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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ulrich L. Lehner über sexuellen Missbrauch im frühen Jesuitenorden
Im Jahr 2010 begann endlich die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, der in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat. Seitdem steht auch die Frage im Raum, ob diese Gewalttaten ein modernes Phänomen darstellen oder bereits in Mittelalter und Früher Neuzeit zu beobachten sind. Dies ist bisher erst in Ansätzen untersucht worden, und das gilt besonders für die deutschsprachigen Länder. Daher ist es zu begrüßen, dass der katholische Theologe Ulrich L. Lehner jetzt eine Studie zum Jesuitenorden des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts vorgelegt hat. Lehner macht deutlich: Das Thema ist mit dem Hinweis auf antijesuitische Propaganda, die im überlieferten Quellenmaterial vielfach eine unvoreingenommene Analyse verhindert, nicht erledigt. Wer jene Dokumente studiert, die von Jesuiten selbst stammen (Lehner konzentriert sich im Kern auf die Akten der Oberdeutschen Provinz des Ordens im Hauptstaatsarchiv München), stellt fest: Es hat nachweislich zahlreiche Missbrauchsfälle gegeben. Von ihnen wissen wir, weil die Täter, wenn ihre Vergehen den Oberen zu Ohren kamen, gewöhnlich bestraft wurden - wenn auch oft nicht eben schwer. In besonders gravierenden Fällen konnten sie inhaftiert oder öffentlich degradiert werden, in der Regel jedoch wurden sie lediglich aus dem Orden entlassen oder sogar nur versetzt.
Damit aber konnten die Sanktionen kaum verhindern, dass die Täter mit ihren sexuellen Gewalthandlungen - die sie gern mit Trunkenheit zu entschuldigen suchten - in anderen geistlichen Positionen fortfuhren; denn in den Entlassungsbriefen wurden die Gründe der Dimission nicht vermerkt. Dies ging zulasten von Indigenen außerhalb Europas, da die Weltmission einen bevorzugten Raum der Abschiebung darstellte, aber natürlich waren auch jene, die in Europa spirituell betreut werden sollten, betroffen. Die Gründe gehen aus Lehners Buch deutlich hervor: Der Orden strafte nicht, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern um sein Ansehen als Speerspitze des Reformkatholizismus zu wahren und gegebenenfalls die Verletzung familiärer Ehre zu heilen. Das Leid der Versehrten bereitete den Oberen zudem weniger Sorgen als der drohende Verlust des Seelenheils der Täter. Und schließlich konnten die Opfer, wenn sie älter als vierzehn Jahre waren und sexuell aktiv beteiligt gewesen zu sein schienen, sogar selbst als Komplizen bestraft werden.
Lehner ist zuzustimmen, dass all dies nicht nur Aufschluss über die Geschichte sexuellen Missbrauchs gibt, sondern auch über das frühneuzeitliche Verhältnis von Kirche, Staat und Recht sowie über damals gehegte Vorstellungen von Individualität und Frömmigkeit. Allerdings würfelt er immer wieder Konzepte und Kategorien durcheinander. Lehner spricht einerseits über sexuelle Gewalt, insbesondere an Kindern, Jugendlichen und Frauen, und andererseits über Orientierungen und Praktiken, die zwar in den Augen der Kirche strafwürdige Delikte, aber nicht per se gewaltsames Handeln darstellten, vor allem Homosexualität. Das Problem ist hier nicht, dass nach historischer Aktenlage oft kaum zu beurteilen ist, ob Geschlechtsverkehr einvernehmlich stattfand. Das entscheidende Problem ist: Der zentrale Untersuchungsgegenstand des Buches ist oft nicht klar erkennbar. Dies gilt auch dort, wo "Melancholie" und "Wahnsinn" als Gründe für eine Dimission aus dem Orden abgehandelt werden, ohne dass sich deren Verbindung zu sexuellen Vergehen erschließt.
Gleichwohl ist "Inszenierte Keuschheit" eine notwendige Studie, deren Publikation von mehreren katholischen Institutionen finanziert worden ist. Es erstaunt daher umso mehr, dass das Manuskript in der vorliegenden Form in den Druck gelangen konnte. Die Fülle an orthographischen und grammatikalischen Fehlern, an begrifflichen Schieflagen und stilistischen Missgriffen ("Zungenküsse anbringen") macht die Lektüre des Buches noch viel beschwerlicher, als sie es angesichts des Gegenstands ohnehin schon ist. Was dort, wo Verlage wissenschaftliche Texte nicht mehr lektorieren, immer wieder vorkommt, ist bei diesem Thema ein besonderes Ärgernis. ANDREAS BÄHR
Ulrich L. Lehner: "Inszenierte Keuschheit". Sexualdelikte in der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert.
De Gruyter Verlag, Berlin 2023. 314 S., geb., 59,95 Euro.
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"Lehner hat dieses Buch [...] geschrieben, weil er dafür plädiert, die Geschichte des Klerus insgesamt in den Blick zu nehmen. Er hält nichts davon, die Missbrauchstaten als Produkt des liberalen Zeitalters nach den 1986er Jahren einzugrenzen. [...] Lehner ist die Mühe und Pein zu danken, die er sich mit dieser Darstellung gemacht hat." Urs Buhlmann in: Die Tagespost, 24.04.2024