Spätrömische Dekadenz und plündernde Vandalen: so lauten die Klischees über die sogenannte Völkerwanderungszeit. Doch wie entstand im ersten Jahrtausend aus dem hochentwickelten römischen Süden und dem barbarischen Norden die neue kulturelle Einheit Europa? Um Christi Geburt war Europa zweigeteilt in den hochentwickelten Süden der Mittelmeerkulturen und den unentwickelten Norden germanischund slawisch sprechender Stammeskulturen. Diese kannten weder die Schrift noch den steinernen Siedlungsbau, ein stehendes Heer oder die Geldwirtschaft, geschweige denn Städte mit Feuerwehr und Müllabfuhr. Wie konnte der »Ansturm der Barbaren« dem römischen Imperium den Todesstoß versetzen? Peter Heather stellt diese alte Frage im Licht der Erkenntnisse zur Ethnogenese und der modernen Migrationsforschung neu. Vom Hunnensturm bis zu den Wikingern untersucht er die Dynamik der europäischen Wanderungsbewegungen. Die sozialen und wirtschaftlichen Wechselwirkungen zwischen beiden Kulturräumen veränderten diese von Grund auf und ließen sie langfristig zu einer neuen kulturellen Einheit werden: dem Europa, das wir in weiterentwickelter Form noch heute kennen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2011Germanien schafft sich ab
Sie kamen nicht als Freunde: Peter Heather erzählt die Geschichte der Völkerwanderung als Panorama von Raubzügen und wechselnden Identitäten.
Von Andreas Kilb
Im Jahr 448 nach Christus trifft der griechische Geschichtsschreiber Priskos auf einer Gesandtschaftsreise ins Feldlager des Hunnenkönigs Attila einen Mann, der ihn auf Griechisch anspricht, obwohl er wie ein Steppenkrieger gekleidet ist. Nach seiner Herkunft gefragt, erklärt der Fremde, er sei als römischer Kaufmann beim Untergang der Donaufestung Viminacium in die Hände der Hunnen gefallen und habe seinen gesamten Besitz verloren. Später, nachdem er sich auf hunnischer Seite im Kampf gegen Oströmer und feindliche Reitervölker ausgezeichnet habe, sei ihm von seinem neuen Herrn, einem Gefolgsmann Attilas, die Freiheit geschenkt worden. Daraufhin habe er mit einer Barbarenfrau eine Familie gegründet und genieße nun sein zweites Leben als Wahlhunne.
Mit dieser Anekdote illustriert Peter Heather eine zentrale These seines Buches über die "Invasion der Barbaren". Das erste Jahrtausend nach Christus, wie es Heather schildert, war eine Epoche geschichtlicher Umwälzungen, durch die sich immer neue Groß- und Kleinreiche in die politische Landkarte Europas einschrieben - Umwälzungen, die vor allem von Massenmigrationen ausgelöst wurden. Aber diese Migrationen waren keine "Völkerwanderungen", weil die Gruppen, die an ihnen teilnahmen, keine Völker im traditionellen Sinn, sondern Zweckgemeinschaften darstellten. Nicht jeder, der sich ihnen anschloss, konnte seine Identität so frei wählen wie der Römer aus Viminacium im heutigen Serbien, der sich als Hunne neu erfand. Heather berichtet jedoch auch von einem gotischen Grundbesitzer, der in dem zwanzigjährigen Ringen zwischen Ostgoten und Römern um die Vorherrschaft in Italien mehrmals die Seiten wechselte, um sein Eigentum vor der Kriegsfurie zu bewahren. Schon den germanischen Urvätern, die das neunzehnte Jahrhundert als Freiheitskämpfer mit Flügelhelm und Adlerblick verherrlichte, war das ökonomische Hemd also näher als die nationalgotische Hose.
"Invasion der Barbaren" ist die Fortsetzung der epischen Studie zum "Untergang des Römischen Weltreichs", die Heather vor sechs Jahren veröffentlicht hat (die deutsche Übersetzung erschien 2007). Polemisierte er darin mit guten Gründen gegen eine neuere, soziologisch geprägte Richtung in der Geschichtswissenschaft, die das Ende der Antike als Ergebnis mehr oder minder friedlicher Transformationsprozesse versteht, so hat er nun jene Kollegen im Visier, deren Bild von Migrationen im Frühmittelalter sich vor allem aus gewaltlos vordringenden Kleingruppen ("wave of advance") und wandernden kulturellen Oberschichten ("Elitetransfer") zusammensetzt. Die Geschichte, die Heather in seinem neuen Buch erzählt, ist eine andere, sie handelt von Kriegerverbänden, die sich, von Frauen und Kindern begleitet, gegen den Widerstand Alteingesessener neue Lebensräume erstreiten, von Neusiedlern, die die Parzellen vertriebener Grundbesitzer unter sich aufteilen, und Räuberhorden, die sich mit dem in Klöstern und Städten geplünderten Gut als Wehrbauern zur Ruhe setzen. Es ist keine heroische oder idyllische Geschichte, aber sie hat den Vorzug, dass sie mit den archäologischen Befunden übereinstimmt, auch wenn manche Ausgräber sich bis heute weigern, das Wort "Migration" in ihren Berichten zu verwenden.
Die ersten unter den Völkerschaften, die sich im ersten nachchristlichen Millennium massenhaft auf die Socken machten, waren die Goten. Angelockt vom römischen Gold, das auf den Routen des Bernsteinhandels zu ihnen kam, verlegten sie im Lauf des dritten Jahrhunderts ihren Aktionsraum vom Oder-Weichsel-Gebiet ans Schwarze Meer. Dabei folgten sie, wie Heather zeigt, einer historischen Gesetzmäßigkeit: Zivilisatorisch fortgeschrittene Reiche erzeugen an ihren Rändern stets eine Barbarenklientel, die ihnen mit steigendem politischen Organisationsgrad militärisch ebenbürtig wird. Als die Goten im Jahr 376 an die Pforten des Römischen Reichs pochten, hatten sie schon Stammesbünde gebildet, denen das Heer des Kaisers Valens bei Adrianopel unterlag; als sie zwanzig Jahre später in Hellas und dann in Italien einfielen, besaßen sie mit Alarich nur noch einen einzigen König. Aber erst nachdem sie sich mit Zustimmung der Römer im aquitanischen Gallien niedergelassen hatten, wurden sie zu "Westgoten" - im Unterschied zu den Ostgoten, die unter hunnischer Kontrolle im Karpathenbecken siedelten, ehe sie sich losrissen und unter Theoderich im Imperium Romanum ihr Glück suchten.
Heather erhellt das Drama der Völkerwanderungszeit weniger durch komplizierte Theorien als mit schlichter menschlicher Logik. Die Goten und ihre Nachfolger - Wandalen, Sueben und Alanen, die an Silvester 406 bei Mainz den Rhein überquerten, Angeln und Sachsen, die seit etwa 410 den Osten Englands in Besitz nahmen, und die Langobarden, die 568 Italien überrannten - mussten ihre Züge nach Maßgabe des zu erwartenden Widerstands planen. Deshalb kamen sie, solange das römische Heer noch einsatzfähig war, zu Zehntausenden, während sie dort, wo die Legionen bereits abgezogen waren, nur mit Hundertschaften antreten mussten. Die freien Krieger aber, die den Kern der germanischen Aufgebote stellten, konnten ihre Familien nicht schutzlos zurücklassen. So wurde der Heerzug zur Migration ohne Wiederkehr.
Dass die Germanen ebenso wie später Slawen und Wikinger oft mehrere Generationen lang migrierten, erklärt Heather mit einer These aus der Verhaltenspsychologie: Das Wandern lag ihnen im Blut. Es ist die einzige Stelle, an der seine Argumentation unplausibel wird. Migration ist nicht habituell, sondern zweckbestimmt, sie hört auf, wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Die Westgoten kamen in Spanien zur Ruhe, die Slawen an der Elbe und auf der Peloponnes. Der Wanderungsdruck im Kessel Europa hatte nachgelassen, nicht weil die Gene, sondern weil die ökonomischen Ressourcen, Metall, Vieh, urbares Land, neu verteilt worden waren.
Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein stand die Geschichtswissenschaft in vielen Ländern im Dienst nationalstaatlicher Vorstellungen. Die schwerste ideologische Last hatte dabei die Slawistik zu tragen: In Polen musste sie den polnischen, in Russland den russischen, in Rumänien den rumänischen Ursprung der Slawenvölker beweisen. Heather, der aufgrund der archäologischen Befunde der polnischen Variante zuneigt, räumt vor allem mit dem Märchen von der friedlichen, von hierarchiefreien Gemeinschaften getragenen Slawenexpansion auf.
In Griechenland traten die slawischen Einwanderer als Belagerer und Eroberer auf, im Baltikum hatte ihr Vordringen kolonisatorische Züge. Die polnischen Piasten und böhmischen Przemysliden, die im zehnten Jahrhundert ihre Vorherrschaft mit Feuer und Schwert gegen konkurrierende Adelssippen durchsetzten, machten ihre Hauptstädte zu Zentren des Sklavenhandels. Dessen Humanware erbeuteten sie bei den Slawenstämmen in den Ebenen zwischen Weichsel und Dnjepr, wo sie gelegentlich auf Jagdgesellschaften der Rus-Wikinger aus Kiew und Nowgorod trafen, die es auf das gleiche Wild abgesehen hatten. So ging auch hier das ökonomische Interesse dem nationalen voraus. Die Staatenbildung, aus der das mittelalterliche Europa erwuchs, diente zuallererst der Sicherung von Handelsrouten, Einflusssphären und Gewinnspannen.
In Deutschland wird der Blick auf die Spätantike nach wie vor durch das Ethnogenese-Modell von Reinhard Wenskus und Herwig Wolfram bestimmt, das kulturellen "Traditionskernen" eine Schlüsselrolle bei der Volkwerdung zuweist. Bei Peter Heather erfährt man nun, dass diese Traditionskerne alles andere als unwandelbar waren. Die eigentliche Gruppenidentität der Wanderverbände entstand nicht durch gemeinsame Lieder und Haartrachten, sondern, wie bei Vandalen und Alanen in Spanien, im Widerstand gegen die Römer, sie härtete aus durch Gegendruck wie Kristall im losen Gestein.
Der Erkenntnisvorteil dieses mechanistischen Weltbilds liegt darin, dass es gegen die traditionelle Abwertung des "Barbarischen" durch die Historiographie weitgehend immun ist. Kulturelle Identität ist, wie man aus der Erzählung des Priskos lernt, kein blindes Schicksal, sondern eine Frage von Wahl und Zuschreibung. Der Römer kann zum Hunnen, der Hunne im Idealfall gar zum Römer werden. Die Frage ist nur, ob man ihn lässt.
Peter Heather: "Invasion der Barbaren". Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus.
Aus dem Englischen Von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 683 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sie kamen nicht als Freunde: Peter Heather erzählt die Geschichte der Völkerwanderung als Panorama von Raubzügen und wechselnden Identitäten.
Von Andreas Kilb
Im Jahr 448 nach Christus trifft der griechische Geschichtsschreiber Priskos auf einer Gesandtschaftsreise ins Feldlager des Hunnenkönigs Attila einen Mann, der ihn auf Griechisch anspricht, obwohl er wie ein Steppenkrieger gekleidet ist. Nach seiner Herkunft gefragt, erklärt der Fremde, er sei als römischer Kaufmann beim Untergang der Donaufestung Viminacium in die Hände der Hunnen gefallen und habe seinen gesamten Besitz verloren. Später, nachdem er sich auf hunnischer Seite im Kampf gegen Oströmer und feindliche Reitervölker ausgezeichnet habe, sei ihm von seinem neuen Herrn, einem Gefolgsmann Attilas, die Freiheit geschenkt worden. Daraufhin habe er mit einer Barbarenfrau eine Familie gegründet und genieße nun sein zweites Leben als Wahlhunne.
Mit dieser Anekdote illustriert Peter Heather eine zentrale These seines Buches über die "Invasion der Barbaren". Das erste Jahrtausend nach Christus, wie es Heather schildert, war eine Epoche geschichtlicher Umwälzungen, durch die sich immer neue Groß- und Kleinreiche in die politische Landkarte Europas einschrieben - Umwälzungen, die vor allem von Massenmigrationen ausgelöst wurden. Aber diese Migrationen waren keine "Völkerwanderungen", weil die Gruppen, die an ihnen teilnahmen, keine Völker im traditionellen Sinn, sondern Zweckgemeinschaften darstellten. Nicht jeder, der sich ihnen anschloss, konnte seine Identität so frei wählen wie der Römer aus Viminacium im heutigen Serbien, der sich als Hunne neu erfand. Heather berichtet jedoch auch von einem gotischen Grundbesitzer, der in dem zwanzigjährigen Ringen zwischen Ostgoten und Römern um die Vorherrschaft in Italien mehrmals die Seiten wechselte, um sein Eigentum vor der Kriegsfurie zu bewahren. Schon den germanischen Urvätern, die das neunzehnte Jahrhundert als Freiheitskämpfer mit Flügelhelm und Adlerblick verherrlichte, war das ökonomische Hemd also näher als die nationalgotische Hose.
"Invasion der Barbaren" ist die Fortsetzung der epischen Studie zum "Untergang des Römischen Weltreichs", die Heather vor sechs Jahren veröffentlicht hat (die deutsche Übersetzung erschien 2007). Polemisierte er darin mit guten Gründen gegen eine neuere, soziologisch geprägte Richtung in der Geschichtswissenschaft, die das Ende der Antike als Ergebnis mehr oder minder friedlicher Transformationsprozesse versteht, so hat er nun jene Kollegen im Visier, deren Bild von Migrationen im Frühmittelalter sich vor allem aus gewaltlos vordringenden Kleingruppen ("wave of advance") und wandernden kulturellen Oberschichten ("Elitetransfer") zusammensetzt. Die Geschichte, die Heather in seinem neuen Buch erzählt, ist eine andere, sie handelt von Kriegerverbänden, die sich, von Frauen und Kindern begleitet, gegen den Widerstand Alteingesessener neue Lebensräume erstreiten, von Neusiedlern, die die Parzellen vertriebener Grundbesitzer unter sich aufteilen, und Räuberhorden, die sich mit dem in Klöstern und Städten geplünderten Gut als Wehrbauern zur Ruhe setzen. Es ist keine heroische oder idyllische Geschichte, aber sie hat den Vorzug, dass sie mit den archäologischen Befunden übereinstimmt, auch wenn manche Ausgräber sich bis heute weigern, das Wort "Migration" in ihren Berichten zu verwenden.
Die ersten unter den Völkerschaften, die sich im ersten nachchristlichen Millennium massenhaft auf die Socken machten, waren die Goten. Angelockt vom römischen Gold, das auf den Routen des Bernsteinhandels zu ihnen kam, verlegten sie im Lauf des dritten Jahrhunderts ihren Aktionsraum vom Oder-Weichsel-Gebiet ans Schwarze Meer. Dabei folgten sie, wie Heather zeigt, einer historischen Gesetzmäßigkeit: Zivilisatorisch fortgeschrittene Reiche erzeugen an ihren Rändern stets eine Barbarenklientel, die ihnen mit steigendem politischen Organisationsgrad militärisch ebenbürtig wird. Als die Goten im Jahr 376 an die Pforten des Römischen Reichs pochten, hatten sie schon Stammesbünde gebildet, denen das Heer des Kaisers Valens bei Adrianopel unterlag; als sie zwanzig Jahre später in Hellas und dann in Italien einfielen, besaßen sie mit Alarich nur noch einen einzigen König. Aber erst nachdem sie sich mit Zustimmung der Römer im aquitanischen Gallien niedergelassen hatten, wurden sie zu "Westgoten" - im Unterschied zu den Ostgoten, die unter hunnischer Kontrolle im Karpathenbecken siedelten, ehe sie sich losrissen und unter Theoderich im Imperium Romanum ihr Glück suchten.
Heather erhellt das Drama der Völkerwanderungszeit weniger durch komplizierte Theorien als mit schlichter menschlicher Logik. Die Goten und ihre Nachfolger - Wandalen, Sueben und Alanen, die an Silvester 406 bei Mainz den Rhein überquerten, Angeln und Sachsen, die seit etwa 410 den Osten Englands in Besitz nahmen, und die Langobarden, die 568 Italien überrannten - mussten ihre Züge nach Maßgabe des zu erwartenden Widerstands planen. Deshalb kamen sie, solange das römische Heer noch einsatzfähig war, zu Zehntausenden, während sie dort, wo die Legionen bereits abgezogen waren, nur mit Hundertschaften antreten mussten. Die freien Krieger aber, die den Kern der germanischen Aufgebote stellten, konnten ihre Familien nicht schutzlos zurücklassen. So wurde der Heerzug zur Migration ohne Wiederkehr.
Dass die Germanen ebenso wie später Slawen und Wikinger oft mehrere Generationen lang migrierten, erklärt Heather mit einer These aus der Verhaltenspsychologie: Das Wandern lag ihnen im Blut. Es ist die einzige Stelle, an der seine Argumentation unplausibel wird. Migration ist nicht habituell, sondern zweckbestimmt, sie hört auf, wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Die Westgoten kamen in Spanien zur Ruhe, die Slawen an der Elbe und auf der Peloponnes. Der Wanderungsdruck im Kessel Europa hatte nachgelassen, nicht weil die Gene, sondern weil die ökonomischen Ressourcen, Metall, Vieh, urbares Land, neu verteilt worden waren.
Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein stand die Geschichtswissenschaft in vielen Ländern im Dienst nationalstaatlicher Vorstellungen. Die schwerste ideologische Last hatte dabei die Slawistik zu tragen: In Polen musste sie den polnischen, in Russland den russischen, in Rumänien den rumänischen Ursprung der Slawenvölker beweisen. Heather, der aufgrund der archäologischen Befunde der polnischen Variante zuneigt, räumt vor allem mit dem Märchen von der friedlichen, von hierarchiefreien Gemeinschaften getragenen Slawenexpansion auf.
In Griechenland traten die slawischen Einwanderer als Belagerer und Eroberer auf, im Baltikum hatte ihr Vordringen kolonisatorische Züge. Die polnischen Piasten und böhmischen Przemysliden, die im zehnten Jahrhundert ihre Vorherrschaft mit Feuer und Schwert gegen konkurrierende Adelssippen durchsetzten, machten ihre Hauptstädte zu Zentren des Sklavenhandels. Dessen Humanware erbeuteten sie bei den Slawenstämmen in den Ebenen zwischen Weichsel und Dnjepr, wo sie gelegentlich auf Jagdgesellschaften der Rus-Wikinger aus Kiew und Nowgorod trafen, die es auf das gleiche Wild abgesehen hatten. So ging auch hier das ökonomische Interesse dem nationalen voraus. Die Staatenbildung, aus der das mittelalterliche Europa erwuchs, diente zuallererst der Sicherung von Handelsrouten, Einflusssphären und Gewinnspannen.
In Deutschland wird der Blick auf die Spätantike nach wie vor durch das Ethnogenese-Modell von Reinhard Wenskus und Herwig Wolfram bestimmt, das kulturellen "Traditionskernen" eine Schlüsselrolle bei der Volkwerdung zuweist. Bei Peter Heather erfährt man nun, dass diese Traditionskerne alles andere als unwandelbar waren. Die eigentliche Gruppenidentität der Wanderverbände entstand nicht durch gemeinsame Lieder und Haartrachten, sondern, wie bei Vandalen und Alanen in Spanien, im Widerstand gegen die Römer, sie härtete aus durch Gegendruck wie Kristall im losen Gestein.
Der Erkenntnisvorteil dieses mechanistischen Weltbilds liegt darin, dass es gegen die traditionelle Abwertung des "Barbarischen" durch die Historiographie weitgehend immun ist. Kulturelle Identität ist, wie man aus der Erzählung des Priskos lernt, kein blindes Schicksal, sondern eine Frage von Wahl und Zuschreibung. Der Römer kann zum Hunnen, der Hunne im Idealfall gar zum Römer werden. Die Frage ist nur, ob man ihn lässt.
Peter Heather: "Invasion der Barbaren". Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus.
Aus dem Englischen Von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 683 S., geb., 39,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.04.2011Die erste Europäische Union
Die Kraft der Wohlstandsunterschiede: Peter Heathers „Invasion der Barbaren“ entwirft ein großes Tableau von der wandernden Menschheit des ersten Jahrtausends
Es hat die Völkerwanderung gegeben: Manchmal muss die Geschichtswissenschaft zu überkommenen Erkenntnissen zurückkehren, sie dabei aber mit neuer Anschauung füllen. Das leistet der englische Historiker Peter Heather jetzt ein zweites Mal. 2005 hatte in seiner großen Erzählung vom Fall des Römischen Imperiums (sie erschien auf Deutsch 2007) die Bedeutung der Barbarenstürme für den Untergang Roms neu ans Licht gehoben, im Streit vor allem mit soziopolitischen Dekadenztheorien, die innere Zerfallsprozesse für entscheidend halten; nun setzt er das fort mit einer noch umfangreicheren Studie über „Empires and Barbarians“ (so der englische Titel), die die europäische Geschichte vom Hunneneinfall des vierten Jahrhunderts bis zum Jahr 1000 insgesamt in den Blick nimmt, vom Ende des weströmischen Reiches also bis zu dem Punkt, an dem mit der Gründung der slawischen Königreiche in Polen, Russland und Böhmen die Völkerfamilie des Kontinents sich geschlossen hatte. Heather nennt das die erste Europäische Union.
Diesen gewaltigen Prozess beschreibt Heather als Abfolge von „Migrationen“, mit einem heutigen Begriff, den wir mit Globalisierung und wirtschaftlichem Gefälle zwischen Reich und Arm in Verbindung bringen. Und genau darum geht es auch Heather, um die Erschließung eines großen Raums für gleiche Lebensverhältnisse, für Verkehr, Handel und Zivilisation. Er vollzog sich nicht allein, aber wesentlich in einer Kette von Völkerverschiebungen durchaus beträchtlichen Ausmaßes.
Heathers Buch ist dabei gleichzeitig epischer Bericht und sozialwissenschaftliche Typologie; es geht um die dramatischen Ereignisse der Barbareninvasionen in reiches, überlegenes Kulturland, aber auch um die oft ganz unterschiedlichen Formen dieser Wanderungs- und Eroberungsströme. Das Ineinander von Erzählung und Systematik macht die Lektüre streckenweise anspruchsvoll; der Leser ist gut beraten, ein konventionelles Handbuch für Fakten und Chronologie zur Hand zu haben, wenn er Heathers Darstellung ganz nutzen will.
Am Anfang steht das Wohlstandsgefälle zwischen Römern und Germanen an den Rhein- und Donaugrenzen des Reiches. Der Wohlstand lockt an und strahlt aus: Die Germanen profitieren von Handel und Reichtum, mit der Folge, dass sie sich selbst besser organisieren. Ihr Ackerbau wird erfolgreicher, er produziert Überschüsse, die Barbaren treiben nun Handel. Die Überschüsse erlauben die Ausrüstung militärischer Gefolgschaften, ja Ansätze von größerer Gruppenbildung. Ein „Germanien der zwei Geschwindigkeiten“ entsteht, eine Art von Assimilation an den Grenzen des Imperiums, von der auch die Römer profitieren, weil sie Gewinne machen und Germanen zur Verteidigung einstellen können. Diese friedlichen, in der Archäologie ablesbaren Prozesse ließen die älteren, kriegerischen Bilder von der Völkerwanderung letzthin etwas verblassen: Man sah Durchdringung und Austausch, nicht mehr die gewaltsamen nach außen geschlossenen „Billardkugeln“ ethnisch reiner Stämme, die vorherige Bewohner einfach verdrängen, gar mit Ausrottungen. Doch Heather stellt fest: Es gab die Invasionen, und zwar nicht nur in Gestalt kleinerer spezialisierter Kriegergruppen, die dann aufgesogen wurden, sondern als Völkerzüge, mit Kriegern, ihren Gefolgschaften, Freien und Sklaven, samt Frauen und Kindern. Also große Gruppen, in denen auf je einen bewaffneten Kämpfer mindestens fünf andere Personen kamen. Das setzte hohen Organisationsgrad, imperiale Wirtschaftsüberschüsse, übrigens auch das Straßennetz des Reiches voraus, auf dem man mit Wagen und Gepäck zügig vorankam.
Angestoßen aber wurden diese riesigen, sich über lange Jahre und Tausende Kilometer hinziehenden Völkerzüge mit oft mehreren Zigtausenden Goten, Vandalen, Sueben durch die aus Mittelasien vordringenden hunnischen Reiterscharen, die die Germanen teils unterwarfen, teils vor sich hertrieben. Das war die erste Phase der Wanderungen im späten vierten und im fünften Jahrhundert. Sie führte zum Zusammenbruch Westroms und zur Gründung germanischer Königreiche in Italien, Gallien, Spanien und Nordafrika, die durchaus ältere Strukturen weiterleben ließen, sich aber große Teile des Kuchens an Land und Leuten sicherten: Es kam zu einem Elitenaustausch, teilweise zu geschlossenen Neusiedlungen.
Kleinteiliger, dafür auch nachhaltiger verliefen die Prozesse im Nordwesten, auf den britischen Inseln und an der gallofränkischen Grenze, wo stetiger Zustrom von Bauern und Kriegern zu tiefgreifenden ethnischen Veränderungen führten: England wurde – von Friesland und Skandinavien aus – angelsächsisch, das westrheinische Gebiet bis weit nach Frankreich hinein germanisch-fränkisch, Grundlage des späteren merowingisch-karolingischen Reiches. Hier war die (auch sprachliche) Verdrängung der keltisch-römischen Vorbewohner besonders vollständig, es muss zu ganz neuen Siedlungsstrukturen und Landaufteilungen gekommen sein, vom römischen Großbetrieb, der Villa, hin zu protofeudalen Verhältnissen. Da Heather systematisch arbeitet, vergleicht er das auch mit der normannischen Invasion nach England von 1066, bei der es zu einem reinen Elitenaustausch auf der Grundlage der vorherigen Landaufteilung kam, wo also nur die Herren ausgewechselt wurden.
Das am ehemals römischen Rand entstandene Frankenreich durchdrang dann wiederum den Raum bis zur Elbe, das einst imperiale Vorland, und traf dabei auf die in der zweiten Jahrtausendhälfte den Germanen nachgefolgten slawischen Völkerschaften, die den Raum Ostmitteleuropas besetzt hatten. Auch diesen besonders stummen, in historischer Schriftüberlieferung kaum fassbaren Prozess slawischer Landnahme versteht Heather als Migration in einem „Schneeballsystem“, nicht als weiterschieben ethnischer Billardkugeln: Vorreiter machen sich vertraut mit neuen Gebieten, ziehen dann größere Massen nach, diese koexistieren aber auch mit verbliebenen Ureinwohnern. Hier hilft eine kleinteilige, seit 1990 auch von nationalistischen Vorurteilen bereinigte Archäologie stumme kollektive Prozesse zum Sprechen zu bringen.
Auch in dieser zweiten, osteuropäischen Phase des gesamteuropäischen Wanderungstableaus spielt das Wohlstandsgefälle die entscheidende Rolle. Slawen verlassen erschöpfte Böden und rücken an die Zentren der Zivilisation heran. Germanische Wikinger plündern seit dem achten Jahrhundert an allen Küsten von England bis Italien; Raub und Handel, also Bernstein, Pelze und Sklaven finden ihre weiten Wege von der Ostsee bis nach Byzanz und zu den arabischen Kalifen, die phantastische Geldsummen hoch zur Wolga und in die baltischen Gebiete schicken. Missionare und Mönche folgen nach. Der neue Raub- und Handelsreichtum stößt auch hier erste Staatsbildungen in gewaltigen Burg- und Kirchenbauten an.
An Elbe und Oder treffen dann um 1000 germanische und slawische, aber nun schon gemeinsam christliche Völker zusammen; die Reise Kaiser Ottos III. ins neue polnische Bistum Gnesen im Jahre 999 setzt einen chronologischen Schlusspunkt.
Ausblicke in die Bauern- und Ritterkolonisation, die seit dem Hochmittelalter Schlesien, Pommern und Preußen deutsch werden ließ, bleiben knapp; unerwähnt bleibt die dramatische Revision dieses Prozesses 750 Jahre später am Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Heather ist entscheidend, dass der Ungarneinfall des 10. Jahrhunderts zu keiner größeren Folgewanderung mehr führte: sicherster Beweis, dass die neuen Bevölkerungs- und Wohlstandsverhältnisse sich konsolidiert hatten. Man integrierte die Ungarn ins bestehende Tableau, aber damit hatte es sich. Die türkischen Invasionen auf dem Balkan seit dem späten 14. Jahrhundert erwähnt Heather dann gar nicht mehr.
Trotzdem zeigt dieses wichtige, große Buch ein abgerundetes Bild: Es handelt im Kern von der Durchdringung des europäischen Raums zwischen Rhein, Donau und Ural mit hochentwickelter Wirtschaft, Kultur und Staatlichkeit. Heather beschreibt die ethnisch-migratorische Grundlage dieses Jahrtausendvorgangs, also handelt er von Wanderungs- und Raubzügen, von Siedlungsformen und Grabsitten, von archäologischen Spuren und fernen Historikernachrichten.
Das, was darauf folgte, die Christianisierung, der Anschluss an die Kulturzentren in Rom und Konstantinopel, die Erschließung durch die Weltorganisationen der Kirchen des Westens und des Ostens, vor allem auch der Mönchsorden, in Deutschland zum Beispiel erst durch den Umweg über Irland, viel später dann durch die Pariser Zentrale der Zisterzienser, erwähnt er mit keinem Wort. Das sollte man aber im Auge behalten, weil diese zweite Ebene ja ebenfalls schon im ersten Jahrtausend beginnt, auch wenn die innere Zivilisierung durch die kirchliche Schriftkultur dann zur Hauptaufgabe erst des hohen Mittelalters wurde.
Heather schreibt aber nicht nur die Geschichte eines fernen Jahrtausends. Er stellt zugleich die Menschheit als wandernde, von Fall zu Fall bis in die Gegenwart wanderungsbereite Spezies vor. Dass er den Bauernkriegerzug der Buren in Südafrika nach 1830 immer wieder als Gegenprobe heranzieht, ist nur eine seiner Pointen. Die bis heute fortwirkende Lehre aus den vielen frühmittelalterlichen Erfahrungen besteht in der Kraft der Wohlstandsunterschiede, die mehr oder weniger friedliche Völkerschaften unausweichlich in Bewegung setzen. Jeder aufmerksame Zeitgenosse kann hier Parallelen bilden und Schlüsse ziehen. Wann werden die Völkerwanderungen aufhören? Wenn überall gleiche Lebensverhältnisse herrschen. Dann wird aus Wanderung Verkehr geworden sein, ja eine Art Ende der Geschichte kommen. Denn dann besteht die Welt nur noch aus umzäunten Gärten und verteiltem Land.
GUSTAV SEIBT
PETER HEATHER: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 667 Seiten, 39,95 Euro.
Vorreiter machen sich vertraut
mit neuen Gebieten, ziehen
dann größere Massen nach
Jeder aufmerksame Zeitgenosse
kann hier Parallelen bilden und
Schlüsse ziehen
Aus dem Zeichentrickfilm „Asterix und die Wikinger“ (Astérix et les Vikings), Frankreich 2006 Foto: NG Collection/Interfoto
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Die Kraft der Wohlstandsunterschiede: Peter Heathers „Invasion der Barbaren“ entwirft ein großes Tableau von der wandernden Menschheit des ersten Jahrtausends
Es hat die Völkerwanderung gegeben: Manchmal muss die Geschichtswissenschaft zu überkommenen Erkenntnissen zurückkehren, sie dabei aber mit neuer Anschauung füllen. Das leistet der englische Historiker Peter Heather jetzt ein zweites Mal. 2005 hatte in seiner großen Erzählung vom Fall des Römischen Imperiums (sie erschien auf Deutsch 2007) die Bedeutung der Barbarenstürme für den Untergang Roms neu ans Licht gehoben, im Streit vor allem mit soziopolitischen Dekadenztheorien, die innere Zerfallsprozesse für entscheidend halten; nun setzt er das fort mit einer noch umfangreicheren Studie über „Empires and Barbarians“ (so der englische Titel), die die europäische Geschichte vom Hunneneinfall des vierten Jahrhunderts bis zum Jahr 1000 insgesamt in den Blick nimmt, vom Ende des weströmischen Reiches also bis zu dem Punkt, an dem mit der Gründung der slawischen Königreiche in Polen, Russland und Böhmen die Völkerfamilie des Kontinents sich geschlossen hatte. Heather nennt das die erste Europäische Union.
Diesen gewaltigen Prozess beschreibt Heather als Abfolge von „Migrationen“, mit einem heutigen Begriff, den wir mit Globalisierung und wirtschaftlichem Gefälle zwischen Reich und Arm in Verbindung bringen. Und genau darum geht es auch Heather, um die Erschließung eines großen Raums für gleiche Lebensverhältnisse, für Verkehr, Handel und Zivilisation. Er vollzog sich nicht allein, aber wesentlich in einer Kette von Völkerverschiebungen durchaus beträchtlichen Ausmaßes.
Heathers Buch ist dabei gleichzeitig epischer Bericht und sozialwissenschaftliche Typologie; es geht um die dramatischen Ereignisse der Barbareninvasionen in reiches, überlegenes Kulturland, aber auch um die oft ganz unterschiedlichen Formen dieser Wanderungs- und Eroberungsströme. Das Ineinander von Erzählung und Systematik macht die Lektüre streckenweise anspruchsvoll; der Leser ist gut beraten, ein konventionelles Handbuch für Fakten und Chronologie zur Hand zu haben, wenn er Heathers Darstellung ganz nutzen will.
Am Anfang steht das Wohlstandsgefälle zwischen Römern und Germanen an den Rhein- und Donaugrenzen des Reiches. Der Wohlstand lockt an und strahlt aus: Die Germanen profitieren von Handel und Reichtum, mit der Folge, dass sie sich selbst besser organisieren. Ihr Ackerbau wird erfolgreicher, er produziert Überschüsse, die Barbaren treiben nun Handel. Die Überschüsse erlauben die Ausrüstung militärischer Gefolgschaften, ja Ansätze von größerer Gruppenbildung. Ein „Germanien der zwei Geschwindigkeiten“ entsteht, eine Art von Assimilation an den Grenzen des Imperiums, von der auch die Römer profitieren, weil sie Gewinne machen und Germanen zur Verteidigung einstellen können. Diese friedlichen, in der Archäologie ablesbaren Prozesse ließen die älteren, kriegerischen Bilder von der Völkerwanderung letzthin etwas verblassen: Man sah Durchdringung und Austausch, nicht mehr die gewaltsamen nach außen geschlossenen „Billardkugeln“ ethnisch reiner Stämme, die vorherige Bewohner einfach verdrängen, gar mit Ausrottungen. Doch Heather stellt fest: Es gab die Invasionen, und zwar nicht nur in Gestalt kleinerer spezialisierter Kriegergruppen, die dann aufgesogen wurden, sondern als Völkerzüge, mit Kriegern, ihren Gefolgschaften, Freien und Sklaven, samt Frauen und Kindern. Also große Gruppen, in denen auf je einen bewaffneten Kämpfer mindestens fünf andere Personen kamen. Das setzte hohen Organisationsgrad, imperiale Wirtschaftsüberschüsse, übrigens auch das Straßennetz des Reiches voraus, auf dem man mit Wagen und Gepäck zügig vorankam.
Angestoßen aber wurden diese riesigen, sich über lange Jahre und Tausende Kilometer hinziehenden Völkerzüge mit oft mehreren Zigtausenden Goten, Vandalen, Sueben durch die aus Mittelasien vordringenden hunnischen Reiterscharen, die die Germanen teils unterwarfen, teils vor sich hertrieben. Das war die erste Phase der Wanderungen im späten vierten und im fünften Jahrhundert. Sie führte zum Zusammenbruch Westroms und zur Gründung germanischer Königreiche in Italien, Gallien, Spanien und Nordafrika, die durchaus ältere Strukturen weiterleben ließen, sich aber große Teile des Kuchens an Land und Leuten sicherten: Es kam zu einem Elitenaustausch, teilweise zu geschlossenen Neusiedlungen.
Kleinteiliger, dafür auch nachhaltiger verliefen die Prozesse im Nordwesten, auf den britischen Inseln und an der gallofränkischen Grenze, wo stetiger Zustrom von Bauern und Kriegern zu tiefgreifenden ethnischen Veränderungen führten: England wurde – von Friesland und Skandinavien aus – angelsächsisch, das westrheinische Gebiet bis weit nach Frankreich hinein germanisch-fränkisch, Grundlage des späteren merowingisch-karolingischen Reiches. Hier war die (auch sprachliche) Verdrängung der keltisch-römischen Vorbewohner besonders vollständig, es muss zu ganz neuen Siedlungsstrukturen und Landaufteilungen gekommen sein, vom römischen Großbetrieb, der Villa, hin zu protofeudalen Verhältnissen. Da Heather systematisch arbeitet, vergleicht er das auch mit der normannischen Invasion nach England von 1066, bei der es zu einem reinen Elitenaustausch auf der Grundlage der vorherigen Landaufteilung kam, wo also nur die Herren ausgewechselt wurden.
Das am ehemals römischen Rand entstandene Frankenreich durchdrang dann wiederum den Raum bis zur Elbe, das einst imperiale Vorland, und traf dabei auf die in der zweiten Jahrtausendhälfte den Germanen nachgefolgten slawischen Völkerschaften, die den Raum Ostmitteleuropas besetzt hatten. Auch diesen besonders stummen, in historischer Schriftüberlieferung kaum fassbaren Prozess slawischer Landnahme versteht Heather als Migration in einem „Schneeballsystem“, nicht als weiterschieben ethnischer Billardkugeln: Vorreiter machen sich vertraut mit neuen Gebieten, ziehen dann größere Massen nach, diese koexistieren aber auch mit verbliebenen Ureinwohnern. Hier hilft eine kleinteilige, seit 1990 auch von nationalistischen Vorurteilen bereinigte Archäologie stumme kollektive Prozesse zum Sprechen zu bringen.
Auch in dieser zweiten, osteuropäischen Phase des gesamteuropäischen Wanderungstableaus spielt das Wohlstandsgefälle die entscheidende Rolle. Slawen verlassen erschöpfte Böden und rücken an die Zentren der Zivilisation heran. Germanische Wikinger plündern seit dem achten Jahrhundert an allen Küsten von England bis Italien; Raub und Handel, also Bernstein, Pelze und Sklaven finden ihre weiten Wege von der Ostsee bis nach Byzanz und zu den arabischen Kalifen, die phantastische Geldsummen hoch zur Wolga und in die baltischen Gebiete schicken. Missionare und Mönche folgen nach. Der neue Raub- und Handelsreichtum stößt auch hier erste Staatsbildungen in gewaltigen Burg- und Kirchenbauten an.
An Elbe und Oder treffen dann um 1000 germanische und slawische, aber nun schon gemeinsam christliche Völker zusammen; die Reise Kaiser Ottos III. ins neue polnische Bistum Gnesen im Jahre 999 setzt einen chronologischen Schlusspunkt.
Ausblicke in die Bauern- und Ritterkolonisation, die seit dem Hochmittelalter Schlesien, Pommern und Preußen deutsch werden ließ, bleiben knapp; unerwähnt bleibt die dramatische Revision dieses Prozesses 750 Jahre später am Ende des Zweiten Weltkrieges. Für Heather ist entscheidend, dass der Ungarneinfall des 10. Jahrhunderts zu keiner größeren Folgewanderung mehr führte: sicherster Beweis, dass die neuen Bevölkerungs- und Wohlstandsverhältnisse sich konsolidiert hatten. Man integrierte die Ungarn ins bestehende Tableau, aber damit hatte es sich. Die türkischen Invasionen auf dem Balkan seit dem späten 14. Jahrhundert erwähnt Heather dann gar nicht mehr.
Trotzdem zeigt dieses wichtige, große Buch ein abgerundetes Bild: Es handelt im Kern von der Durchdringung des europäischen Raums zwischen Rhein, Donau und Ural mit hochentwickelter Wirtschaft, Kultur und Staatlichkeit. Heather beschreibt die ethnisch-migratorische Grundlage dieses Jahrtausendvorgangs, also handelt er von Wanderungs- und Raubzügen, von Siedlungsformen und Grabsitten, von archäologischen Spuren und fernen Historikernachrichten.
Das, was darauf folgte, die Christianisierung, der Anschluss an die Kulturzentren in Rom und Konstantinopel, die Erschließung durch die Weltorganisationen der Kirchen des Westens und des Ostens, vor allem auch der Mönchsorden, in Deutschland zum Beispiel erst durch den Umweg über Irland, viel später dann durch die Pariser Zentrale der Zisterzienser, erwähnt er mit keinem Wort. Das sollte man aber im Auge behalten, weil diese zweite Ebene ja ebenfalls schon im ersten Jahrtausend beginnt, auch wenn die innere Zivilisierung durch die kirchliche Schriftkultur dann zur Hauptaufgabe erst des hohen Mittelalters wurde.
Heather schreibt aber nicht nur die Geschichte eines fernen Jahrtausends. Er stellt zugleich die Menschheit als wandernde, von Fall zu Fall bis in die Gegenwart wanderungsbereite Spezies vor. Dass er den Bauernkriegerzug der Buren in Südafrika nach 1830 immer wieder als Gegenprobe heranzieht, ist nur eine seiner Pointen. Die bis heute fortwirkende Lehre aus den vielen frühmittelalterlichen Erfahrungen besteht in der Kraft der Wohlstandsunterschiede, die mehr oder weniger friedliche Völkerschaften unausweichlich in Bewegung setzen. Jeder aufmerksame Zeitgenosse kann hier Parallelen bilden und Schlüsse ziehen. Wann werden die Völkerwanderungen aufhören? Wenn überall gleiche Lebensverhältnisse herrschen. Dann wird aus Wanderung Verkehr geworden sein, ja eine Art Ende der Geschichte kommen. Denn dann besteht die Welt nur noch aus umzäunten Gärten und verteiltem Land.
GUSTAV SEIBT
PETER HEATHER: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus. Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 667 Seiten, 39,95 Euro.
Vorreiter machen sich vertraut
mit neuen Gebieten, ziehen
dann größere Massen nach
Jeder aufmerksame Zeitgenosse
kann hier Parallelen bilden und
Schlüsse ziehen
Aus dem Zeichentrickfilm „Asterix und die Wikinger“ (Astérix et les Vikings), Frankreich 2006 Foto: NG Collection/Interfoto
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wer glaubt, die Völker des mittleren Europa im ersten Jahrtausend nach Christus seien friedlich durch die Gegend gewandert, der täuscht sich. Sehr wohl ging es kriegerisch zu, das weist der Historiker Peter Heather für Andreas Kilbs Begriffe in diesem Band schlüssig nach. Am Rand des römischen Weltreichs hatten zunächst wenig beachtete Gruppen von "barbarischen" Stämmen sich militärisch prächtig entwickelt und zogen, die Goten voran, auf Plünderungszügen durch Europa, auf der Suche nach "Metall, Vieh, urbanem Land". Nicht weniger kriegerisch, so die unter Historiker derzeit unorthodoxe These, trug sich auch die sogenannte "Slawenexpansion" zu. Nicht zuletzt Heathers zentrale Stoßrichtung gegen die "Ethnogenese"-Theorie, die von kulturellen Traditionen als zentralen Motoren der "Volkwerdung" ausgeht, kann den Rezensenten vollends von der Plausibilität des Buches überzeugen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Die Migrations- und Integrationsdebatte mal anders: Der britische Historiker Peter Heather analysiert hier, wie die spätantike Völkerwanderung Gesicht und Identität des modernen Europa formte... Migration entsteht durch Wohlstands- und Entwicklungsgefälle. Sie verändert gewohnte Strukturen, lenkt Entwicklungen in neue Bahnen und bringt imperiale Macht zu Fall." P.M. History, 3/2011
»... ein grosser Wurf, ein epochemachender Beitrag zum Verständnis der Verwandlung Europas im ersten Jahrtausend. Heather verbindet theoretische Reflexion und epische Darstellung. Und seine Wiederentdeckung des homo migrans in der Historiografie der Spätantike ist von evidenter Aktualität.« Stefan Rebenich, Neue Zürcher Zeitung, 26.10.2011 Stefan Rebenich Neue Zürcher Zeitung 20111026