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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Katajun Amirpur erklärt, wie Iran das am meisten säkularisierte Land des Nahen und Mittleren Ostens wurde
Bei dem Titel mögen sich manche verwundert die Augen reiben: "Iran ohne Islam". Ist nicht das Gegenteil der Fall? Schließlich heißt der Staat, der 1979 aus einer Revolution hervorgegangen ist, "Islamische Republik Iran". Schließlich beschränken seither die Machthaber im Namen des Islams Freiheiten und Menschenrechte, begründen mit dem Islam die Diskriminierung der Frauen, verbieten Freizeitspaß wie Tanzen, Musik und selbst das Lachen als unislamisch.
Und doch: Wer regelmäßig nach Iran reist, sieht selbst, wie leer die Moscheen sind. Wer mit den Menschen redet, stellt fest, wie viele sich völlig vom Islam abgewandt haben. Vergleicht man Iran mit seinen muslimischen Nachbarn, erkennt man auch ohne empirische Studien, dass die Islamische Republik die am meisten säkularisierte Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten hervorgebracht hat.
In Iran schließt sich ein Bogen. 1979 war es das erste Land, in dem sich der politische Islam gegen eine säkulare (und despotische) Ordnung durchgesetzt hatte. Über vierzig Jahre danach sei Iran aber postislamistisch, schreibt die Kölner Islamwissenschaftlerin und Iranistin Katajun Amirpur. Wenn die Wirklichkeit in der Republik - die menschenverachtende Politik und blutige Repression, die Korruption und Zensur, die fehlenden Freiheiten und die Genderapartheid -, wenn das der reine Islam sein soll, dann wollten die Menschen lieber keinen Islam.
Anlass des Buches, das sich an eine breite Leserschaft richtet, sind die Proteste, die am 16. September 2022 mit dem Tod der jungen Frau Mahsa Jina Amini begonnen haben. Stellenweise merkt man, dass es mit schneller Feder geschrieben wurde. Die Autorin, die zuletzt eine lesenswerte Biographie von Revolutionsführer Ayatollah Khomeini vorgelegt hat, leistet indes mehr, als nur die Proteste einzuordnen.
Sie zeichnet nach, wann und wie die Menschen begonnen haben, sich von der Islamischen Republik und dem Islam abzuwenden, und sie beschreibt, wie sich dieser Prozess über die Jahrzehnte entwickelt und beschleunigt hat. Das Buch lebt von den Gesprächen, die die Autorin über viele Jahre mit den Akteuren in Iran geführt hat, von ihren Beobachtungen des iranischen Alltags sowie von ihrer umfassenden Kenntnis des politischen Systems und der Diskurse in Iran.
Amirpur beschreibt, wie Revolutionsführer Khomeini selbst die moralische Demontage der Islamischen Republik eingeleitet hat, indem er alles für erlaubt erklärte, was dem Machterhalt dient. Damit habe der Islam auch seinen moralischen Kompass verloren. Anhand von beispielhaften Akteuren zeichnet sie nach, wie die Ablehnung der islamisch legitimierten Herrschaft immer breitere Kreise erfasst und auch vor dem schiitischen Klerus und islamischen Intellektuellen nicht Halt gemacht hat.
So hielt Abdolkarim Soroush Revolutionsführer Khomeini entgegen, dass der Mensch Rechte gegenüber dem Staat habe. Ayatollah Ali Montazeri stellte Khomeinis Führungsanspruch infrage, forderte von ihm einen Gesellschaftsvertrag mit der Bevölkerung. Ayatollah Youssef Sanei forderte die Trennung von Religion und Staat ebenso wie die Beseitigung diskriminierender Bestimmungen, etwa gegenüber Frauen. Die Zeitschrift "Kiyan" wurde die wichtigste Plattform für Debatten über Islam und Moderne, daher verboten die Machthaber sie.
Zu Wort kommen islamische Feministinnen, die, mit Unterbrechungen, von 1992 bis zum endgültigen Verbot 2015, die Zeitschrift "Zanan" herausgegeben haben und weiter mit säkularen Feministinnen zusammenarbeiten. Bekannter sind im Westen säkulare Reformer, Menschenrechtler und Dissidenten wie Akbar Gandschi, Said Hajjarian und die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi, die von innen den beschwerlichen Kampf gegen die ungerechte Ordnung aufgenommen haben.
Aufschlussreich sind die Passagen, in denen die Autorin nachzeichnet, wie stark Irans junge Bevölkerung moderne westliche Philosophen rezipiert und deren Schriften, die zu einem großen Teil auf Persisch vorliegen, geradezu aufsaugt. Ältere Iraner lasen noch Kant und Hegel. Heute werden die Schriften von Karl Popper, Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas gelesen. Der Liberalismus - damit gemeint sind "der Kampf für Menschenrechte, Freiheitsrechte, speziell für Frauenrechte, Pluralismus, religiöse Toleranz" - sei heute die populärste Denkschule, schreibt Amirpur.
Je weiter sich die Iraner vom Islam entfernen, desto wichtiger wird der Bezug zur vorislamischen Kultur Irans. Bereits acht Prozent der Bevölkerung sollen sich wieder zum Zoroastrismus bekennen oder mit ihm sympathisieren. Denn der Islam gilt ihnen als Religion der Araber. Daher sehe die Jugend die Palästinenser auch nicht als islamische Brüder und Schwestern.
Vor diesem Hintergrund zeichnet Amirpur die Proteste gegen die Islamische Republik in den vergangenen zwei Jahrzehnten nach. Protestbewegungen könnten mit Polizeigewalt aus der Welt verjagt werden, schreibt sie. "Ihre Ideen leben jedoch weiter und warten nur auf die nächste Gelegenheit, um aufs Neue artikuliert zu werden." Die bietet sich am 16. September, dem ersten Jahrestag des Todes von Mina Jina Amini. Dann wird sich zeigen, wie sehr unter der Asche weiter das Feuer brennt.
Auch wenn Amirpur die Hoffnung hegt, dass der revolutionäre Prozess bald in eine Revolution mündet, mahnt sie zu Geduld. Sie zitiert den Regisseur Beyzai, demzufolge das iranische Volk "einige Jahrzehnte" benötige, um sich von einer Revolution zu erholen. Hart geht sie mit der US-Politik gegenüber Iran ins Gericht. Die habe, ausgenommen unter Präsident Barack Obama, stets den Hardlinern in die Hände gespielt. Zunächst indem sie die ausgestreckte Hand von Reformpräsident Mohammad Khatami ignoriert habe, dann unter Präsident Donald Trump, der die dominierende Rolle der waffenstrotzenden Revolutionswächter, der tragenden Säule der Republik, weiter gestärkt habe.
Als zynisch beschreibt sie das Kalkül, darauf zu warten, dass sich eine durch Sanktionen verarmte Bevölkerung erheben werde. Eine Absage erteilt sie der Forderung, einen Regimewechsel von außen zu erzwingen. Noch immer hielten die meisten Iraner ein zentrales Postulat der Revolution von 1979 für richtig: Unabhängig von ausländischen Mächten zu sein und selbstbestimmt zu handeln. RAINER HERMANN
Katajun Amirpur: Iran ohne Islam. Der Aufstand gegen den Gottesstaat.
Verlag C.H. Beck, München, 2023. 240 S., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rainer Hermann
"Die Autorin stellt fest, was zumindest jene überraschen dürfte, die Iran nicht aus eigener Anschauung kennen: nämlich dass der 'Mullah-Staat' in den vergangenen Jahrzehnten zu einer postislamischen Gesellschaft geworden sei ... erhellende Analyse der Ursprünge der Proteste."
Süddeutsche Zeitung, René Wildangel
"Die renommierte Islamwissenschaftlerin beschreibt, wie es durch die Entwicklung der letzten Jahrzehnte im Iran zu den Protesten gegen die Herrschaft der Mullahs kommen konnte."
ZDF Forum am Freitag, Abdul-Ahmad Rashid
"Geht der Frage nach, wie es zu dieser Abkehr (von der Islamischen Republik) gekommen ist, die auch die Religion mit einschließt."
Deutschlandfunk Kultur, Ulrike Timm
"Katajun Amirpur zeigt auf, dass trotz aller Rückschläge in den vielen Jahren der aktuelle Protest der Iranerinnen und Iraner jetzt endlich Erfolg haben könnte."
NDR Kultur, Bita Schafi-Neya
"Katajun Amirpurs überraschendes Buch macht dagegen eindrucksvoll deutlich, warum diejenigen unter den Iranerinnen, die diese Revolution mehrheitlich tragen, trotz aller Opfer endlich Erfolg haben könnten."
Die Tagespresse, Sebastian Sigler
"Eine Herleitung, wie es zu den anhaltenden Protesten der vergangenen Monate kommen konnte."
NDR Kultur, Julia Westlake
"Beleuchtet überaus differenziert und nachvollziehbar die gesellschaftlichen Widersprüche im Vielvölkerstaat Iran."
Abendzeitung, Volker Isfort
"Zeigt, dass der Iran sich Stück für Stück auf den heutigen Punkt in der Geschichte zubewegt hat."
Handelsblatt, Anja Holtschneider
"Ein aufschlussreiches Buch, detailliert und kenntnisreich geschrieben. Es hilft, die Entwicklungen im Iran besser zu verstehen."
DLF Kultur, Ina Rottscheidt
"Ein genauer Blick hinter die bröckelnde Fassade des Iran"
Kleine Zeitung
"Lesenswertes Buch."
Das Parlament, Aschot Manutscharjan
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