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Barthold Heinrich Brockes spielt mit Literatur und Wissen
Naturwissenschaften und Mathematik sind keine fremden Themen in der Gegenwartslyrik, Enzensberger, Grünbein und Schrott zählen zu ihren besten poetischen Anwälten. Als Mittler zwischen den zwei Kulturen ist ihnen ein starkes Interesse der aufblühenden Forschung zur Wissenspoetik sicher. Die ältere Tradition der naturkundlichen Lehrdichtung hingegen gilt oft als altbacken, das neueste Handbuch zu "Literatur und Wissen" würdigt diese Gattung nicht einmal eines eigenen systematischen Eintrags. Das ist erstaunlich, berühren sich doch Dichtung und experimentelle Wissenschaft gerade hier am stärksten.
Schon Goethe sprach in seinem Aufsatz "Über das Lehrgedicht" ein Machtwort gegen dessen Verächter und erklärte: "Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich." Bei Barthold Heinrich Brockes triumphiert zwar noch das didaktische Moment über dessen kunstvolle Verbergung, wer wollte angesichts dieses poetisch lückenlos erschlossenen Naturkosmos aber etwas dagegen einwenden?
Brockes' neunbändiges "Irdisches Vergnügen in Gott" (1721 bis 1748) ist eine welthaltige lyrische Realenzyklopädie. In Hunderten von "Physicalisch und Moralischen Gedichten", so der Untertitel, werden alle Reiche von Pflanzen und Tieren, menschlichen Sinnesleistungen, Körperteilen und Krankheiten, geologischen und meteorologischen Erscheinungen empirisch betrachtet. Auf das Staunen über die kleinsten und größten, hellsten und dunkelsten, offensichtlichsten und geheimsten Phänomene folgt immer die physikotheologische Einsicht in die Perfektion und Herrlichkeit der Schöpfung. Sie mildert selbst die "feurig wilde Pein" im Gedicht "Der Zahn", der mit "gräßlichem Gekrach" gezogen werden muss, versöhnt in "Ein neblichtes und schlackriges Wetter" mit dem trüben Novembergrau, da irgendwo hinter dem Hochnebel die Sonne funkeln muss, oder hilft ein "widriges und ekelhaftes Grauen" bei einer Sektion auf dem anatomischen Theater überwinden, da unser Körper vollkommen gebaut ist.
Diese an Facetten nicht zu überbietende Lobpreisung Gottes soll jetzt in einer Gesamtausgabe von Brockes' Werken erstmals vollständig ediert werden. Im vorliegenden zweiten Band sind die ersten beiden Teile des "Irdischen Vergnügens" enthalten, abgedruckt nach der jeweils spätesten Auflage, versehen mit Varianten früherer Drucke und einem sparsamen Sachkommentar. Bei der Jagd nach Realien und Sachthemen bieten Digitalisate im Internet bisher noch den Vorteil von Registern in den Originalbänden und Möglichkeiten zur Volltextsuche. Entsprechende Indizes werden die Buchausgabe hoffentlich irgendwann komplettieren. Mit ihrem Abschluss wird man einen einzigartigen Atlas der Natur zur Hand haben, der Buffons "Histoire naturelle" oder Linnés "Systema naturae" poetisch ausbuchstabiert.
Für den Zusammenhang von Literatur und Wissen ist das so frisch wie Neuschnee, auf dessen Lob Brockes hier mehr als hundert Verse verwendet: "Es ist wahrhaftig nicht zu gläuben, / Noch minder zu beschreiben, / Wie manche nett' und zierliche Figur / Die spielende Natur / Uns in gefrornen Düften weiset, / So daß ein' jegliche des Schöpfers Weisheit preiset."
ALEXANDER KOSENINA
Barthold Heinrich Brockes: "Irdisches Vergnügen in Gott". Erster und zweiter Teil.
Hrsg. und kommentiert von Jürgen Rathje. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. Zus. 1048 S., geb., 98,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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