ins Innerste, er bemüht sich nicht einmal im Ansatz um Fiktionalisierung oder andere literarisierende Ausweichbewegungen. Immer wieder reflektiert er darüber, was er gerade tut. Der Text kommentiert sich fortlaufend selbst. Und der Sog, der den Autor erfasst, wie er sich selbst auf den Grund zu kommen versucht, überträgt sich dabei auch auf den Leser.
Der Vater war Musiklehrer sowie Chor- und Orchesterleiter im Dienst der katholischen Kirche – ein bildungsbürgerlich geprägter Haushalt, aber mit sehr restriktiven katholischen Vorgaben. Das Grundproblem, das der Autor Zug um Zug enthüllt, liegt darin, dass Vater wie Mutter durch den Krieg traumatisiert worden sind und das vor sich selbst zu verbergen versuchen. Die Familie des Vaters wurde während des Kriegs in Frankfurt ausgebombt, die Mutter stammte aus Polen und floh vor den „Russen“. Frank Witzel sichtet alles, was zur Verfügung steht, Fotos und Aufzeichnungen, vor allem aber auch Szenen und Sätze am Familientisch – doch vom Gefühlsleben der Eltern ist nichts zu erahnen. Alles wurde überspielt und überdeckt.
Der Vater „löste“ auch zu Hause nie „die Krawatte“, und bei seinen Nachforschungen in den Hinterlassenschaften findet der Sohn zwar lauter Tabellen, Listen, mehrere gleichzeitig geführte Kalender – aber nie etwas Persönliches. Er versuchte, ganz pragmatisch in der Gegenwart zu leben. Die Vergangenheit, die völkischen Prägungen in der Kindheit und die „Jungmann“-Erziehung der katholischen Kirche bekam der Sohn aber dennoch zu spüren: rituelle Prügelstrafe durch den Vater, häufiger „Hausarrest“ und die laufend wiederholte Drohung, ihn „wegzuschicken“ und in ein Internat zu stecken. Frank Witzel macht sich während seines Schreibvorganges klar, dass die Eltern an ihm „ihr eigenes Psychodrama“ wiederholten, „ohne es zu merken“ – die emotionale Leerstelle, der Verlust der Kindheit und der heimischen Umgebung wird ihm dadurch bewusst. Und dazu passen die typischen Arrangements der Sechzigerjahre: die Wendehammer, die bungalowartigen Einfamilienhäuser, die Allzweckhallen.
Witzel nähert sich den inneren Vorgängen, die vieles an Scham und Pein freisetzen, mit einem distanzierten, objektivierenden Stil. Und so wird es auch möglich, bedrängende Kontinuitäten zu erkennen und die Angst zu thematisieren, „genau das Schicksal“ zu erfüllen, „dem er mit aller Kraft zu entfliehen versuchte hatte“. Das Schreiben hat einen äußerst zwiespältigen, bedrängenden Charakter, und dazu gehört auch die Erkenntnis, die zum Schmerzlichsten einer Psychoanalyse gehört und jetzt in diesem Text zutage tritt: „Meine Rolle in dem Ganzen“ hatte „sich schon längst von der des passiv Ausgelieferten in die des aktiv Handelnden gewandelt, während ich immer weiter meinen alten Rollentext des bedauernswerten Knäbleins aufsagte.“
Witzel thematisiert ein „Panikgefühl“, das seinen Ursprung in seinem Elternhaus hat und ihn sogar überfällt, wenn er Befreiungsübungen versucht. Zu den einschlägigen Momenten gehörte es, wenn seinem Vater „die Hand ausrutschte“, unvorhersehbare Schläge am Essenstisch etwa: „Bis weit in mein Erwachsenenleben hinein konnte ich es nur schwer ertragen, dicht neben anderen Menschen zu stehen. Besonders in Plattenläden musste ich gegen die unwillkürlich in mir aufsteigende Angst ankämpfen, ohne Vorwarnung ‚eine geschmiert zu bekommen‘.“
Die Plattenläden gehören zu einer Gegenwelt, in ihnen liegen die Möglichkeiten einer Entgrenzung verborgen. Wie Signale aus einem fernen Universum tauchen sie in den sich dunkel dahinziehenden Sätzen auf: wenn der Autor im Autoradio seiner Eltern zum ersten Mal „Ruby Tuesday“ hört. Oder „Michelle“ im heimlichen „Clubhaus“ auf dem Dachboden. Oder Pink Floyds außerirdisches „Ummagumma“ in einem Partykeller. Als der Vater einmal „Beatclub“ schaut, um einen vernichtenden Vortrag über die zeitgenössische „Unterhaltungsmusik“ vorzubereiten, ruft sich der Sohn noch einmal liebevoll ins Gedächtnis, wen sein Vater da so heftig niedermachte: „Es handelte sich bei dieser Band um Manfred Mann, die am Ufer der Themse ihre Version von Just Like A Woman spielten.“
Von diesen Erfahrungen zehrte der Sohn, und sie bilden noch heute die Basis, von der aus es ihm gelingt, „in diesen Schlund hinabzutauchen“. Während sich Frank Witzel als Autor die Versehrungen seines Herkommens schmerzhaft vor Augen führt, werden auch Kräfte mobilisiert, die eigene Existenz zu beglaubigen. Dieses Buch setzt sich aus. „Inniger Schiffbruch“ ist ein bewegender Text, er sichert sich nicht durch scheinbare Schutzmechanismen ab. Aber er verharrt eben nicht im „Verstummen“, das die Eltern definierte und das Kind in Schockstarre versetzte. Er widmet sich in faszinierenden Kreisbewegungen etwas anderem, Entscheidendem: der „Stummheit“ nämlich, „die dem Sprechen vorausging“.
Frank Witzel: Inniger Schiffbruch. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 355 Seiten, 25 Euro.
Die Erziehung des Erzählers
ist noch geprägt von der Moral
des Nationalsozialismus
Witzel nähert sich den
inneren Vorgängen mit einem
objektivierenden Stil
Die Eltern waren noch nationalsozialistisch geprägt, in der Erziehung des Kindes wiederholten sie ihr eigenes Psychodrama: der Schriftsteller Frank Witzel.
Foto: imago/Manfred Segerer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.02.2021Gemischter Gefühlshaushalt
Frank Witzels "Inniger Schiffbruch" mit Nashorn
Die Situation der überstandenen Katastrophe, wie sie im Laufe der Geschichte von Autoren immer wieder aufgegriffen und je nach Standpunkt variiert wird, ist für Hans Blumenberg eine zentrale philosophische Ausgangserfahrung. Daher ist es schlüssig, dass Frank Witzel in seinem autofiktionalen Erinnerungsbuch "Inniger Schiffbruch" schon im Titel auf das bekannteste Werk des Philosophen, "Schiffbruch mit Zuschauer", verweist. Bei Witzel sind es der Tod der Eltern und die eigene Unfähigkeit zu trauern, die ihm zum gedanklichen Auslöser werden für seine Auseinandersetzung mit den Eltern, seiner Kindheit und der Familie in den sechziger Jahren der Bundesrepublik. Historisches Milieu und eigene Träume, Erinnerungen, Briefe und Aufzeichnungen der Eltern sowie die aus dem Alltag überlieferten Mythen und Legenden lässt er nahtlos ineinanderfließen. Zugleich reflektiert er immer auch, was er da tut.
Heraus kommt nicht nur eine intensive Beschäftigung mit der jungen Bundesrepublik aus Kinderperspektive. Witzel ist Jahrgang 1955 und wurde in Wiesbaden geboren, jener bürgerlichen Stadt am Rhein mit ihren geraden Alleen, die seine Eltern alsbald verließen, um sich im ländlicheren Biebrich mit seinen krummen Gassen niederzulassen. Da hat der Vater seine Träume, Pianist und Komponist zu werden, längst fahrenlassen, um die Familie als Musiklehrer zu ernähren.
"Inniger Schiffbruch" ist eine analytische Durchdringung der elterlichen Verhaltensweisen, die sich, so unterschiedlich sie bei Vater und Mutter dem Autor als Kind und Jugendlichen gegenüber auch ausfallen, doch gleichermaßen und bis ins hohe Alter geprägt sind von der Urkatastrophe des Zweiten Weltkriegs, die sie selbst als Kind erlebten, womit wir wieder bei Blumenberg wären. Die Familie des Vaters wurde in Frankfurt ausgebombt. Die Mutter stammte aus Polen und musste vor den einrückenden Sowjets fliehen. Doch wenn Frank Witzel Szenen vom Zuhause seiner Kindheit rekonstruiert, ist vom Gefühlshaushalt der Eltern kaum etwas zu bemerken.
Die elterlichen Traumata werden in Gegenwart des Kindes nicht angesprochen, sondern übergegangen und überspielt. Der Vater hat zu Kriegsende, als er gerade vierzehn ist, ein Resümee seines Lebens geschrieben, auf das sich der Sohn stützt und das durch seine vermeintliche Normalität beschäftigt. Die Hilflosigkeit der Mutter gegenüber den erlittenen Erfahrungen drückt sich hingegen in ihrem Schweigen aus. Wie sie als junges Mädchen aus dem damaligen Oberschlesien vertrieben wurde, hat sie zeitlebens nicht thematisiert. Die Leerstellen und Fragen, die das angesichts des Todes der Eltern zwangsläufig hinterlässt, füllt Frank Witzel mit Suchbewegungen in der Literatur. Neben Blumenberg gibt er Lektüreeindrücke aus Prousts Romanen und Benjamins "Berliner Kindheit" wieder und beschreibt Träume, für die er nicht zuletzt durch eine Psychoanalyse aufmerksam ist. Darin taucht als zentrales Motiv unter anderen toten und verletzten Tieren auch ein sterbendes Rhinozeros auf, von dem der Autor während der Abschrift des Buchs ein ums andere Mal träumt. Natürlich kommt ihm Ionescos Theaterstück "Rhinocéros" den Sinn, worin der rumänische Dramatiker anhand einer sich in Nashörner verwandelten Stadtgesellschaft den Totalitarismus thematisiert.
In Witzels Traum hingegen, der sich in einem dieser bungalowähnlichen Einfamilienhäusern zuträgt, wie sie typisch waren für die sechziger Jahre in Straßen mit Wendehammer und mit Blauzedern vor der Tür, stellt das keine Bedrohung dar, sondern Bedürftigkeit. Erschöpft und abgemagert, starrt das Nashorn den Träumenden an. "Keinerlei Geräusche waren zu hören", und auch das Rhinozeros selbst "verharrte eigenartig still und unbeweglich vor mir, fast, als habe es nur so lange ausgeharrt, um nun vor meinen Augen zu verenden", erinnert sich der Erzähler.
Obwohl er verstört aufwacht, reagiert er auf die verrätselten Nachtbilder mit Verweigerung, nicht zuletzt, weil er das "billige Effekthascherische" des Traums augenblicklich erkennt, die aufdringliche Symbolik des Tieres und die filmische Inszenierung des ganzen Settings, das ihn glauben lässt, einem "fremden Traum" beigewohnt zu haben. Nicht zuletzt an der Beschreibung dieser kurzen Sequenz, die den Schriftsteller den eigenen Traum redigieren lässt wie ein um seinen Autor bekümmerter Lektor, der diesem kein Klischee durchgehen lassen will, zeigt sich die Meisterschaft Frank Witzels.
Nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" ist ihm mit "Inniger Schiffbruch" aufs Neue eine augenöffnende bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte geglückt, die sich zwischen realistischem Erzählen und Phantastik bewegt.
SANDRA KEGEL
Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 360 S., geb. 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frank Witzels "Inniger Schiffbruch" mit Nashorn
Die Situation der überstandenen Katastrophe, wie sie im Laufe der Geschichte von Autoren immer wieder aufgegriffen und je nach Standpunkt variiert wird, ist für Hans Blumenberg eine zentrale philosophische Ausgangserfahrung. Daher ist es schlüssig, dass Frank Witzel in seinem autofiktionalen Erinnerungsbuch "Inniger Schiffbruch" schon im Titel auf das bekannteste Werk des Philosophen, "Schiffbruch mit Zuschauer", verweist. Bei Witzel sind es der Tod der Eltern und die eigene Unfähigkeit zu trauern, die ihm zum gedanklichen Auslöser werden für seine Auseinandersetzung mit den Eltern, seiner Kindheit und der Familie in den sechziger Jahren der Bundesrepublik. Historisches Milieu und eigene Träume, Erinnerungen, Briefe und Aufzeichnungen der Eltern sowie die aus dem Alltag überlieferten Mythen und Legenden lässt er nahtlos ineinanderfließen. Zugleich reflektiert er immer auch, was er da tut.
Heraus kommt nicht nur eine intensive Beschäftigung mit der jungen Bundesrepublik aus Kinderperspektive. Witzel ist Jahrgang 1955 und wurde in Wiesbaden geboren, jener bürgerlichen Stadt am Rhein mit ihren geraden Alleen, die seine Eltern alsbald verließen, um sich im ländlicheren Biebrich mit seinen krummen Gassen niederzulassen. Da hat der Vater seine Träume, Pianist und Komponist zu werden, längst fahrenlassen, um die Familie als Musiklehrer zu ernähren.
"Inniger Schiffbruch" ist eine analytische Durchdringung der elterlichen Verhaltensweisen, die sich, so unterschiedlich sie bei Vater und Mutter dem Autor als Kind und Jugendlichen gegenüber auch ausfallen, doch gleichermaßen und bis ins hohe Alter geprägt sind von der Urkatastrophe des Zweiten Weltkriegs, die sie selbst als Kind erlebten, womit wir wieder bei Blumenberg wären. Die Familie des Vaters wurde in Frankfurt ausgebombt. Die Mutter stammte aus Polen und musste vor den einrückenden Sowjets fliehen. Doch wenn Frank Witzel Szenen vom Zuhause seiner Kindheit rekonstruiert, ist vom Gefühlshaushalt der Eltern kaum etwas zu bemerken.
Die elterlichen Traumata werden in Gegenwart des Kindes nicht angesprochen, sondern übergegangen und überspielt. Der Vater hat zu Kriegsende, als er gerade vierzehn ist, ein Resümee seines Lebens geschrieben, auf das sich der Sohn stützt und das durch seine vermeintliche Normalität beschäftigt. Die Hilflosigkeit der Mutter gegenüber den erlittenen Erfahrungen drückt sich hingegen in ihrem Schweigen aus. Wie sie als junges Mädchen aus dem damaligen Oberschlesien vertrieben wurde, hat sie zeitlebens nicht thematisiert. Die Leerstellen und Fragen, die das angesichts des Todes der Eltern zwangsläufig hinterlässt, füllt Frank Witzel mit Suchbewegungen in der Literatur. Neben Blumenberg gibt er Lektüreeindrücke aus Prousts Romanen und Benjamins "Berliner Kindheit" wieder und beschreibt Träume, für die er nicht zuletzt durch eine Psychoanalyse aufmerksam ist. Darin taucht als zentrales Motiv unter anderen toten und verletzten Tieren auch ein sterbendes Rhinozeros auf, von dem der Autor während der Abschrift des Buchs ein ums andere Mal träumt. Natürlich kommt ihm Ionescos Theaterstück "Rhinocéros" den Sinn, worin der rumänische Dramatiker anhand einer sich in Nashörner verwandelten Stadtgesellschaft den Totalitarismus thematisiert.
In Witzels Traum hingegen, der sich in einem dieser bungalowähnlichen Einfamilienhäusern zuträgt, wie sie typisch waren für die sechziger Jahre in Straßen mit Wendehammer und mit Blauzedern vor der Tür, stellt das keine Bedrohung dar, sondern Bedürftigkeit. Erschöpft und abgemagert, starrt das Nashorn den Träumenden an. "Keinerlei Geräusche waren zu hören", und auch das Rhinozeros selbst "verharrte eigenartig still und unbeweglich vor mir, fast, als habe es nur so lange ausgeharrt, um nun vor meinen Augen zu verenden", erinnert sich der Erzähler.
Obwohl er verstört aufwacht, reagiert er auf die verrätselten Nachtbilder mit Verweigerung, nicht zuletzt, weil er das "billige Effekthascherische" des Traums augenblicklich erkennt, die aufdringliche Symbolik des Tieres und die filmische Inszenierung des ganzen Settings, das ihn glauben lässt, einem "fremden Traum" beigewohnt zu haben. Nicht zuletzt an der Beschreibung dieser kurzen Sequenz, die den Schriftsteller den eigenen Traum redigieren lässt wie ein um seinen Autor bekümmerter Lektor, der diesem kein Klischee durchgehen lassen will, zeigt sich die Meisterschaft Frank Witzels.
Nach seinem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" ist ihm mit "Inniger Schiffbruch" aufs Neue eine augenöffnende bundesrepublikanische Mentalitätsgeschichte geglückt, die sich zwischen realistischem Erzählen und Phantastik bewegt.
SANDRA KEGEL
Frank Witzel: "Inniger Schiffbruch". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 360 S., geb. 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Sandra Kegel hält Frank Witzels neues Buch für doppelt geglückt. Als Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik wie als persönliche Rückschau auf die eigene Kindheit und die Kriegstraumata der Eltern. Witzels selbstkritische, mit allerhand Gewährsleuten von Walter Benjamin bis Hans Blumenberg bestückte, zwischen Realismus und Fantastik changierende Annäherungsweise an Literatur, eigene Träume, Alltagsmythen und den elterlichen Bungalow scheint Kegel sympathisch und erkenntnisträchtig - für den Autor selbst, aber auch für die geneigte Leserin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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