In Arnold Stadlers Roman »Irgendwo. Aber am Meer« reist ein Schriftsteller zu einer Kulturveranstaltung in den Westerwald, wo er an einem »Talk« teilnehmen soll. Aber der »Event« wird zum Fiasko. Befragt, was sein Beitrag zur Energiewende sei, wie er zu Greta Thunberg und den im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen stehe, verstrickt er sich in einen hilflosen Antwortversuch. »Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!«, schallt es aus dem Publikum. Erholungsbedürftig bricht der »Experte im Nichtwissen«, dem die Gegenwart fremd geworden ist, zu einem Sehnsuchtsort seines Lebens auf: ein Haus mit Blick auf die griechische Insel Ithaka. Es wird eine tragikomische Reise durch Erinnerungen, Geschichten und Gedanken, eine Suche nach unserem Platz in der Welt: dem Ort, an dem wir - trotz allem! - glücklich sein können. Irgendwo. Aber am Meer.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Mit einem "ziemlich intelligenten Entwurf" haben wir es laut dem Rezensenten Björn Hayer hier zu tun. Nachdem der Protagonist - das Alter-Ego des Autors Arnold Stadler, vermutet Hayer - auf einer Lesung sich vorwerfen lassen muss, ein alter weißer Mann zu sein, beschließt er sich auf eine Reise gen Ithaka zu begeben, anfangs mit suizidalen Gedanken. Bevor er die Insel erreicht, tritt der Protagonist tritt eine Reise ins Innere an, wobei aktuelle politische Themen mit persönlichen Erlebnissen - von Klimakrise bis Identitätsfragen - verbunden werden. Rezensent Hayer lobt, dass Stadler die Krisen nicht beschönigt oder romantisiert, sondern vom Leser eine aktive Beschäftigung mit einer veränderten Welt einfordert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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[...] immer wieder eine sprachliche Wohltat. Christoph Schröder Deutschlandfunk 20230501
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.06.2023Ausgewühlt, ausgewellt, ausgewollt
Ein Verfasser von Holzwegliteratur? Arnold Stadlers sprachkünstlerischer Roman "Irgendwo. Aber am Meer"
"'Diese Geschichte hat keinen Plot. So wenig wie die Geschichte einen Plot hat. So wahr ich keinen Plot habe.' So hätte ich meine Geschichte zusammenfassen sollen auch auf Sayn. Und Heimat gab es auch schon längst nicht mehr für mich, aber immer noch ein ortloses Heimweh. Es war auch noch ein Gespräch über Heimat zwischen dem Publikum und mir angekündigt."
Der Schriftsteller Arnold Stadler, gekleidet in ein Kunst-Ich, ist zunächst noch frohgemut, von Tuttlingen kommend, auf dem Weg zum Schloss Sayn im Westerwald, wo es in abgelegener Provinz eine Lesung seines letzten Romans "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo" geben sollte. Mit hinterfotziger List beschreibt der Autor die Stimmung im vollbesetzten Saal und das geschäftige Treiben der Veranstalterin. Schnell ahnt der Leser, das die Sache nicht gut ausgehen wird, im Gegenteil, die anschließende Diskussion artet in einer Katastrophe aus. Es geht nicht um Literatur, der Vortragende soll sich zu Klimaschutz, Globalisierung und Krieg äußern. Nicht ihm, viel lieber hätten die Zuhörerinnen Greta Thunberg gelauscht. "Und gerade, als ich dabei war, endlich meinen Lösungsvorschlag vorzutragen, (. . .) schrie schon eine energische Stimme, eine, wie ich sie aus den Uni-Seminaren kannte: Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!"
Nicht ohne Sarkasmus stellt der Schriftsteller fest: Die Ruferin war eine weiße Altfrauensperson - aber der Stachel saß. Der Schmerz wird den Autor nicht nur den ganzen Abend quälen, sondern ihn auch auf seiner nächsten Reise auf eine griechische Insel begleiten, wohin er fliehen muss, die Erfahrung aus Sayn immer im Genick. Dies ist der Anlass, der Arnold Stadler zu einem artistischen Feuerwerk von Gedanken, Erinnerungen, Betrachtungen des Meeres, der Welt im Großen und im Kleinen und seiner Existenz als älter werdender Mann (Jahrgang 1954) verleitet. Peter Hamm, der 1999 die Laudatio auf Stadler anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises hielt, kündigte damals an: "Ein Außenseiter rückt ins Zentrum", und treffend charakterisierte er "das übermütig vertuschte Unglück", das sich durch die gesamte Literatur des Autors ziehe, "urkomisch und zugleich todtraurig".
Leitmotivisch hat Stadler seine Leserschaft immer wieder gewarnt, er brauche keinen Plot, er sei einer, der aus der Zeit gefallen sei und doch immer nahe an der Realität des Alltags bleibe, auch wenn er "linkshändige Sätze" und "Vogelscheuchensätze" aufs Papier bringe. Man muss ihm nur folgen, die Augen schärfen und sich von ihm verführen lassen. Hinter allem Ernst stecken ein Augenzwinkern und die Ironie seiner Sprachkunst. Schloss Sayn ist dafür ein Schlüsselerlebnis: "Irgendwo im Lauf der Zeit war mein Leben umgekippt. Nun erfuhr ich es zum ersten Mal 'so richtig', wie man sagt. Das Schicksal hatte für mich einen Abend auf Schloss Sayn ausgewählt, ausgewühlt, ausgewohlt, ausgewöhlt, ausgewallt, ausgewellt, ausgewillt, ausgewollt, ausgewullt . . ." Sprachschöpfungen bereiten dem Autor ein besonderes Vergnügen, der Schmerz verwandelt sich bei ihm in Sprache, die geringste banale Beobachtung lässt ihn abschweifen in tiefen Sinn, und zugleich katapultiert ein Wortspiel den Sinn in Unsinn. Er schaut genau hin und stellt zum Beispiel fest, dass es früher die Theologen gewesen seien, die die Probleme der Welt erklärten und lösten - heute seien an ihre Stelle die Virologen getreten. Der Mensch ist nicht mehr Mensch, sondern Verbraucher, sein moralisch strenges Lesepublikum mutiert bei ihm zu Friedwaldaspiranten.
Der Dreh- und Angelpunkt ist für Stadler das Städtchen Tuttlingen, hier hat er Eisenbahnanschluss aus dem oberschwäbischen Heimatort, und die Stadt ist ein Amalgam zwischen Weltzentrum moderner Medizintechnik und der Novellenfigur des Kannitverstan von Johann Peter Hebel, der seinen Handwerksburschen von Tuttlingen aus nach Amsterdam aufbrechen lässt, wo er die Welt nicht mehr verstehen kann. Die Welt ist ein sonderbar Ding geworden.
"In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?" Diesen Vers des aus Rumänien stammenden Dichters Franz Hodjak zitiert Stadler mit Vorliebe. Auch er will sich nicht festlegen, irgendwo, irgendwie. Nach Griechenland geht es auf dem Landweg mit seinem schon etwas derangierten Dacia Duster. Dort gibt es seit zwanzig Jahren ein Ziel, ein Haus auf der Insel Lefkada mit Blick auf die Insel Ithaka, die Heimat des Odysseus und Ausgangspunkt all seiner Irrwege. Typisch für Stadler: Er hat noch nie seinen Fuß auf Ithaka gesetzt, sondern schaut nur sehnsüchtig hinüber - die Insel soll ihm ein Geheimnis oder Rätsel bleiben. Über die Nachbarinseln von Lefkada erzählt er hingegen ausschweifend. Hier lebten früher, wie man sagte, die Multimillionäre wie Onassis, seine Frau Jackie und die Callas, heute tummeln sich dort die Oligarchen. Was früher Fortschritt war, ist heute Globalisierung. Reich und Arm passen nicht zusammen, das erzählt schon die Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, auch Jean Paul ist ein lustiger Weggefährte für Stadler, und selbst vor Rex Gildo und Lady Gaga scheut er nicht zurück.
Unglück und Glück sind nur schwer zu unterscheiden, und jeder ist nicht seines Glückes Schmied. Stadler macht sich auf alles seinen eigenen Reim und schickt die Leser auf eine waghalsige Berg-und-Tal-Fahrt. Der Rhythmus seiner Sprache bezaubert, mal mäandriert er frei in die Natur, dann wieder bricht er jedes Pathos und wird knapp und streng. Er versteht sich als "Irrwisch" und als "Komplize des Nichts", dafür braucht es kein Ziel. So wie er den Kilimandscharo nie bestiegen hat, so wie er die Insel Ithaka nie betreten hat, bleibt die Sehnsucht lebendig. Dem neugierigen Lesepublikum gesteht er mit offenherziger Selbstironie sein maliziöses Credo: "Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem Buch, das eine Lichtung in Aussicht stellte und doch nur ein Holzwegreiseführer war, der solche Fragen beantwortete, die keiner gestellt hatte. Ein Verfasser von Holzwegliteratur." Auf solchen Holzwegen mit Arnold Stadler irgendwohin zu wandeln und zu stolpern ist ein hohes literarisches Vergnügen. LERKE VON SAALFELD
Arnold Stadler:
"Irgendwo. Aber am Meer". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Verfasser von Holzwegliteratur? Arnold Stadlers sprachkünstlerischer Roman "Irgendwo. Aber am Meer"
"'Diese Geschichte hat keinen Plot. So wenig wie die Geschichte einen Plot hat. So wahr ich keinen Plot habe.' So hätte ich meine Geschichte zusammenfassen sollen auch auf Sayn. Und Heimat gab es auch schon längst nicht mehr für mich, aber immer noch ein ortloses Heimweh. Es war auch noch ein Gespräch über Heimat zwischen dem Publikum und mir angekündigt."
Der Schriftsteller Arnold Stadler, gekleidet in ein Kunst-Ich, ist zunächst noch frohgemut, von Tuttlingen kommend, auf dem Weg zum Schloss Sayn im Westerwald, wo es in abgelegener Provinz eine Lesung seines letzten Romans "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo" geben sollte. Mit hinterfotziger List beschreibt der Autor die Stimmung im vollbesetzten Saal und das geschäftige Treiben der Veranstalterin. Schnell ahnt der Leser, das die Sache nicht gut ausgehen wird, im Gegenteil, die anschließende Diskussion artet in einer Katastrophe aus. Es geht nicht um Literatur, der Vortragende soll sich zu Klimaschutz, Globalisierung und Krieg äußern. Nicht ihm, viel lieber hätten die Zuhörerinnen Greta Thunberg gelauscht. "Und gerade, als ich dabei war, endlich meinen Lösungsvorschlag vorzutragen, (. . .) schrie schon eine energische Stimme, eine, wie ich sie aus den Uni-Seminaren kannte: Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!"
Nicht ohne Sarkasmus stellt der Schriftsteller fest: Die Ruferin war eine weiße Altfrauensperson - aber der Stachel saß. Der Schmerz wird den Autor nicht nur den ganzen Abend quälen, sondern ihn auch auf seiner nächsten Reise auf eine griechische Insel begleiten, wohin er fliehen muss, die Erfahrung aus Sayn immer im Genick. Dies ist der Anlass, der Arnold Stadler zu einem artistischen Feuerwerk von Gedanken, Erinnerungen, Betrachtungen des Meeres, der Welt im Großen und im Kleinen und seiner Existenz als älter werdender Mann (Jahrgang 1954) verleitet. Peter Hamm, der 1999 die Laudatio auf Stadler anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises hielt, kündigte damals an: "Ein Außenseiter rückt ins Zentrum", und treffend charakterisierte er "das übermütig vertuschte Unglück", das sich durch die gesamte Literatur des Autors ziehe, "urkomisch und zugleich todtraurig".
Leitmotivisch hat Stadler seine Leserschaft immer wieder gewarnt, er brauche keinen Plot, er sei einer, der aus der Zeit gefallen sei und doch immer nahe an der Realität des Alltags bleibe, auch wenn er "linkshändige Sätze" und "Vogelscheuchensätze" aufs Papier bringe. Man muss ihm nur folgen, die Augen schärfen und sich von ihm verführen lassen. Hinter allem Ernst stecken ein Augenzwinkern und die Ironie seiner Sprachkunst. Schloss Sayn ist dafür ein Schlüsselerlebnis: "Irgendwo im Lauf der Zeit war mein Leben umgekippt. Nun erfuhr ich es zum ersten Mal 'so richtig', wie man sagt. Das Schicksal hatte für mich einen Abend auf Schloss Sayn ausgewählt, ausgewühlt, ausgewohlt, ausgewöhlt, ausgewallt, ausgewellt, ausgewillt, ausgewollt, ausgewullt . . ." Sprachschöpfungen bereiten dem Autor ein besonderes Vergnügen, der Schmerz verwandelt sich bei ihm in Sprache, die geringste banale Beobachtung lässt ihn abschweifen in tiefen Sinn, und zugleich katapultiert ein Wortspiel den Sinn in Unsinn. Er schaut genau hin und stellt zum Beispiel fest, dass es früher die Theologen gewesen seien, die die Probleme der Welt erklärten und lösten - heute seien an ihre Stelle die Virologen getreten. Der Mensch ist nicht mehr Mensch, sondern Verbraucher, sein moralisch strenges Lesepublikum mutiert bei ihm zu Friedwaldaspiranten.
Der Dreh- und Angelpunkt ist für Stadler das Städtchen Tuttlingen, hier hat er Eisenbahnanschluss aus dem oberschwäbischen Heimatort, und die Stadt ist ein Amalgam zwischen Weltzentrum moderner Medizintechnik und der Novellenfigur des Kannitverstan von Johann Peter Hebel, der seinen Handwerksburschen von Tuttlingen aus nach Amsterdam aufbrechen lässt, wo er die Welt nicht mehr verstehen kann. Die Welt ist ein sonderbar Ding geworden.
"In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?" Diesen Vers des aus Rumänien stammenden Dichters Franz Hodjak zitiert Stadler mit Vorliebe. Auch er will sich nicht festlegen, irgendwo, irgendwie. Nach Griechenland geht es auf dem Landweg mit seinem schon etwas derangierten Dacia Duster. Dort gibt es seit zwanzig Jahren ein Ziel, ein Haus auf der Insel Lefkada mit Blick auf die Insel Ithaka, die Heimat des Odysseus und Ausgangspunkt all seiner Irrwege. Typisch für Stadler: Er hat noch nie seinen Fuß auf Ithaka gesetzt, sondern schaut nur sehnsüchtig hinüber - die Insel soll ihm ein Geheimnis oder Rätsel bleiben. Über die Nachbarinseln von Lefkada erzählt er hingegen ausschweifend. Hier lebten früher, wie man sagte, die Multimillionäre wie Onassis, seine Frau Jackie und die Callas, heute tummeln sich dort die Oligarchen. Was früher Fortschritt war, ist heute Globalisierung. Reich und Arm passen nicht zusammen, das erzählt schon die Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, auch Jean Paul ist ein lustiger Weggefährte für Stadler, und selbst vor Rex Gildo und Lady Gaga scheut er nicht zurück.
Unglück und Glück sind nur schwer zu unterscheiden, und jeder ist nicht seines Glückes Schmied. Stadler macht sich auf alles seinen eigenen Reim und schickt die Leser auf eine waghalsige Berg-und-Tal-Fahrt. Der Rhythmus seiner Sprache bezaubert, mal mäandriert er frei in die Natur, dann wieder bricht er jedes Pathos und wird knapp und streng. Er versteht sich als "Irrwisch" und als "Komplize des Nichts", dafür braucht es kein Ziel. So wie er den Kilimandscharo nie bestiegen hat, so wie er die Insel Ithaka nie betreten hat, bleibt die Sehnsucht lebendig. Dem neugierigen Lesepublikum gesteht er mit offenherziger Selbstironie sein maliziöses Credo: "Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem Buch, das eine Lichtung in Aussicht stellte und doch nur ein Holzwegreiseführer war, der solche Fragen beantwortete, die keiner gestellt hatte. Ein Verfasser von Holzwegliteratur." Auf solchen Holzwegen mit Arnold Stadler irgendwohin zu wandeln und zu stolpern ist ein hohes literarisches Vergnügen. LERKE VON SAALFELD
Arnold Stadler:
"Irgendwo. Aber am Meer". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ausgewühlt, ausgewellt, ausgewollt
Ein Verfasser von Holzwegliteratur? Arnold Stadlers sprachkünstlerischer Roman "Irgendwo. Aber am Meer"
"'Diese Geschichte hat keinen Plot. So wenig wie die Geschichte einen Plot hat. So wahr ich keinen Plot habe.' So hätte ich meine Geschichte zusammenfassen sollen auch auf Sayn. Und Heimat gab es auch schon längst nicht mehr für mich, aber immer noch ein ortloses Heimweh. Es war auch noch ein Gespräch über Heimat zwischen dem Publikum und mir angekündigt."
Der Schriftsteller Arnold Stadler, gekleidet in ein Kunst-Ich, ist zunächst noch frohgemut, von Tuttlingen kommend, auf dem Weg zum Schloss Sayn im Westerwald, wo es in abgelegener Provinz eine Lesung seines letzten Romans "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo" geben sollte. Mit hinterfotziger List beschreibt der Autor die Stimmung im vollbesetzten Saal und das geschäftige Treiben der Veranstalterin. Schnell ahnt der Leser, das die Sache nicht gut ausgehen wird, im Gegenteil, die anschließende Diskussion artet in einer Katastrophe aus. Es geht nicht um Literatur, der Vortragende soll sich zu Klimaschutz, Globalisierung und Krieg äußern. Nicht ihm, viel lieber hätten die Zuhörerinnen Greta Thunberg gelauscht. "Und gerade, als ich dabei war, endlich meinen Lösungsvorschlag vorzutragen, (. . .) schrie schon eine energische Stimme, eine, wie ich sie aus den Uni-Seminaren kannte: Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!"
Nicht ohne Sarkasmus stellt der Schriftsteller fest: Die Ruferin war eine weiße Altfrauensperson - aber der Stachel saß. Der Schmerz wird den Autor nicht nur den ganzen Abend quälen, sondern ihn auch auf seiner nächsten Reise auf eine griechische Insel begleiten, wohin er fliehen muss, die Erfahrung aus Sayn immer im Genick. Dies ist der Anlass, der Arnold Stadler zu einem artistischen Feuerwerk von Gedanken, Erinnerungen, Betrachtungen des Meeres, der Welt im Großen und im Kleinen und seiner Existenz als älter werdender Mann (Jahrgang 1954) verleitet. Peter Hamm, der 1999 die Laudatio auf Stadler anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises hielt, kündigte damals an: "Ein Außenseiter rückt ins Zentrum", und treffend charakterisierte er "das übermütig vertuschte Unglück", das sich durch die gesamte Literatur des Autors ziehe, "urkomisch und zugleich todtraurig".
Leitmotivisch hat Stadler seine Leserschaft immer wieder gewarnt, er brauche keinen Plot, er sei einer, der aus der Zeit gefallen sei und doch immer nahe an der Realität des Alltags bleibe, auch wenn er "linkshändige Sätze" und "Vogelscheuchensätze" aufs Papier bringe. Man muss ihm nur folgen, die Augen schärfen und sich von ihm verführen lassen. Hinter allem Ernst stecken ein Augenzwinkern und die Ironie seiner Sprachkunst. Schloss Sayn ist dafür ein Schlüsselerlebnis: "Irgendwo im Lauf der Zeit war mein Leben umgekippt. Nun erfuhr ich es zum ersten Mal 'so richtig', wie man sagt. Das Schicksal hatte für mich einen Abend auf Schloss Sayn ausgewählt, ausgewühlt, ausgewohlt, ausgewöhlt, ausgewallt, ausgewellt, ausgewillt, ausgewollt, ausgewullt . . ." Sprachschöpfungen bereiten dem Autor ein besonderes Vergnügen, der Schmerz verwandelt sich bei ihm in Sprache, die geringste banale Beobachtung lässt ihn abschweifen in tiefen Sinn, und zugleich katapultiert ein Wortspiel den Sinn in Unsinn. Er schaut genau hin und stellt zum Beispiel fest, dass es früher die Theologen gewesen seien, die die Probleme der Welt erklärten und lösten - heute seien an ihre Stelle die Virologen getreten. Der Mensch ist nicht mehr Mensch, sondern Verbraucher, sein moralisch strenges Lesepublikum mutiert bei ihm zu Friedwaldaspiranten.
Der Dreh- und Angelpunkt ist für Stadler das Städtchen Tuttlingen, hier hat er Eisenbahnanschluss aus dem oberschwäbischen Heimatort, und die Stadt ist ein Amalgam zwischen Weltzentrum moderner Medizintechnik und der Novellenfigur des Kannitverstan von Johann Peter Hebel, der seinen Handwerksburschen von Tuttlingen aus nach Amsterdam aufbrechen lässt, wo er die Welt nicht mehr verstehen kann. Die Welt ist ein sonderbar Ding geworden.
"In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?" Diesen Vers des aus Rumänien stammenden Dichters Franz Hodjak zitiert Stadler mit Vorliebe. Auch er will sich nicht festlegen, irgendwo, irgendwie. Nach Griechenland geht es auf dem Landweg mit seinem schon etwas derangierten Dacia Duster. Dort gibt es seit zwanzig Jahren ein Ziel, ein Haus auf der Insel Lefkada mit Blick auf die Insel Ithaka, die Heimat des Odysseus und Ausgangspunkt all seiner Irrwege. Typisch für Stadler: Er hat noch nie seinen Fuß auf Ithaka gesetzt, sondern schaut nur sehnsüchtig hinüber - die Insel soll ihm ein Geheimnis oder Rätsel bleiben. Über die Nachbarinseln von Lefkada erzählt er hingegen ausschweifend. Hier lebten früher, wie man sagte, die Multimillionäre wie Onassis, seine Frau Jackie und die Callas, heute tummeln sich dort die Oligarchen. Was früher Fortschritt war, ist heute Globalisierung. Reich und Arm passen nicht zusammen, das erzählt schon die Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, auch Jean Paul ist ein lustiger Weggefährte für Stadler, und selbst vor Rex Gildo und Lady Gaga scheut er nicht zurück.
Unglück und Glück sind nur schwer zu unterscheiden, und jeder ist nicht seines Glückes Schmied. Stadler macht sich auf alles seinen eigenen Reim und schickt die Leser auf eine waghalsige Berg-und-Tal-Fahrt. Der Rhythmus seiner Sprache bezaubert, mal mäandriert er frei in die Natur, dann wieder bricht er jedes Pathos und wird knapp und streng. Er versteht sich als "Irrwisch" und als "Komplize des Nichts", dafür braucht es kein Ziel. So wie er den Kilimandscharo nie bestiegen hat, so wie er die Insel Ithaka nie betreten hat, bleibt die Sehnsucht lebendig. Dem neugierigen Lesepublikum gesteht er mit offenherziger Selbstironie sein maliziöses Credo: "Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem Buch, das eine Lichtung in Aussicht stellte und doch nur ein Holzwegreiseführer war, der solche Fragen beantwortete, die keiner gestellt hatte. Ein Verfasser von Holzwegliteratur." Auf solchen Holzwegen mit Arnold Stadler irgendwohin zu wandeln und zu stolpern ist ein hohes literarisches Vergnügen. LERKE VON SAALFELD
Arnold Stadler:
"Irgendwo. Aber am Meer". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Verfasser von Holzwegliteratur? Arnold Stadlers sprachkünstlerischer Roman "Irgendwo. Aber am Meer"
"'Diese Geschichte hat keinen Plot. So wenig wie die Geschichte einen Plot hat. So wahr ich keinen Plot habe.' So hätte ich meine Geschichte zusammenfassen sollen auch auf Sayn. Und Heimat gab es auch schon längst nicht mehr für mich, aber immer noch ein ortloses Heimweh. Es war auch noch ein Gespräch über Heimat zwischen dem Publikum und mir angekündigt."
Der Schriftsteller Arnold Stadler, gekleidet in ein Kunst-Ich, ist zunächst noch frohgemut, von Tuttlingen kommend, auf dem Weg zum Schloss Sayn im Westerwald, wo es in abgelegener Provinz eine Lesung seines letzten Romans "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo" geben sollte. Mit hinterfotziger List beschreibt der Autor die Stimmung im vollbesetzten Saal und das geschäftige Treiben der Veranstalterin. Schnell ahnt der Leser, das die Sache nicht gut ausgehen wird, im Gegenteil, die anschließende Diskussion artet in einer Katastrophe aus. Es geht nicht um Literatur, der Vortragende soll sich zu Klimaschutz, Globalisierung und Krieg äußern. Nicht ihm, viel lieber hätten die Zuhörerinnen Greta Thunberg gelauscht. "Und gerade, als ich dabei war, endlich meinen Lösungsvorschlag vorzutragen, (. . .) schrie schon eine energische Stimme, eine, wie ich sie aus den Uni-Seminaren kannte: Das ist ja das reinste weiße Altmännergeschwätz!"
Nicht ohne Sarkasmus stellt der Schriftsteller fest: Die Ruferin war eine weiße Altfrauensperson - aber der Stachel saß. Der Schmerz wird den Autor nicht nur den ganzen Abend quälen, sondern ihn auch auf seiner nächsten Reise auf eine griechische Insel begleiten, wohin er fliehen muss, die Erfahrung aus Sayn immer im Genick. Dies ist der Anlass, der Arnold Stadler zu einem artistischen Feuerwerk von Gedanken, Erinnerungen, Betrachtungen des Meeres, der Welt im Großen und im Kleinen und seiner Existenz als älter werdender Mann (Jahrgang 1954) verleitet. Peter Hamm, der 1999 die Laudatio auf Stadler anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises hielt, kündigte damals an: "Ein Außenseiter rückt ins Zentrum", und treffend charakterisierte er "das übermütig vertuschte Unglück", das sich durch die gesamte Literatur des Autors ziehe, "urkomisch und zugleich todtraurig".
Leitmotivisch hat Stadler seine Leserschaft immer wieder gewarnt, er brauche keinen Plot, er sei einer, der aus der Zeit gefallen sei und doch immer nahe an der Realität des Alltags bleibe, auch wenn er "linkshändige Sätze" und "Vogelscheuchensätze" aufs Papier bringe. Man muss ihm nur folgen, die Augen schärfen und sich von ihm verführen lassen. Hinter allem Ernst stecken ein Augenzwinkern und die Ironie seiner Sprachkunst. Schloss Sayn ist dafür ein Schlüsselerlebnis: "Irgendwo im Lauf der Zeit war mein Leben umgekippt. Nun erfuhr ich es zum ersten Mal 'so richtig', wie man sagt. Das Schicksal hatte für mich einen Abend auf Schloss Sayn ausgewählt, ausgewühlt, ausgewohlt, ausgewöhlt, ausgewallt, ausgewellt, ausgewillt, ausgewollt, ausgewullt . . ." Sprachschöpfungen bereiten dem Autor ein besonderes Vergnügen, der Schmerz verwandelt sich bei ihm in Sprache, die geringste banale Beobachtung lässt ihn abschweifen in tiefen Sinn, und zugleich katapultiert ein Wortspiel den Sinn in Unsinn. Er schaut genau hin und stellt zum Beispiel fest, dass es früher die Theologen gewesen seien, die die Probleme der Welt erklärten und lösten - heute seien an ihre Stelle die Virologen getreten. Der Mensch ist nicht mehr Mensch, sondern Verbraucher, sein moralisch strenges Lesepublikum mutiert bei ihm zu Friedwaldaspiranten.
Der Dreh- und Angelpunkt ist für Stadler das Städtchen Tuttlingen, hier hat er Eisenbahnanschluss aus dem oberschwäbischen Heimatort, und die Stadt ist ein Amalgam zwischen Weltzentrum moderner Medizintechnik und der Novellenfigur des Kannitverstan von Johann Peter Hebel, der seinen Handwerksburschen von Tuttlingen aus nach Amsterdam aufbrechen lässt, wo er die Welt nicht mehr verstehen kann. Die Welt ist ein sonderbar Ding geworden.
"In welche Himmelsrichtung wirst du dich verirren?" Diesen Vers des aus Rumänien stammenden Dichters Franz Hodjak zitiert Stadler mit Vorliebe. Auch er will sich nicht festlegen, irgendwo, irgendwie. Nach Griechenland geht es auf dem Landweg mit seinem schon etwas derangierten Dacia Duster. Dort gibt es seit zwanzig Jahren ein Ziel, ein Haus auf der Insel Lefkada mit Blick auf die Insel Ithaka, die Heimat des Odysseus und Ausgangspunkt all seiner Irrwege. Typisch für Stadler: Er hat noch nie seinen Fuß auf Ithaka gesetzt, sondern schaut nur sehnsüchtig hinüber - die Insel soll ihm ein Geheimnis oder Rätsel bleiben. Über die Nachbarinseln von Lefkada erzählt er hingegen ausschweifend. Hier lebten früher, wie man sagte, die Multimillionäre wie Onassis, seine Frau Jackie und die Callas, heute tummeln sich dort die Oligarchen. Was früher Fortschritt war, ist heute Globalisierung. Reich und Arm passen nicht zusammen, das erzählt schon die Kalendergeschichte von Johann Peter Hebel, auch Jean Paul ist ein lustiger Weggefährte für Stadler, und selbst vor Rex Gildo und Lady Gaga scheut er nicht zurück.
Unglück und Glück sind nur schwer zu unterscheiden, und jeder ist nicht seines Glückes Schmied. Stadler macht sich auf alles seinen eigenen Reim und schickt die Leser auf eine waghalsige Berg-und-Tal-Fahrt. Der Rhythmus seiner Sprache bezaubert, mal mäandriert er frei in die Natur, dann wieder bricht er jedes Pathos und wird knapp und streng. Er versteht sich als "Irrwisch" und als "Komplize des Nichts", dafür braucht es kein Ziel. So wie er den Kilimandscharo nie bestiegen hat, so wie er die Insel Ithaka nie betreten hat, bleibt die Sehnsucht lebendig. Dem neugierigen Lesepublikum gesteht er mit offenherziger Selbstironie sein maliziöses Credo: "Mit Don Quichotte oder sonst so einem, wie es sie zu allen Zeiten gab, im Gepäck, mit einem Buch, das eine Lichtung in Aussicht stellte und doch nur ein Holzwegreiseführer war, der solche Fragen beantwortete, die keiner gestellt hatte. Ein Verfasser von Holzwegliteratur." Auf solchen Holzwegen mit Arnold Stadler irgendwohin zu wandeln und zu stolpern ist ein hohes literarisches Vergnügen. LERKE VON SAALFELD
Arnold Stadler:
"Irgendwo. Aber am Meer". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 224 S., geb., 24,- Euro.
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