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"Interessengebiet", der neue Roman von Martin Amis über das Gefühlsleben von NS-Offizieren in Auschwitz, spaltet die Kritik. Nicht das Unsagbare ist hier Thema, sondern das Unsägliche.
Es gibt Romane, deren Lektüre man nicht beginnen kann, ohne sich mit Unbehagen zu fragen, wie man sich wohl zu ihnen verhalten wird. "Interessengebiet" von Martin Amis ist ein solches Buch. Kann man eine unter Nazis in einem Konzentrationslager angesiedelte "Liebesgeschichte" unvoreingenommen lesen? Nein. Will man wissen, welche erotischen Vorlieben ein hünenhafter Nazi-Offizier, ein lasziv-teutonisches Riesenweib, ein von Alkohol, Tabletten und seinem Rassenwahn permanent zugedröhnter Lagerkommandant oder eine peitschenschwingende zwanzigjährige KZ-Aufseherin hegen? Nein. Wäre durch Unvoreingenommenheit hier überhaupt etwas zu gewinnen? Noch einmal: nein.
Kein Geringerer als der amerikanische Schriftsteller Richard Ford hat "Interessengebiet" als virtuos, brillant und atemraubend bezeichnet. Gleichwohl hat der Hanser Verlag, wo seit 2004 fünf Romane von Martin Amis erschienen sind, die Veröffentlichung abgelehnt. Die Aufregung darüber hielt sich in Grenzen. Vielleicht war der britische Schriftsteller, der seit seinem 1973 erschienenen Debütroman "Das Rachel-Tagebuch" als zuverlässiger agent provocateur der britischen Literaturszene gilt, ja diesmal wirklich zu weit gegangen. Aber wo wäre heute, siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, die Grenze zu ziehen?
War sie nicht schon erreicht, als Steven Spielberg in einem Spielfilm KZ-Insassen zeigte, die in Erwartung ihres Todes in einem Duschraum stehen, den sie für eine Gaskammer halten, der aber tatsächlich ein Duschraum ist? Claude Lanzmann bezeichnete dies maßvoll als "Verfälschung der Wirklichkeit" und fügte hinzu, dass man nicht zeigen könne, "wie dreitausend Menschen in der Gaskammer von Auschwitz-Birkenau sterben. Es gibt keine Fotografie, es gibt kein Bild davon. Es gibt nichts. Sie starben in der schwarzen Dunkelheit." Niemand, so Lanzmann, dürfe den Versuch wagen, dies darzustellen. Mit seinem Film "Shoah" habe er weniger die Erinnerungen von Zeitzeugen festhalten wollen als vielmehr "das Unerinnerbare des Unsagbaren".
Nicht das Unsagbare ist das Thema von Martin Amis, sondern das Unsägliche. Was er beschreiben will, ist aus der Phänomenologie des NS-Apparates bekannt: die Gleichzeitigkeit von Willkür und Kontrollzwang, von Wahnsinn und rationalem Pragmatismus, von äußerster Hemmungslosigkeit und Disziplin. Amis will ein Alltagsleben schildern, in dem der Massenmord zur Routine geworden ist. Als Schauplatz hat er den Lagerkomplex von Auschwitz gewählt, der zwei miteinander konkurrierenden Zwecken diente: dem Vorantreiben der Judenvernichtung und der Versorgung der benachbarten Buna-Werke mit Zwangsarbeitern.
Die logistischen Probleme, hierarchischen Konflikte und Rivalitäten, die daraus entstehen, bettet Amis ein in die Liebesgeschichte zwischen der Frau des Lagerkommandanten Paul Doll und Golo Thomsen, einem kultivierten Nazi bester isländischer Abstammung, der als Neffe von Reichsleiter Martin Bormann höchste Protektion genießt, sich aber durch eine Affäre mit Hannah Doll in große Gefahr begeben würde.
Es ist eine "Liebe auf den ersten Blick", die bis zur letzten Seite unerfüllt bleibt. Amis entwirft Klischeefiguren, die Namen tragen wie Norberte, Amalasand Burckl oder Romhilde Seedig. Das soll wohl germanisch klingen. Golo Thomsen ist der Zyniker unter den drei Ich-Erzählern des Romans. Paul Doll, der Lagerkommandant und Thomsens Rivale, ist das nur noch von Alkohol und Tabletten zusammengehaltene Wrack - ein Opfer seiner Profession?
Es seien eben nicht nur die Sadisten und Wahnsinnige, die entgleisen, wenn alles um sie herum entgleist, hat Jonathan Littell, der Autor der "Wohlgesinnten" gesagt. Wie Littell hat Amis umfangreiche Recherchen betrieben und sich auf historische Genauigkeit verpflichtet, und wie Littell bringt er die Täter, die in der historischen Wirklichkeit fast ausnahmslos stumm blieben, zum Sprechen. Aber lohnt sich der Aufwand, wenn die Dialoge überwiegend einem Offizierskasinotonfall verhaftet bleiben?
Im englischen Original gönnt sich Amis neben den absurd klingenden deutschen Namen noch den Spaß, zahlreiche deutsche Ausdrücke einzustreuen. Dabei handelt es sich keineswegs immer um Fachbegriffe der Mordmaschinerie. Wenn der Lagerkommandant über die Reize der jungen Witwe eines unter absurden Umständen im Lager zu Tode gekommenen morphiumsüchtigen Offiziers nachdenkt, die sich nun wegen einiger nichtarischer Vorfahren als Häftling am früheren Arbeitsplatz ihres toten Mannes wiederfindet, klingt das so: "She's short in the Unterschenkel, Alisz, but she has a glorious Hinterteil. As for the other stuff, the Busen and such, it's hard to say - but there's certainly no argument about the Sitzflache." Kein Wunder, dass der Kritiker des "Guardian" solchen Versuchen, satirische und humoristische Töne anzuschlagen, wenig abgewinnen konnte: Es funktioniere nicht und sei falsch.
Daniel Cohn-Bendit hat vor acht Jahren den Autor der "Wohlgesinnten" gefragt, wie es sich anfühle, wenn man das Elend und die Grausamkeiten der Massenhinrichtungen im Detail beschreibe und am eigenen Schreibtisch im Blut der Exekutionsopfer wate. Littell antwortete, dass die Leiche im Moment des Schreibens eine grammatikalische Form sei, und zitierte damit die Täterpsychologie, die das Opfer nicht als Menschen, sondern als Gegenstand definiert.
Wie bei Primo Levi, der elf Monate in Auschwitz-Monowitz Zwangsarbeit für die Buna-Werke leisten musste, sprechen auch bei Amis die SS-Offiziere nicht von Menschen oder Häftlingen, sondern von "Stücken", deren Wert sich in Reichsmark berechnen lässt. Levi, auf den sich Amis im Nachwort zu seinem Roman ausdrücklich beruft, begann sofort nach seiner Rückkehr nach Turin damit, seinen Erlebnissen eine literarische Form zu geben. "Ist das ein Mensch?" erschien 1947. In einer seiner Kolumnen, die zwischen 1976 und 1984 in der Zeitung "La Stampa" erschienen, trat Levi dafür ein, dem "schöpferischen Schreiben" keine Grenzen aufzuerlegen: "Gewöhnlich gehorcht, wer das tut, politischen Tabus oder atavistischen Ängsten." Bücher und Erzählungen, ob in guter oder in schlechter Absicht geschrieben, seien im Wesentlichen wirkungslose, harmlose Objekte: "selbst in ihren verächtlichsten Erscheinungsformen (wenn zum Beispiel Sex mit Nazismus oder Pathologie mit Pornographie vermengt werden), können sie nur geringfügigen Schaden anrichten, der sicherlich weniger schlimm ist als die durch Alkohol, Rauchen oder beruflichen Stress bewirkten Schädigungen".
Levi, der sich 1987 das Leben nahm, fühlte sich den Toten verpflichtet, die er als die "wirklichen Zeugen" bezeichnete. Amis hat die Zeugenrolle seinem dritten Ich-Erzähler zugedacht. Szmul ist der Anführer des Sonderkommandos, das aus Häftlingen besteht, die den Leichen Ringe von den Fingern schneiden und Goldzähne herausbrechen. Szmul will seine Erlebnisse aufschreiben, Zeugnis abgeben. Er kann nicht wissen, ob die Welt je etwas von dem erfahren wird, was in Auschwitz geschieht. Martin Amis' Roman hat dem, was wir über Auschwitz wissen, nichts hinzuzufügen. Das ist das größte Problem dieses so ehrgeizigen wie mutwilligen Buchs, aber gewiss nicht sein einziges.
HUBERT SPIEGEL
Martin Amis: "Interessengebiet". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Kein & Aber Verlag, Zürich 2015. 416 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
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