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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Laurel Snyder verfasst eine Allegorie über den Abschiedsschmerz beim Verlassen der Kindheit
Wenn die Glocke läutet, einmal im Jahr, rennen die Kinder an den Strand. Dann taucht ein grünes Boot auf und bringt ein neues, noch ganz kleines Kind auf die Insel. An seiner Stelle muss das älteste gehen und in den Nebel hinausfahren, von dem niemand weiß, was hinter ihm liegt. Aus der Welt jenseits der Insel haben die Kinder keine Erinnerungen, lediglich Überlieferungen in Form rätselhafter Verhaltensregeln, die von einer Kindergeneration an die nächste weitergegeben werden.
Eine solche Regel lautet: „Neun Waisen auf einer Insel, allein auf der Welt, einer mehr und der Himmel fällt.“ Deshalb steigt jedes Jahr das älteste der Kinder in das Boot. Es ist dann in dem Alter, in dem dunkle, wilde Gefühle sich ausbreiten und sich bei den Mädchen erste Erhebungen unter den Kleidern zeigen. Die „Ältesten“ verhalten sich komisch in der Zeit vor ihrer Abreise, tuscheln die Jüngeren. Sie wollen oft allein sein, denn sie fragen sich, was wohl hinter dem Nebel liegt. Es ist das Alter, in dem das Ungewisse, die Gefahr sie nicht mehr abschrecken, sondern magisch anzuziehen beginnen. Doch eines Tages beschließt ein Mädchen namens Jinny, die Insel nicht zu verlassen, als das grüne Boot am Strand landet und es Zeit wäre zu gehen.
Laurel Snyder erzählt Jinnys Geschichte. Sie erzählt vom Schmerz des Abschieds von der verzauberten Welt der Kindheit, denn dafür steht die Insel als eine klug konstruierte Allegorie. Auf ihr stechen die Bienen nicht, die Krebse zwicken nicht, die Schlangen beißen nicht, und wenn man sich von der Klippe stürzt, bläst einen der Wind zurück auf das sichere Felsplateau. Die Kinder verbringen ihre Zeit mit Spielen, fangen Fische und bereiten sie in ihrer offenen Küche zu. Es gibt eine Lesehütte, aber die Romane darin sind schon so alt, dass manche auseinanderfallen. An den Seitenrändern hat eine „Abigail“ Bemerkungen hinterlassen. Wann war Abigail hier? Wer hat den Kindern die Säcke voller Kleidung hingestellt, wer die Hütten gebaut, in denen sie schlafen? Zu welchem Zweck? Was passiert, wenn man die Regeln bricht? Jinny will das gar nicht ausprobieren. Sie hat ein Versprechen gegeben und will es nicht brechen, als das grüne Boot kommt. Also macht sie einen Fehler, der Konsequenzen hat.
Das klingt, als ginge es in „Insel der Waisen“ darum zu lernen, Verantwortung zu übernehmen, und das wäre zumindest keine falsche Interpretation der Geschichte. Aber so einfach ist es nicht. Der Nebel um die Insel herum lichtet sich nach dem Regelbruch, ihr Geheimnis aber wird immer undurchdringlicher. Was außerhalb von ihr liegt, wofür steht sie, welche Lektion in der Geschichte verborgen liegt – mit diesen Fragen bleibt der Leser ebenso allein wie Jinny, als die Glocke läutet. Das macht die Lektüre zu einem intellektuellen Abenteuer und „Insel der Waisen“ zu einem kleinen Meisterwerk, das man atemlos verschlingt, voller Wehmut über eine Welt, die ihren Zauber verliert und sich verdüstert, bis der Himmel fällt. (ab 12 Jahre)
PHILIPP BOVERMANN
Laurel Snyder: Insel der Waisen. Aus dem Englischen von Elisa Martins. Mixtvision Verlag, München 2020. 300 Seiten, 17 Euro.
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