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Sie kamen nicht als Freunde: Peter Heather erzählt die Geschichte der Völkerwanderung als Panorama von Raubzügen und wechselnden Identitäten.
Von Andreas Kilb
Im Jahr 448 nach Christus trifft der griechische Geschichtsschreiber Priskos auf einer Gesandtschaftsreise ins Feldlager des Hunnenkönigs Attila einen Mann, der ihn auf Griechisch anspricht, obwohl er wie ein Steppenkrieger gekleidet ist. Nach seiner Herkunft gefragt, erklärt der Fremde, er sei als römischer Kaufmann beim Untergang der Donaufestung Viminacium in die Hände der Hunnen gefallen und habe seinen gesamten Besitz verloren. Später, nachdem er sich auf hunnischer Seite im Kampf gegen Oströmer und feindliche Reitervölker ausgezeichnet habe, sei ihm von seinem neuen Herrn, einem Gefolgsmann Attilas, die Freiheit geschenkt worden. Daraufhin habe er mit einer Barbarenfrau eine Familie gegründet und genieße nun sein zweites Leben als Wahlhunne.
Mit dieser Anekdote illustriert Peter Heather eine zentrale These seines Buches über die "Invasion der Barbaren". Das erste Jahrtausend nach Christus, wie es Heather schildert, war eine Epoche geschichtlicher Umwälzungen, durch die sich immer neue Groß- und Kleinreiche in die politische Landkarte Europas einschrieben - Umwälzungen, die vor allem von Massenmigrationen ausgelöst wurden. Aber diese Migrationen waren keine "Völkerwanderungen", weil die Gruppen, die an ihnen teilnahmen, keine Völker im traditionellen Sinn, sondern Zweckgemeinschaften darstellten. Nicht jeder, der sich ihnen anschloss, konnte seine Identität so frei wählen wie der Römer aus Viminacium im heutigen Serbien, der sich als Hunne neu erfand. Heather berichtet jedoch auch von einem gotischen Grundbesitzer, der in dem zwanzigjährigen Ringen zwischen Ostgoten und Römern um die Vorherrschaft in Italien mehrmals die Seiten wechselte, um sein Eigentum vor der Kriegsfurie zu bewahren. Schon den germanischen Urvätern, die das neunzehnte Jahrhundert als Freiheitskämpfer mit Flügelhelm und Adlerblick verherrlichte, war das ökonomische Hemd also näher als die nationalgotische Hose.
"Invasion der Barbaren" ist die Fortsetzung der epischen Studie zum "Untergang des Römischen Weltreichs", die Heather vor sechs Jahren veröffentlicht hat (die deutsche Übersetzung erschien 2007). Polemisierte er darin mit guten Gründen gegen eine neuere, soziologisch geprägte Richtung in der Geschichtswissenschaft, die das Ende der Antike als Ergebnis mehr oder minder friedlicher Transformationsprozesse versteht, so hat er nun jene Kollegen im Visier, deren Bild von Migrationen im Frühmittelalter sich vor allem aus gewaltlos vordringenden Kleingruppen ("wave of advance") und wandernden kulturellen Oberschichten ("Elitetransfer") zusammensetzt. Die Geschichte, die Heather in seinem neuen Buch erzählt, ist eine andere, sie handelt von Kriegerverbänden, die sich, von Frauen und Kindern begleitet, gegen den Widerstand Alteingesessener neue Lebensräume erstreiten, von Neusiedlern, die die Parzellen vertriebener Grundbesitzer unter sich aufteilen, und Räuberhorden, die sich mit dem in Klöstern und Städten geplünderten Gut als Wehrbauern zur Ruhe setzen. Es ist keine heroische oder idyllische Geschichte, aber sie hat den Vorzug, dass sie mit den archäologischen Befunden übereinstimmt, auch wenn manche Ausgräber sich bis heute weigern, das Wort "Migration" in ihren Berichten zu verwenden.
Die ersten unter den Völkerschaften, die sich im ersten nachchristlichen Millennium massenhaft auf die Socken machten, waren die Goten. Angelockt vom römischen Gold, das auf den Routen des Bernsteinhandels zu ihnen kam, verlegten sie im Lauf des dritten Jahrhunderts ihren Aktionsraum vom Oder-Weichsel-Gebiet ans Schwarze Meer. Dabei folgten sie, wie Heather zeigt, einer historischen Gesetzmäßigkeit: Zivilisatorisch fortgeschrittene Reiche erzeugen an ihren Rändern stets eine Barbarenklientel, die ihnen mit steigendem politischen Organisationsgrad militärisch ebenbürtig wird. Als die Goten im Jahr 376 an die Pforten des Römischen Reichs pochten, hatten sie schon Stammesbünde gebildet, denen das Heer des Kaisers Valens bei Adrianopel unterlag; als sie zwanzig Jahre später in Hellas und dann in Italien einfielen, besaßen sie mit Alarich nur noch einen einzigen König. Aber erst nachdem sie sich mit Zustimmung der Römer im aquitanischen Gallien niedergelassen hatten, wurden sie zu "Westgoten" - im Unterschied zu den Ostgoten, die unter hunnischer Kontrolle im Karpathenbecken siedelten, ehe sie sich losrissen und unter Theoderich im Imperium Romanum ihr Glück suchten.
Heather erhellt das Drama der Völkerwanderungszeit weniger durch komplizierte Theorien als mit schlichter menschlicher Logik. Die Goten und ihre Nachfolger - Wandalen, Sueben und Alanen, die an Silvester 406 bei Mainz den Rhein überquerten, Angeln und Sachsen, die seit etwa 410 den Osten Englands in Besitz nahmen, und die Langobarden, die 568 Italien überrannten - mussten ihre Züge nach Maßgabe des zu erwartenden Widerstands planen. Deshalb kamen sie, solange das römische Heer noch einsatzfähig war, zu Zehntausenden, während sie dort, wo die Legionen bereits abgezogen waren, nur mit Hundertschaften antreten mussten. Die freien Krieger aber, die den Kern der germanischen Aufgebote stellten, konnten ihre Familien nicht schutzlos zurücklassen. So wurde der Heerzug zur Migration ohne Wiederkehr.
Dass die Germanen ebenso wie später Slawen und Wikinger oft mehrere Generationen lang migrierten, erklärt Heather mit einer These aus der Verhaltenspsychologie: Das Wandern lag ihnen im Blut. Es ist die einzige Stelle, an der seine Argumentation unplausibel wird. Migration ist nicht habituell, sondern zweckbestimmt, sie hört auf, wenn sie ihr Ziel erreicht hat. Die Westgoten kamen in Spanien zur Ruhe, die Slawen an der Elbe und auf der Peloponnes. Der Wanderungsdruck im Kessel Europa hatte nachgelassen, nicht weil die Gene, sondern weil die ökonomischen Ressourcen, Metall, Vieh, urbares Land, neu verteilt worden waren.
Bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein stand die Geschichtswissenschaft in vielen Ländern im Dienst nationalstaatlicher Vorstellungen. Die schwerste ideologische Last hatte dabei die Slawistik zu tragen: In Polen musste sie den polnischen, in Russland den russischen, in Rumänien den rumänischen Ursprung der Slawenvölker beweisen. Heather, der aufgrund der archäologischen Befunde der polnischen Variante zuneigt, räumt vor allem mit dem Märchen von der friedlichen, von hierarchiefreien Gemeinschaften getragenen Slawenexpansion auf.
In Griechenland traten die slawischen Einwanderer als Belagerer und Eroberer auf, im Baltikum hatte ihr Vordringen kolonisatorische Züge. Die polnischen Piasten und böhmischen Przemysliden, die im zehnten Jahrhundert ihre Vorherrschaft mit Feuer und Schwert gegen konkurrierende Adelssippen durchsetzten, machten ihre Hauptstädte zu Zentren des Sklavenhandels. Dessen Humanware erbeuteten sie bei den Slawenstämmen in den Ebenen zwischen Weichsel und Dnjepr, wo sie gelegentlich auf Jagdgesellschaften der Rus-Wikinger aus Kiew und Nowgorod trafen, die es auf das gleiche Wild abgesehen hatten. So ging auch hier das ökonomische Interesse dem nationalen voraus. Die Staatenbildung, aus der das mittelalterliche Europa erwuchs, diente zuallererst der Sicherung von Handelsrouten, Einflusssphären und Gewinnspannen.
In Deutschland wird der Blick auf die Spätantike nach wie vor durch das Ethnogenese-Modell von Reinhard Wenskus und Herwig Wolfram bestimmt, das kulturellen "Traditionskernen" eine Schlüsselrolle bei der Volkwerdung zuweist. Bei Peter Heather erfährt man nun, dass diese Traditionskerne alles andere als unwandelbar waren. Die eigentliche Gruppenidentität der Wanderverbände entstand nicht durch gemeinsame Lieder und Haartrachten, sondern, wie bei Vandalen und Alanen in Spanien, im Widerstand gegen die Römer, sie härtete aus durch Gegendruck wie Kristall im losen Gestein.
Der Erkenntnisvorteil dieses mechanistischen Weltbilds liegt darin, dass es gegen die traditionelle Abwertung des "Barbarischen" durch die Historiographie weitgehend immun ist. Kulturelle Identität ist, wie man aus der Erzählung des Priskos lernt, kein blindes Schicksal, sondern eine Frage von Wahl und Zuschreibung. Der Römer kann zum Hunnen, der Hunne im Idealfall gar zum Römer werden. Die Frage ist nur, ob man ihn lässt.
Peter Heather: "Invasion der Barbaren". Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus.
Aus dem Englischen Von Bernhard Jendricke, Rita Seuß und Thomas Wollermann. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 683 S., geb., 39,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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