In der Direktion der Staatssicherheit wird ein Manuskript gefunden, das ein Gefangener in einer Art Geheimschrift verfasst hat. Ein Parteigenosse erhält den Auftrag, den verdächtigen Text lesbar zu machen. Sein Urheber ist Furât, Anglistikstudent und angehender Schriftsteller. Lange hatte er gezögert, bevor er die weißen Blätter zu füllen begann, die ihm ein Mitinsasse heimlich zugesteckt hatte. Ein gefährliches Unterfangen. Das Land befindet sich im Krieg, das totalitäre Regime duldet keinerlei Abweichung. In faszinierendem Wechsel zwischen Erinnerung und Gegenwart, Reflexion, Angst- und Wunschträumen schildert Furât das Leben der Studenten mit seinen abstrusen Verordnungen und Verboten, den aufgezwungenen Massenveranstaltungen, aber auch die glücklichen Momente mit seiner Geliebten Arîdsch und seiner Großmutter – zwei nicht konformen Frauen, die ganz entscheidend zu seinem Durchhalten beitragen. Schreiben als Widerstand: Mit der "Irakischen Rhapsodie" ist Sinan Antoon ein eindrucksvolles, poetisches Debüt gelungen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2010Der große Bruder von Bagdad
Mancherorts kann Literatur lebensgefährlich sein: Sinan Antoons "Irakische Rhapsodie"
Besser, er hätte den Text nie geschrieben. Dann wäre ihm alles erspart geblieben: die Stunden in der Zelle, die Verhöre und vor allem die Vergewaltigungen. Doch nun ist es zu spät, der Text ist in der Welt, und dafür lässt das Regime ihn zahlen. Er ist einer von Tausenden Namenlosen in den Katakomben des "Gröfaz", wie der Gefangene den irakischen Herrscher nennt - ebenjenen, der im Winter 2006, knapp drei Jahre nach der amerikanischen Invasion in den Irak, ein unrühmliches Ende am Galgen fand.
Aber dieses Ende hat man sich Mitte der achtziger Jahre, in denen die "Irakische Rhapsodie" spielt, nicht vorstellen können. Der Diktator findet sich im Machtrausch, knechtet sein Volk und hat ihm mit dem Krieg gegen Iran eine der blutigsten Schlachten seiner Geschichte aufgebürdet. Die Propaganda verkündet die Triumphe der irakischen Armee. Aber gleichzeitig rollen von der Front die Lastwagen mit den Toten zurück, was die Propaganda zwar verschweigt, aber nicht geheim halten kann. Kein Wunder, dass die Bevölkerung die Parolen mit zynischem Gleichmut vernimmt und sich an den Massenkundgebungen nur so weit beteiligt, wie es Selbstschutz und Furcht vor der Staatssicherheit gebieten.
Dem 1967 in Bagdad geborenen Schriftsteller Sinan Antoon ist mit seiner "Irakischen Rhapsodie" ein kunstvoll nüchternes, von Wogen schwarzen Humors durchzogenes Porträt seines Heimatlandes zur Zeit des ersten Golfkriegs gelungen. Statt "Heimat-" sollte man besser "Geburtsland" sagen, denn zur Heimat ist ihm der Irak nie geworden: Der Sohn einer amerikanischen Mutter verließ das Land, sobald er nur konnte. Seit 1991 lebt Antoon in Amerika. Damit ist ihm ein ungleich glücklicheres Schicksal beschieden als seiner Hauptfigur, dem Anglistikstudenten Furât, den Beamte eines Tages aus der Universität holen und ins Gefängnis stecken. Warum? Furât selbst kann es nur ahnen: wohl wegen einer im falschen Moment geäußerten Bekundung politischer Unbotmäßigkeit. Aber welche und wann? Furât weiß es nicht, und vielleicht wissen es auch die nicht, die ihn verhören. Ihnen reicht der Verdacht, es mit einem dem System nicht gewogenen Bürger zu tun zu haben - einem von so vielen, die es nicht mehr ertragen, Tag für Tag die dumpfen Slogans der politischen Propaganda anhören zu müssen.
Sinan Antoons pflegt einen nüchternen, zynischen Stil. So lächerlich die Anmaßungen der absoluten Herrschaft auch sind, so wenig lässt sich ihren Zumutungen doch entrinnen. Poesie, Romantik, sensible Empfindungen, für all das bleibt angesichts der Wirklichkeit kein Raum. Ein Künstler in einer Welt, die Künste nicht zulässt, oder wenn, dann nur die systemkonformen. Wie haben in solchen Situationen die Literaten anderer Länder reagiert? Furât will Antworten in George Orwells "1984" suchen, doch die irakische Zensur hat das Buch auf den Index gesetzt. Dennoch will er seine Abschlussarbeit darüber schreiben und bittet seinen Professor um eine Sondererlaubnis. Doch der hält wenig von dem Projekt: "Wer ist überhaupt dieser Orwell? Ich habe noch nie von ihm gehört."
Trocken und mit Sinn fürs Detail beschreibt Antoon eine Gesellschaft, die sich um ihres eigenen Überlebens willen dazu entschlossen hat, Scheuklappen anzulegen. Auswege bleiben nicht, nicht einmal in der Literatur: In seiner Zelle beginnt Furât heimlich seine Geschichte zu notieren, ein mehr als riskantes Unterfangen. Er schreibt um der inneren Freiheit willen - und nimmt sich so die äußere. Seine Aufzeichnungen werden entdeckt, das Innenministerium ordnet eine Reinschrift an - genau jenes Buch, das der Leser in den Händen hält. Antoon lässt es zwar offen, aber für Furât kann die Entdeckung kaum anders als in der Katastrophe enden. Denn wenn seine Häscher zunächst nicht wussten, warum sie ihn verhafteten - jetzt wissen sie es.
KERSTEN KNIPP
Sinan Antoon: "Irakische Rhapsodie". Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich in Zusammenarbeit mit Jinan Fierz. Lenos Verlag, Basel 2009. 133 S., geb., 17,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mancherorts kann Literatur lebensgefährlich sein: Sinan Antoons "Irakische Rhapsodie"
Besser, er hätte den Text nie geschrieben. Dann wäre ihm alles erspart geblieben: die Stunden in der Zelle, die Verhöre und vor allem die Vergewaltigungen. Doch nun ist es zu spät, der Text ist in der Welt, und dafür lässt das Regime ihn zahlen. Er ist einer von Tausenden Namenlosen in den Katakomben des "Gröfaz", wie der Gefangene den irakischen Herrscher nennt - ebenjenen, der im Winter 2006, knapp drei Jahre nach der amerikanischen Invasion in den Irak, ein unrühmliches Ende am Galgen fand.
Aber dieses Ende hat man sich Mitte der achtziger Jahre, in denen die "Irakische Rhapsodie" spielt, nicht vorstellen können. Der Diktator findet sich im Machtrausch, knechtet sein Volk und hat ihm mit dem Krieg gegen Iran eine der blutigsten Schlachten seiner Geschichte aufgebürdet. Die Propaganda verkündet die Triumphe der irakischen Armee. Aber gleichzeitig rollen von der Front die Lastwagen mit den Toten zurück, was die Propaganda zwar verschweigt, aber nicht geheim halten kann. Kein Wunder, dass die Bevölkerung die Parolen mit zynischem Gleichmut vernimmt und sich an den Massenkundgebungen nur so weit beteiligt, wie es Selbstschutz und Furcht vor der Staatssicherheit gebieten.
Dem 1967 in Bagdad geborenen Schriftsteller Sinan Antoon ist mit seiner "Irakischen Rhapsodie" ein kunstvoll nüchternes, von Wogen schwarzen Humors durchzogenes Porträt seines Heimatlandes zur Zeit des ersten Golfkriegs gelungen. Statt "Heimat-" sollte man besser "Geburtsland" sagen, denn zur Heimat ist ihm der Irak nie geworden: Der Sohn einer amerikanischen Mutter verließ das Land, sobald er nur konnte. Seit 1991 lebt Antoon in Amerika. Damit ist ihm ein ungleich glücklicheres Schicksal beschieden als seiner Hauptfigur, dem Anglistikstudenten Furât, den Beamte eines Tages aus der Universität holen und ins Gefängnis stecken. Warum? Furât selbst kann es nur ahnen: wohl wegen einer im falschen Moment geäußerten Bekundung politischer Unbotmäßigkeit. Aber welche und wann? Furât weiß es nicht, und vielleicht wissen es auch die nicht, die ihn verhören. Ihnen reicht der Verdacht, es mit einem dem System nicht gewogenen Bürger zu tun zu haben - einem von so vielen, die es nicht mehr ertragen, Tag für Tag die dumpfen Slogans der politischen Propaganda anhören zu müssen.
Sinan Antoons pflegt einen nüchternen, zynischen Stil. So lächerlich die Anmaßungen der absoluten Herrschaft auch sind, so wenig lässt sich ihren Zumutungen doch entrinnen. Poesie, Romantik, sensible Empfindungen, für all das bleibt angesichts der Wirklichkeit kein Raum. Ein Künstler in einer Welt, die Künste nicht zulässt, oder wenn, dann nur die systemkonformen. Wie haben in solchen Situationen die Literaten anderer Länder reagiert? Furât will Antworten in George Orwells "1984" suchen, doch die irakische Zensur hat das Buch auf den Index gesetzt. Dennoch will er seine Abschlussarbeit darüber schreiben und bittet seinen Professor um eine Sondererlaubnis. Doch der hält wenig von dem Projekt: "Wer ist überhaupt dieser Orwell? Ich habe noch nie von ihm gehört."
Trocken und mit Sinn fürs Detail beschreibt Antoon eine Gesellschaft, die sich um ihres eigenen Überlebens willen dazu entschlossen hat, Scheuklappen anzulegen. Auswege bleiben nicht, nicht einmal in der Literatur: In seiner Zelle beginnt Furât heimlich seine Geschichte zu notieren, ein mehr als riskantes Unterfangen. Er schreibt um der inneren Freiheit willen - und nimmt sich so die äußere. Seine Aufzeichnungen werden entdeckt, das Innenministerium ordnet eine Reinschrift an - genau jenes Buch, das der Leser in den Händen hält. Antoon lässt es zwar offen, aber für Furât kann die Entdeckung kaum anders als in der Katastrophe enden. Denn wenn seine Häscher zunächst nicht wussten, warum sie ihn verhafteten - jetzt wissen sie es.
KERSTEN KNIPP
Sinan Antoon: "Irakische Rhapsodie". Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich in Zusammenarbeit mit Jinan Fierz. Lenos Verlag, Basel 2009. 133 S., geb., 17,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Höchst interessiert hat Rezensentin Angela Schader diesen Roman des 1967 geborenen Exilirakers gelesen, der die Geschichte eines irakischen Anglistikstudenten erzählt, der unter Saddam Hussein von einem Tag auf den anderen in Haft der Staatssicherheit gerät, wo er immer wieder vergewaltigt wird. Als Qualität des Romans empfindet die Rezensentin, dass Sinan Antoon dennoch die physische Brutalität des Regimes, abgesehen von einer Vergewaltigungsszene, praktisch ausgeblendet, und stattdessen "die psychischen Deformationen", die das irakische Volk unter dem Regime Saddams erlitten habe, mit "bitterem Witz und in erinnerungswürdigen Szenen" beschwört. Antoon wechsele dabei geschickt von der Hoch- in die Umgangssprache, was von der Überrsetzung ebenso geschickt ins Deutsche transportiert werde.
© Perlentaucher Medien GmbH
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