Warum sind das Misstrauen und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutschland so groß? Woher kommt all die Wut? Das fragt die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping. »Integriert doch erst mal uns!« - diesen Satz hat sie in Gesprächen mit Bürgern und Anhängern von Pegida immer wieder vernommen. Köpping fordert mit Nachdruck eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit. In den unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, in den Lebensbrüchen und Entwurzelungen der 1990er Jahre sieht sie eine wesentliche Ursache des heutigen Dilemmas. Ausführlich geht sie auf viele Probleme ein, die in der damaligen Zeit ausgeblendet oder bewusst verdrängt wurden - von der verfehlten Treuhand-Politik über den Elitenaustausch, die Abwertung von Berufsabschlüssen und den Verlust von Betriebsrenten bis hin zum Generalverdacht politischer Rückständigkeit, weil man in der DDR und damit in einer Diktatur gelebt habe. Entstanden ist eine Streitschrift, in der sie für einen neuen Blick auf die Situation in Ostdeutschland wirbt und konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Verhältnisses von Ost und West unterbreitet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.09.2018Warum gibt es "Pegida"?
Die sächsische Integrationsministerin gibt eine erhellende Antwort
Am "Politischen Reformationstag" der SPD, im Oktober 2016, hielt die Integrationsministerin in Sachsen, Petra Köpping, in Leipzig eine vielbeachtete Rede, die sie jetzt zu einem Buch vergrößert hat. Vielbeachtet war die Rede deshalb, weil Köpping damit den Versuch unternahm, das Phänomen "Pegida" zu erklären, ohne die Phrasen zu benutzen, die sonst zu hören waren. Köpping schöpfte dafür aus einem reichen Erfahrungsschatz, der sie zwar zu einem Teil des sächsischen "Establishments" macht, dem man aber nicht vorwerfen kann, er sei elitär. Die SPD-Politikerin kommt aus Sachsen, war zur Zeit der "Wende" Bürgermeisterin eines kleinen Orts, später Landrätin, seit 2009 ist sie Abgeordnete im Sächsischen Landtag, seit 2014 Ministerin. Sie kennt also Land und Leute, weiß, wovon sie spricht.
Köppings Kernthese, die nicht ganz neu ist, die sie aber mit viel Temperament vorträgt: Was sich heute in Sachsen und anderswo im "Osten" abspielt, ist die späte Reaktion auf die Nachwendezeit, also auf das, was in den Jahren nach 1990 der Alltag in den "neuen Ländern" war. Wenn man das denn Alltag nennen will. Da beginnen auch in Köppings Buch die Schwierigkeiten, in Worte zu fassen, was gemeint ist. Der Begriff "Revolution", ganz zu schweigen von "Wende", fängt schließlich nur die Politik ein, nicht das Leben, nicht die Tatsache, dass im Leben der Deutschen im "Beitrittsgebiet", wie es damals genannt wurde, nichts so blieb, wie es war. Gleichzeitig waren nicht allein ein Staat und dessen Wirtschaftssystem untergegangen, sondern die bisherige Biographie, die Vergangenheit und mit ihr, wie Köpping schreibt, die Gesellschaft als Gemeinschaft, auch wenn es sich dabei in der DDR um eine Notgemeinschaft gehandelt haben mag.
So abstrakt ist das schon oft aufgeschrieben, am Tag der Deutschen Einheit beredet, in Studien untersucht worden. Trotzdem lohnt es sich, die Argumente Köppings zu lesen, die sich gegen westdeutsche Reaktionen richten: dass genug Geld in den Osten geflossen sei, dass es undankbar sei, dass es nicht anders möglich gewesen sei, dass die Ostdeutschen doch froh sein sollten über ihre Freiheit, dass Jammern nicht weiterhelfe (ein guter Rat auch an die Westdeutschen!). Das alles will Köpping in ihrer Streitschrift nicht einfach wegbügeln. Sie nimmt es aber als Indiz dafür, dass es ein Bewusstsein davon, wie die ehemalige DDR abgewickelt wurde, im Westen noch immer nicht gibt und deshalb auch die Motive für "Pegida" und andere Protestbewegungen verborgen bleiben.
Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die Köpping dafür verantwortlich macht, dass die Wunde der Einheit im Osten nicht verheilen will: die Arbeit der Treuhandanstalt, die Benachteiligung ostdeutscher Bevölkerungsgruppen zum Beispiel im Rentensystem und die beschränkten Aufstiegschancen gut ausgebildeter Fachleute, die gegenüber westdeutschen Bewerbern bis heute das Nachsehen haben. Das alles kulminiere im Gefühl, damals von Westdeutschland her überrollt (und, im Volksmund, "betrogen") worden zu sein und noch heute bevormundet zu werden.
Die Treuhand eignete sich schon damals gut als Sündenbock, diente aber auch als westliches Vorzeigeprojekt. Was davon stimmt, ist noch lange nicht aufgearbeitet - erst jetzt werden langsam die Archivmappen geöffnet. Köpping verfällt bisweilen in Schablonendenken, wenn sie eine Linie zieht vom "neoliberalen Turbokapitalismus" über die Hartz-Reformen und die Finanzkrise bis in die Gegenwart. Richtig daran ist aber sicherlich, dass mit marktwirtschaftlichen Mitteln nicht verhindert werden konnte, dass die Leute in vielen Gegenden vor den Trümmern ihrer Existenz standen. Seither noch von einer "schöpferischen Zerstörung" zu schwärmen, ist schon deshalb verfehlt, weil das "Schöpferische" in vielen Fällen schlicht darin bestand, im westdeutschen Interesse den Markt zu bereinigen. Schablonenhaft bleibt es dennoch: Im Vergleich mit osteuropäischen Reformländern war der ostdeutsche Umbruch weit von "neoliberalen" Träumen entfernt.
Noch wichtiger ist ein anderer Unterschied: Länder wie Estland, in denen nach deutschem (und sächsischem) Vorbild privatisiert wurde, gehörten nach wenigen Jahren nicht nur zu den "Tigern" der Weltwirtschaft, sondern konnten damit auch ihr Selbstwertgefühl heben. Im Osten Deutschland heißt es dagegen bis heute: Das haben die Ossis den Wessis zu verdanken! Man könnte das den Fluch der guten Tat nennen, die Spaltung in der Wiedervereinigung, die Kehrseite der Einheit, vielleicht aber auch: die Unfähigkeit zum Nationalgefühl (das will Köpping aber gar nicht hören!). Die Ministerin erklärt sich von hier die Schwierigkeiten unter Ostdeutschen, eine Kultur der Einwanderung aufzubauen. Das ganze Zitat des Buchtitels stammt aus einem der zahlreichen Gespräche, die Köpping mit ihren Landsleuten führte: "Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!" Darüber nachzudenken lohnt sich nicht nur, weil es "Pegida" oder "Chemnitz" gibt. Dem Buch wünscht man deshalb viele Leser - vor allem in Westdeutschland.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Petra Köpping: "Integriert doch erst mal uns!". Eine Streitschrift für den Osten. Ch. Links Verlag, Berlin 2018, 204 Seiten, 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die sächsische Integrationsministerin gibt eine erhellende Antwort
Am "Politischen Reformationstag" der SPD, im Oktober 2016, hielt die Integrationsministerin in Sachsen, Petra Köpping, in Leipzig eine vielbeachtete Rede, die sie jetzt zu einem Buch vergrößert hat. Vielbeachtet war die Rede deshalb, weil Köpping damit den Versuch unternahm, das Phänomen "Pegida" zu erklären, ohne die Phrasen zu benutzen, die sonst zu hören waren. Köpping schöpfte dafür aus einem reichen Erfahrungsschatz, der sie zwar zu einem Teil des sächsischen "Establishments" macht, dem man aber nicht vorwerfen kann, er sei elitär. Die SPD-Politikerin kommt aus Sachsen, war zur Zeit der "Wende" Bürgermeisterin eines kleinen Orts, später Landrätin, seit 2009 ist sie Abgeordnete im Sächsischen Landtag, seit 2014 Ministerin. Sie kennt also Land und Leute, weiß, wovon sie spricht.
Köppings Kernthese, die nicht ganz neu ist, die sie aber mit viel Temperament vorträgt: Was sich heute in Sachsen und anderswo im "Osten" abspielt, ist die späte Reaktion auf die Nachwendezeit, also auf das, was in den Jahren nach 1990 der Alltag in den "neuen Ländern" war. Wenn man das denn Alltag nennen will. Da beginnen auch in Köppings Buch die Schwierigkeiten, in Worte zu fassen, was gemeint ist. Der Begriff "Revolution", ganz zu schweigen von "Wende", fängt schließlich nur die Politik ein, nicht das Leben, nicht die Tatsache, dass im Leben der Deutschen im "Beitrittsgebiet", wie es damals genannt wurde, nichts so blieb, wie es war. Gleichzeitig waren nicht allein ein Staat und dessen Wirtschaftssystem untergegangen, sondern die bisherige Biographie, die Vergangenheit und mit ihr, wie Köpping schreibt, die Gesellschaft als Gemeinschaft, auch wenn es sich dabei in der DDR um eine Notgemeinschaft gehandelt haben mag.
So abstrakt ist das schon oft aufgeschrieben, am Tag der Deutschen Einheit beredet, in Studien untersucht worden. Trotzdem lohnt es sich, die Argumente Köppings zu lesen, die sich gegen westdeutsche Reaktionen richten: dass genug Geld in den Osten geflossen sei, dass es undankbar sei, dass es nicht anders möglich gewesen sei, dass die Ostdeutschen doch froh sein sollten über ihre Freiheit, dass Jammern nicht weiterhelfe (ein guter Rat auch an die Westdeutschen!). Das alles will Köpping in ihrer Streitschrift nicht einfach wegbügeln. Sie nimmt es aber als Indiz dafür, dass es ein Bewusstsein davon, wie die ehemalige DDR abgewickelt wurde, im Westen noch immer nicht gibt und deshalb auch die Motive für "Pegida" und andere Protestbewegungen verborgen bleiben.
Es sind im Wesentlichen drei Faktoren, die Köpping dafür verantwortlich macht, dass die Wunde der Einheit im Osten nicht verheilen will: die Arbeit der Treuhandanstalt, die Benachteiligung ostdeutscher Bevölkerungsgruppen zum Beispiel im Rentensystem und die beschränkten Aufstiegschancen gut ausgebildeter Fachleute, die gegenüber westdeutschen Bewerbern bis heute das Nachsehen haben. Das alles kulminiere im Gefühl, damals von Westdeutschland her überrollt (und, im Volksmund, "betrogen") worden zu sein und noch heute bevormundet zu werden.
Die Treuhand eignete sich schon damals gut als Sündenbock, diente aber auch als westliches Vorzeigeprojekt. Was davon stimmt, ist noch lange nicht aufgearbeitet - erst jetzt werden langsam die Archivmappen geöffnet. Köpping verfällt bisweilen in Schablonendenken, wenn sie eine Linie zieht vom "neoliberalen Turbokapitalismus" über die Hartz-Reformen und die Finanzkrise bis in die Gegenwart. Richtig daran ist aber sicherlich, dass mit marktwirtschaftlichen Mitteln nicht verhindert werden konnte, dass die Leute in vielen Gegenden vor den Trümmern ihrer Existenz standen. Seither noch von einer "schöpferischen Zerstörung" zu schwärmen, ist schon deshalb verfehlt, weil das "Schöpferische" in vielen Fällen schlicht darin bestand, im westdeutschen Interesse den Markt zu bereinigen. Schablonenhaft bleibt es dennoch: Im Vergleich mit osteuropäischen Reformländern war der ostdeutsche Umbruch weit von "neoliberalen" Träumen entfernt.
Noch wichtiger ist ein anderer Unterschied: Länder wie Estland, in denen nach deutschem (und sächsischem) Vorbild privatisiert wurde, gehörten nach wenigen Jahren nicht nur zu den "Tigern" der Weltwirtschaft, sondern konnten damit auch ihr Selbstwertgefühl heben. Im Osten Deutschland heißt es dagegen bis heute: Das haben die Ossis den Wessis zu verdanken! Man könnte das den Fluch der guten Tat nennen, die Spaltung in der Wiedervereinigung, die Kehrseite der Einheit, vielleicht aber auch: die Unfähigkeit zum Nationalgefühl (das will Köpping aber gar nicht hören!). Die Ministerin erklärt sich von hier die Schwierigkeiten unter Ostdeutschen, eine Kultur der Einwanderung aufzubauen. Das ganze Zitat des Buchtitels stammt aus einem der zahlreichen Gespräche, die Köpping mit ihren Landsleuten führte: "Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!" Darüber nachzudenken lohnt sich nicht nur, weil es "Pegida" oder "Chemnitz" gibt. Dem Buch wünscht man deshalb viele Leser - vor allem in Westdeutschland.
JASPER VON ALTENBOCKUM
Petra Köpping: "Integriert doch erst mal uns!". Eine Streitschrift für den Osten. Ch. Links Verlag, Berlin 2018, 204 Seiten, 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dem Buch wünscht man viele Leser - vor allem in Westdeutschland. Jasper von Altenbockum, FAZ Köpping legt den Finger auf den Triggerpunkt der gestörten Ost-West-Beziehung. Anja Maier, taz Das Buch zur Stunde. Morgenpost am Sonntag Dieses Buch ist eine echte - längst überfällige - couragierte Streitschrift für die Menschen im Osten Deutschlands. Hannelore Hoffmann, Märkische Lebensart