Zentrale Sektoren der Rechtspraxis wurden dort seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert kaum mehr von dem rigiden Moralstrafrecht und den ordentlichen Gerichten beeinflußt, sondern von der Polizei beherrscht. Ihr Vorgehen gegen männliche Homosexuelle zeigt, daß das Interesse der Ordnungsmacht, abweichende Sexualität strafend zu unterbinden, im Verlauf des 18. Jahrhunderts immer geringer wurde. Es ging in dem Maß zurück, wie es der Polizei gelang, sich gegenüber der herkömmlichen Magistratur zu profilieren und sich damit institutionell zu etablieren. Auch der Umgang der Zentralgewalt mit der "Todsünde Sodomie" war mehr von Machtpolitik als von Moral bestimmt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.02.2000Der Wille zum Wegsehen
Mit Foucault gegen Foucault: Eine Studie zur Verfolgung der Homosexualität im Ancien Régime
"Intime Machtverhältnisse" ist kein falscher, aber ein missverständlicher Titel. Es geht nicht um frivole Geschichten aus dem Ancien Régime, wie das Umschlagbild suggeriert, nicht einmal um Geschlechtliches, sondern um politische Macht und Strafrechtsgeschichte, allerdings für den besonderen Tatbestand der Homosexualität. Taeger will die These des französischen Philosophen Michel Foucault (1926 bis 1984) überprüfen, die Regulierung der Sexualität sei ein Mittel der Politik, die Menschen zu disziplinieren; deshalb wolle Politik möglichst viel über Sexualität wissen. Insofern geht der Titel in Ordnung, obwohl er an "gedörrte Obsthändler" erinnert. Grammatisch richtiger müsste er lauten: "Macht über intime Verhältnisse". Das ist nicht Beckmesserei.
Der Schieflage des Titels entspricht der schiefe Einsatz des Französischen. Dass die Verfasserin ausgiebig französische Literatur zitiert und das meiste nicht ins Deutsche übersetzt, kann man noch als Bemühen um Authentizität verstehen. Aber dass sie im deutschen Text statt "Homosexualität" das französische "sodomie" benutzt, obwohl man im Deutschen darunter Geschlechtsverkehr mit Tieren versteht, hätte besser begründet werden müssen als mit der Berufung auf den französischen Sprachgebrauch. Die Übernahme des französischen Wortes löst kein Übersetzungsproblem. Die Auseinanderentwicklung des Wortgebrauchs wäre vielmehr erklärungsbedürftig gewesen. Man vermisst auch eine Erläuterung der sozialen und juristischen Struktur des französischen Feudalismus besonders, wenn man Tocquevilles "Der Alte Staat und die Revolution" gelesen hat. "Absolutismus" genügt bei weitem nicht. Nach Taegers eigener Darstellung gab es im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts so viel Ordnung und Regelmäßigkeit ohne oder gar gegen den König, dass man sich dessen Herrschaft eher als beschränkt denn als absolut, "losgelöst", vorstellen kann. Aber mit der Verfassungsgeschichte ist schon Foucault etwas großzügig umgegangen. Und die Fakten, die Taeger zusammengetragen und reich belegt hat, sind tatsächlich geeignet, Foucaults These zu relativieren.
Nach einigen methodischen Manövern erzählt Taeger, wie Homosexualität im Laufe der Geschichte bestraft wurde. Nach dem kanonischen Recht des Hochmittelalters mit dem Feuertod, weil sie als Abweichung vom Willen Gottes und deshalb als Ketzerei galt. Dabei blieb es "juristisch" bis zur Französischen Revolution. Nur erhielt der französische König 1670 die Gerichtsbarkeit über Unzuchtsdelikte. Seit dieser Zeit änderte sich langsam die Verfolgungspraxis. Die Aufklärung fragte nach dem Rechtsgut, das die Bestrafung der Homosexualität schützen sollte, und kam nur noch auf persönliche Freiheit und gute Sitten in der Öffentlichkeit. Diese Unsicherheit nutzte die Pariser Polizei, die Verfolgung der Homosexuellen politisch zu instrumentalisieren. Sie nahm fest, wen sie festnehmen konnte, verhörte die Verhafteten - und ließ fast alle wieder laufen. Die Informationen und die Verbesserung der Beobachtung, die sie ermöglichten, genügten ihr. Das stellt Taeger so anschaulich dar wie in einem historischen Roman, zuerst aus der Sicht der Täter, dann in der Perspektive der leitenden Polizeibeamten und schließlich unter dem Aspekt der Strafgerichtsbarkeit. Der verfassungsinstitutionelle Rahmen ist freilich schlecht zu erkennen. Das Ergebnis ist aber überzeugend begründet. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird Homosexualität in Frankreich praktisch nicht mehr bestraft.
Taeger meint, ihre Befunde entsprächen in vielem der Beschreibung Foucaults. Foucault könne jedoch nicht erklären, wie sich die Macht der Pariser Polizei gegen die Haltung des königlichen Hofes habe entwickeln können. Der Strukturwandel der politischen Ordnung in der letzten Phase des Ancien Régime sei mit Modernisierung im Sinne von Zweckrationalität besser gekennzeichnet. Auch wenn man unter Modernisierung die Umstellung der Gesellschaft von Schichtorientierung auf Funktionsorientierung versteht, hat Taeger wohl Recht. Politische Macht durch die Brille der Sexualität zu betrachten wirkte immer etwas obsessiv. Taegers gründliche Arbeit, die ganz im Banne Foucaults steht, hat ihn empirisch-historisch widerlegt. Das ist nicht nur eine wesentliche, sondern auch eine moralische Leistung. Foucault geht es allerdings weniger um Verfassungsgeschichte als um politische Philosophie. Er will herausfinden, ob Macht nicht auch biologisch fundiert ist. Diese Frage ist noch nicht erledigt.
GERD ROELLECKE
Angela Taeger: "Intime Machtverhältnisse". Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 179 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Foucault gegen Foucault: Eine Studie zur Verfolgung der Homosexualität im Ancien Régime
"Intime Machtverhältnisse" ist kein falscher, aber ein missverständlicher Titel. Es geht nicht um frivole Geschichten aus dem Ancien Régime, wie das Umschlagbild suggeriert, nicht einmal um Geschlechtliches, sondern um politische Macht und Strafrechtsgeschichte, allerdings für den besonderen Tatbestand der Homosexualität. Taeger will die These des französischen Philosophen Michel Foucault (1926 bis 1984) überprüfen, die Regulierung der Sexualität sei ein Mittel der Politik, die Menschen zu disziplinieren; deshalb wolle Politik möglichst viel über Sexualität wissen. Insofern geht der Titel in Ordnung, obwohl er an "gedörrte Obsthändler" erinnert. Grammatisch richtiger müsste er lauten: "Macht über intime Verhältnisse". Das ist nicht Beckmesserei.
Der Schieflage des Titels entspricht der schiefe Einsatz des Französischen. Dass die Verfasserin ausgiebig französische Literatur zitiert und das meiste nicht ins Deutsche übersetzt, kann man noch als Bemühen um Authentizität verstehen. Aber dass sie im deutschen Text statt "Homosexualität" das französische "sodomie" benutzt, obwohl man im Deutschen darunter Geschlechtsverkehr mit Tieren versteht, hätte besser begründet werden müssen als mit der Berufung auf den französischen Sprachgebrauch. Die Übernahme des französischen Wortes löst kein Übersetzungsproblem. Die Auseinanderentwicklung des Wortgebrauchs wäre vielmehr erklärungsbedürftig gewesen. Man vermisst auch eine Erläuterung der sozialen und juristischen Struktur des französischen Feudalismus besonders, wenn man Tocquevilles "Der Alte Staat und die Revolution" gelesen hat. "Absolutismus" genügt bei weitem nicht. Nach Taegers eigener Darstellung gab es im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts so viel Ordnung und Regelmäßigkeit ohne oder gar gegen den König, dass man sich dessen Herrschaft eher als beschränkt denn als absolut, "losgelöst", vorstellen kann. Aber mit der Verfassungsgeschichte ist schon Foucault etwas großzügig umgegangen. Und die Fakten, die Taeger zusammengetragen und reich belegt hat, sind tatsächlich geeignet, Foucaults These zu relativieren.
Nach einigen methodischen Manövern erzählt Taeger, wie Homosexualität im Laufe der Geschichte bestraft wurde. Nach dem kanonischen Recht des Hochmittelalters mit dem Feuertod, weil sie als Abweichung vom Willen Gottes und deshalb als Ketzerei galt. Dabei blieb es "juristisch" bis zur Französischen Revolution. Nur erhielt der französische König 1670 die Gerichtsbarkeit über Unzuchtsdelikte. Seit dieser Zeit änderte sich langsam die Verfolgungspraxis. Die Aufklärung fragte nach dem Rechtsgut, das die Bestrafung der Homosexualität schützen sollte, und kam nur noch auf persönliche Freiheit und gute Sitten in der Öffentlichkeit. Diese Unsicherheit nutzte die Pariser Polizei, die Verfolgung der Homosexuellen politisch zu instrumentalisieren. Sie nahm fest, wen sie festnehmen konnte, verhörte die Verhafteten - und ließ fast alle wieder laufen. Die Informationen und die Verbesserung der Beobachtung, die sie ermöglichten, genügten ihr. Das stellt Taeger so anschaulich dar wie in einem historischen Roman, zuerst aus der Sicht der Täter, dann in der Perspektive der leitenden Polizeibeamten und schließlich unter dem Aspekt der Strafgerichtsbarkeit. Der verfassungsinstitutionelle Rahmen ist freilich schlecht zu erkennen. Das Ergebnis ist aber überzeugend begründet. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wird Homosexualität in Frankreich praktisch nicht mehr bestraft.
Taeger meint, ihre Befunde entsprächen in vielem der Beschreibung Foucaults. Foucault könne jedoch nicht erklären, wie sich die Macht der Pariser Polizei gegen die Haltung des königlichen Hofes habe entwickeln können. Der Strukturwandel der politischen Ordnung in der letzten Phase des Ancien Régime sei mit Modernisierung im Sinne von Zweckrationalität besser gekennzeichnet. Auch wenn man unter Modernisierung die Umstellung der Gesellschaft von Schichtorientierung auf Funktionsorientierung versteht, hat Taeger wohl Recht. Politische Macht durch die Brille der Sexualität zu betrachten wirkte immer etwas obsessiv. Taegers gründliche Arbeit, die ganz im Banne Foucaults steht, hat ihn empirisch-historisch widerlegt. Das ist nicht nur eine wesentliche, sondern auch eine moralische Leistung. Foucault geht es allerdings weniger um Verfassungsgeschichte als um politische Philosophie. Er will herausfinden, ob Macht nicht auch biologisch fundiert ist. Diese Frage ist noch nicht erledigt.
GERD ROELLECKE
Angela Taeger: "Intime Machtverhältnisse". Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden Ancien Régime. R. Oldenbourg Verlag, München 1999. 179 S., geb., 68,- DM.
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