Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.07.1996Die Mysterien des Liebesromans
Reinhold Merkelbach zeigt, wie die Griechen sich Ägypten aneigneten und in ihrer Erzählkunst spiegelten
Der ägyptische Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut hatten vier Kinder, die beiden Söhne Osiris und Seth sowie die Töchter Isis und Nephthys. Isis und Osiris wurden ein Paar wie Seth und Nephthys. Zwischen Osiris und Seth herrschte Feindschaft, denn Seth trachtete seinem Bruder nach dem Leben. Der Mythos erzählt, daß Seth seinen Bruder hinterlistig dazu brachte, sich in einen Sarg zu legen. Dann klappte Seth den Deckel zu und warf den Sarg in den Fluß. Der Nil trug den Gott flußabwärts bis ins Meer. Isis suchte den Sarg mit ihrem Mann, fand ihn und brachte ihn in ein Versteck nach Ägypten zurück. Doch Seth entdeckte den Sarg, öffnete ihn und zerschnitt die Leiche des Osiris in vierzehn Teile, die er anschließend verstreute. Nach langer Suche fand Isis die Teile - mit Ausnahme des männlichen Gliedes. Das hatte Seth in den Fluß geworfen, und die Fische hatten es gefressen. Als Isis die Leiche anschließend wieder zusammensetzt, fertigt sie daher ein Ersatzglied an. Von dem toten, von ihr wieder zum Leben erweckten Osiris empfängt Isis anschließend einen Sohn: Horus.
Reinhold Merkelbach schildert und interpretiert im ersten Teil seiner umfangreichen Studie zunächst ausführlich derartige Mythen um Isis, Osiris und Horus. Er lehrt den Leser, die mythischen Bilder zu verstehen, ja, in Bildern zu denken. Dazu dienen auch die fast dreihundert Abbildungen des Bandes. Das Buch krönt Reinhard Merkelbachs Lebenswerk, das seit seiner Arbeit über "Roman und Mysterium in der Antike" (1962) im Grenzbereich von Philologie und Religionsgeschichte angesiedelt ist. Daß der so esoterisch anmutende Forschungsgegenstand eines der bedeutendsten deutschen Altertumswissenschaftler nun in einem für den Nichtfachmann vollkommen lesbaren und vorbildlich ausgestatteten Buch seinen Niederschlag gefunden hat, ist eine große Leistung von Autor und Verlag.
Eine Art, nicht die einzige, den eingangs nacherzählten Mythos zu verstehen, ist es, sich auf die Verbindung des Osiris mit dem Nil zu konzentrieren. Osiris schwimmt auf dem Nil, er ist der Nil, das Wasser, das die Fruchtbarkeit bringt. Seth wirft das Glied des Osiris in den Nil, der Nil ist der Phallos des Gottes. Isis wird zur Erde. So wie der Nil das Land Ägypten überflutet, so befruchtet Osiris seine Gattin Isis. Dies alles geschieht erst nach dem Tod des Osiris, erst nachdem das Nilwasser auf seinen sommerlichen Tiefstand gesunken, wenn Osiris gestorben ist, kommt die Flut, kann Ägypten, Isis, das lebenspendende Wasser empfangen. Solche Mythen sind erzählende Interpretationen des Lebens.
Merkelbach bietet in diesem ersten Teil eine Gesamtdarstellung der hellenisierten Religion um die Gottheiten Isis, Sarapis und Harpokrates, einer Synthese aus ägyptischen und griechischen Elementen. Herodot setzte die ägyptischen und die griechischen Götter gleich: Isis war für ihn dieselbe Göttin wie die griechische Demeter von Eleusis, Sarapis verschmolz mit Zeus, Harpokrates wurde Eros. Auf diese Weise entstand eine neue Religion. Man nennt dieses Verfahren interpretatio Graeca, Interpretation der fremden Götter nach der griechischen Religion. Daneben steht das umgekehrte Phänomen, die Interpretation der griechischen Traditionen in Religion, Philosophie und Wissenschaft aus ägyptischem Blickwinkel. Für Herodot war fast die ganze griechische Kultur aus Ägypten importiert und von dort her zu verstehen:
Ein "Pan-Ägyptizismus", wie Merkelbach schreibt.
Die Verbindung von ägyptischen und griechischen Mythen konnte gelingen, weil zwischen ihnen eine Art Urverwandtschaft besteht. Sie hat ihren Grund darin, daß in den Mythen Riten von ackerbauenden Gemeinschaften dargestellt werden, die in engem Zusammenhang mit dem Kreislauf der Jahreszeiten stehen. Die Vorgänge in der Natur werden durch ein Schema von Tod und Wiederaufleben erklärt. In den Mysterienkulten wurden solche Mythen gespielt, denn Spielszenen haften in der Erinnerung stärker als reine Erzählungen. Wirksam war für die meisten antiken Menschen nur ein Gott, der anschaulich vor Augen stand. "In den Zeremonien gilt das Nachgeahmte ebensoviel wie das Wirkliche", schrieb ein spätantiker Grammatiker. Im Sarapis-Tempel in Alexandria hatte man in einem Raum einen Magneten an der Decke angebracht. Morgens trug man eine kleine eiserne Statuette des Helios, des Sonnengottes, in den Raum, bis sie sich direkt unter dem Magneten befand. Magnet und Eisen waren so bemessen, daß der Magnet das Eisen so weit emporzog, daß die Statuette des Helios schwebte. "Helios hat sich erhoben", rief der Priester.
Im zweiten Hauptteil stellt Merkelbach insgesamt vier Romane vor, denn ausgerechnet diese literarische Gattung ist religiösen Ursprungs. Was der einzelne erlebte, wurde als Variation dessen empfunden, was die Götter einst in mythischer Zeit erfahren hatten. Diese Weltsicht dokumentiert sich in Liebesromanen, in denen einige mythische Grundvorstellungen in immer neuer Weise variiert werden. Merkelbach versteht diese Romane als Schlüsseltexte: die "Metamorphosen" des Apuleius, die Liebes-und Reiseromane des Xenophon von Ephesos und des Achilleus Tatios sowie der Apollonius-Roman über den König von Tyros.
An ihnen demonstriert er den geistigen Horizont, in dem die Verehrer von Isis und Sarapis lebten. Dabei liegt der religiöse Sinn der Erzählungen nicht immer an der Oberfläche. Die Werke sind über weite Strecken hin auf zwei Ebenen zu verstehen, derjenigen der Erzählung und der anderen des Rituals, der Religion. Merkelbach baut hier eine These aus, die Karl Kerényi 1927 aufgestellt und die er selbst in "Roman und Mysterium" aufgegriffen hatte.
Der älteste erhaltene Isisroman ist die Erzählung von Antheia und Habrokomes des Xenophon von Ephesos, wohl aus der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. In Ephesos leben ein Jüngling von wunderbarer Schönheit, Habrokomes, und Antheia, die schönste der Mädchen. Die beiden verlieben sich und Apollon ordnet ihre Hochzeit an. Anschließend brechen sie zu einer Seereise auf, bei der das Schiff von Seeräubern überfallen und das junge Ehepaar gefangengenommen wird. Die beiden werden getrennt, und für jeden beginnt eine wahre Odyssee.
Habrokomes wird gefoltert und eingesperrt, während man Antheia als Sklavin zunächst nach Syrien verkauft, dann an Kaufleute, die sie mit dem Schiff wegbringen, dabei aber Schiffbruch erleiden. Sie fällt erneut unter die Räuber, deren Hauptmann sie heiraten will. Antheia bittet einen Arzt um Gift, da sie, um ihrem Gatten die Treue zu halten, bereit ist, eher in den Tod zu gehen als die Ehe zu vollziehen. Doch der Arzt gibt ihr nur ein Schlafmittel. Sie fällt wie tot um und wird begraben. In der Nacht brechen Räuber ihr Grab auf. Wiederum wird sie versklavt, begehrt und lebendig begraben.
Währenddessen wird Habrokomes ähnlichen Prüfungen unterzogen. Als er den Antrag einer Frau, die seinetwegen ihren Mann getötet hat, abweist, schiebt diese ihm den Mord unter und verrät ihn an die Behörden. Habrokomes wird gekreuzigt, doch ein Wind, den Sarapis auf Bitten des Jünglings schickt, stürzt ihn mit dem Kreuz in den Nil, auf dem er unversehrt treibt, bis ihn Soldaten herausfischen. Erneut wird er verurteilt, diesmal zum Tod auf dem Scheiterhaufen; als die Flammen ihn bereits umzüngeln, erhebt sich der Nil zu hohen Wellen und löscht das Feuer. Nach weiteren Stationen des Leidens finden sich beide auf Rhodos wieder. Das Volk jubelt und bricht in den Ruf aus: "Groß ist die Herrin Isis", der schließlich auch Antheia und Habrokomes für ihre Rettung dankten.
Viele Partien der Erzählung spielen auf zwei Ebenen: der Erzählebene und der Ebene der Isis-Zeremonien. Manche Bemerkungen des Autors beziehen sich bald auf die eine, bald auf die andere, bald auf beide Ebenen zusammen. Der eingeweihte Leser oder Hörer kann verstehen, was der Dichter gemeint hat, das Entschlüsseln der verschiedenen Bedeutungen macht dem, der es vermag, Freude. Wenn beispielsweise von einer Flucht die Rede ist, kann neben der realen die "Flucht" des platonischen Philosophen und des Isismysten aus der alltäglichen Welt in das jenseitige Reich des Erkennens gemeint sein.
Die Romane spiegeln die Sehnsucht des Menschen nach Glück und Geborgenheit in einem Leben, das so unsicher ist wie eine Schiffsreise. Sicherheit bieten die Mysterienreligionen; Isis, Herrin und Beschützerin der Reisenden, gibt in ihren Mysterien auch die Garantie für das Heil. Dafür muß der Mensch zunächst Prüfungen bestehen, muß eingeweiht werden. Der Initiand geht durch den Tod, um zum wahren Leben zu gelangen. Durch solche Romane erfährt der Myste, was mit ihm in den Einweihungszeremonien geschehen war. Immer wieder werden die Liebenden in der Erzählung vom Tod bedroht, sind gleichsam tot und werden durch die Gottheit, Isis oder Sarapis, zum Leben erweckt und errettet. Dies geschieht in der Erzählung, aber auch in der Realität: Wer sich in die Hände der Isis begibt, dem kann letztlich auch der Tod nichts mehr anhaben. Der Leser, der eingeweiht ist, der die Zeichen deuten kann, weiß, daß alles gut wird. Es geht um Gewißheit, man will immer wieder dasselbe hören, um diese Gewißheit immer wieder aufs neue zu beschwören.
Autoren, die eine Auslegung des ägyptischen Mythos geben, unterteilte Plutarch in die "Simplen" und die "Klügeren". Merkelbach reiht sich mit seinem opus magnum zweifellos unter die letzteren ein. MANFRED CLAUSS
Reinhold Merkelbach: "Isis regina - Zeus Sarapis". Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt. B. G. Teubner Verlag, Stuttgart/Leipzig 1995. 722 S., zahlr. Abb., geb., 245,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reinhold Merkelbach zeigt, wie die Griechen sich Ägypten aneigneten und in ihrer Erzählkunst spiegelten
Der ägyptische Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut hatten vier Kinder, die beiden Söhne Osiris und Seth sowie die Töchter Isis und Nephthys. Isis und Osiris wurden ein Paar wie Seth und Nephthys. Zwischen Osiris und Seth herrschte Feindschaft, denn Seth trachtete seinem Bruder nach dem Leben. Der Mythos erzählt, daß Seth seinen Bruder hinterlistig dazu brachte, sich in einen Sarg zu legen. Dann klappte Seth den Deckel zu und warf den Sarg in den Fluß. Der Nil trug den Gott flußabwärts bis ins Meer. Isis suchte den Sarg mit ihrem Mann, fand ihn und brachte ihn in ein Versteck nach Ägypten zurück. Doch Seth entdeckte den Sarg, öffnete ihn und zerschnitt die Leiche des Osiris in vierzehn Teile, die er anschließend verstreute. Nach langer Suche fand Isis die Teile - mit Ausnahme des männlichen Gliedes. Das hatte Seth in den Fluß geworfen, und die Fische hatten es gefressen. Als Isis die Leiche anschließend wieder zusammensetzt, fertigt sie daher ein Ersatzglied an. Von dem toten, von ihr wieder zum Leben erweckten Osiris empfängt Isis anschließend einen Sohn: Horus.
Reinhold Merkelbach schildert und interpretiert im ersten Teil seiner umfangreichen Studie zunächst ausführlich derartige Mythen um Isis, Osiris und Horus. Er lehrt den Leser, die mythischen Bilder zu verstehen, ja, in Bildern zu denken. Dazu dienen auch die fast dreihundert Abbildungen des Bandes. Das Buch krönt Reinhard Merkelbachs Lebenswerk, das seit seiner Arbeit über "Roman und Mysterium in der Antike" (1962) im Grenzbereich von Philologie und Religionsgeschichte angesiedelt ist. Daß der so esoterisch anmutende Forschungsgegenstand eines der bedeutendsten deutschen Altertumswissenschaftler nun in einem für den Nichtfachmann vollkommen lesbaren und vorbildlich ausgestatteten Buch seinen Niederschlag gefunden hat, ist eine große Leistung von Autor und Verlag.
Eine Art, nicht die einzige, den eingangs nacherzählten Mythos zu verstehen, ist es, sich auf die Verbindung des Osiris mit dem Nil zu konzentrieren. Osiris schwimmt auf dem Nil, er ist der Nil, das Wasser, das die Fruchtbarkeit bringt. Seth wirft das Glied des Osiris in den Nil, der Nil ist der Phallos des Gottes. Isis wird zur Erde. So wie der Nil das Land Ägypten überflutet, so befruchtet Osiris seine Gattin Isis. Dies alles geschieht erst nach dem Tod des Osiris, erst nachdem das Nilwasser auf seinen sommerlichen Tiefstand gesunken, wenn Osiris gestorben ist, kommt die Flut, kann Ägypten, Isis, das lebenspendende Wasser empfangen. Solche Mythen sind erzählende Interpretationen des Lebens.
Merkelbach bietet in diesem ersten Teil eine Gesamtdarstellung der hellenisierten Religion um die Gottheiten Isis, Sarapis und Harpokrates, einer Synthese aus ägyptischen und griechischen Elementen. Herodot setzte die ägyptischen und die griechischen Götter gleich: Isis war für ihn dieselbe Göttin wie die griechische Demeter von Eleusis, Sarapis verschmolz mit Zeus, Harpokrates wurde Eros. Auf diese Weise entstand eine neue Religion. Man nennt dieses Verfahren interpretatio Graeca, Interpretation der fremden Götter nach der griechischen Religion. Daneben steht das umgekehrte Phänomen, die Interpretation der griechischen Traditionen in Religion, Philosophie und Wissenschaft aus ägyptischem Blickwinkel. Für Herodot war fast die ganze griechische Kultur aus Ägypten importiert und von dort her zu verstehen:
Ein "Pan-Ägyptizismus", wie Merkelbach schreibt.
Die Verbindung von ägyptischen und griechischen Mythen konnte gelingen, weil zwischen ihnen eine Art Urverwandtschaft besteht. Sie hat ihren Grund darin, daß in den Mythen Riten von ackerbauenden Gemeinschaften dargestellt werden, die in engem Zusammenhang mit dem Kreislauf der Jahreszeiten stehen. Die Vorgänge in der Natur werden durch ein Schema von Tod und Wiederaufleben erklärt. In den Mysterienkulten wurden solche Mythen gespielt, denn Spielszenen haften in der Erinnerung stärker als reine Erzählungen. Wirksam war für die meisten antiken Menschen nur ein Gott, der anschaulich vor Augen stand. "In den Zeremonien gilt das Nachgeahmte ebensoviel wie das Wirkliche", schrieb ein spätantiker Grammatiker. Im Sarapis-Tempel in Alexandria hatte man in einem Raum einen Magneten an der Decke angebracht. Morgens trug man eine kleine eiserne Statuette des Helios, des Sonnengottes, in den Raum, bis sie sich direkt unter dem Magneten befand. Magnet und Eisen waren so bemessen, daß der Magnet das Eisen so weit emporzog, daß die Statuette des Helios schwebte. "Helios hat sich erhoben", rief der Priester.
Im zweiten Hauptteil stellt Merkelbach insgesamt vier Romane vor, denn ausgerechnet diese literarische Gattung ist religiösen Ursprungs. Was der einzelne erlebte, wurde als Variation dessen empfunden, was die Götter einst in mythischer Zeit erfahren hatten. Diese Weltsicht dokumentiert sich in Liebesromanen, in denen einige mythische Grundvorstellungen in immer neuer Weise variiert werden. Merkelbach versteht diese Romane als Schlüsseltexte: die "Metamorphosen" des Apuleius, die Liebes-und Reiseromane des Xenophon von Ephesos und des Achilleus Tatios sowie der Apollonius-Roman über den König von Tyros.
An ihnen demonstriert er den geistigen Horizont, in dem die Verehrer von Isis und Sarapis lebten. Dabei liegt der religiöse Sinn der Erzählungen nicht immer an der Oberfläche. Die Werke sind über weite Strecken hin auf zwei Ebenen zu verstehen, derjenigen der Erzählung und der anderen des Rituals, der Religion. Merkelbach baut hier eine These aus, die Karl Kerényi 1927 aufgestellt und die er selbst in "Roman und Mysterium" aufgegriffen hatte.
Der älteste erhaltene Isisroman ist die Erzählung von Antheia und Habrokomes des Xenophon von Ephesos, wohl aus der ersten Hälfte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts. In Ephesos leben ein Jüngling von wunderbarer Schönheit, Habrokomes, und Antheia, die schönste der Mädchen. Die beiden verlieben sich und Apollon ordnet ihre Hochzeit an. Anschließend brechen sie zu einer Seereise auf, bei der das Schiff von Seeräubern überfallen und das junge Ehepaar gefangengenommen wird. Die beiden werden getrennt, und für jeden beginnt eine wahre Odyssee.
Habrokomes wird gefoltert und eingesperrt, während man Antheia als Sklavin zunächst nach Syrien verkauft, dann an Kaufleute, die sie mit dem Schiff wegbringen, dabei aber Schiffbruch erleiden. Sie fällt erneut unter die Räuber, deren Hauptmann sie heiraten will. Antheia bittet einen Arzt um Gift, da sie, um ihrem Gatten die Treue zu halten, bereit ist, eher in den Tod zu gehen als die Ehe zu vollziehen. Doch der Arzt gibt ihr nur ein Schlafmittel. Sie fällt wie tot um und wird begraben. In der Nacht brechen Räuber ihr Grab auf. Wiederum wird sie versklavt, begehrt und lebendig begraben.
Währenddessen wird Habrokomes ähnlichen Prüfungen unterzogen. Als er den Antrag einer Frau, die seinetwegen ihren Mann getötet hat, abweist, schiebt diese ihm den Mord unter und verrät ihn an die Behörden. Habrokomes wird gekreuzigt, doch ein Wind, den Sarapis auf Bitten des Jünglings schickt, stürzt ihn mit dem Kreuz in den Nil, auf dem er unversehrt treibt, bis ihn Soldaten herausfischen. Erneut wird er verurteilt, diesmal zum Tod auf dem Scheiterhaufen; als die Flammen ihn bereits umzüngeln, erhebt sich der Nil zu hohen Wellen und löscht das Feuer. Nach weiteren Stationen des Leidens finden sich beide auf Rhodos wieder. Das Volk jubelt und bricht in den Ruf aus: "Groß ist die Herrin Isis", der schließlich auch Antheia und Habrokomes für ihre Rettung dankten.
Viele Partien der Erzählung spielen auf zwei Ebenen: der Erzählebene und der Ebene der Isis-Zeremonien. Manche Bemerkungen des Autors beziehen sich bald auf die eine, bald auf die andere, bald auf beide Ebenen zusammen. Der eingeweihte Leser oder Hörer kann verstehen, was der Dichter gemeint hat, das Entschlüsseln der verschiedenen Bedeutungen macht dem, der es vermag, Freude. Wenn beispielsweise von einer Flucht die Rede ist, kann neben der realen die "Flucht" des platonischen Philosophen und des Isismysten aus der alltäglichen Welt in das jenseitige Reich des Erkennens gemeint sein.
Die Romane spiegeln die Sehnsucht des Menschen nach Glück und Geborgenheit in einem Leben, das so unsicher ist wie eine Schiffsreise. Sicherheit bieten die Mysterienreligionen; Isis, Herrin und Beschützerin der Reisenden, gibt in ihren Mysterien auch die Garantie für das Heil. Dafür muß der Mensch zunächst Prüfungen bestehen, muß eingeweiht werden. Der Initiand geht durch den Tod, um zum wahren Leben zu gelangen. Durch solche Romane erfährt der Myste, was mit ihm in den Einweihungszeremonien geschehen war. Immer wieder werden die Liebenden in der Erzählung vom Tod bedroht, sind gleichsam tot und werden durch die Gottheit, Isis oder Sarapis, zum Leben erweckt und errettet. Dies geschieht in der Erzählung, aber auch in der Realität: Wer sich in die Hände der Isis begibt, dem kann letztlich auch der Tod nichts mehr anhaben. Der Leser, der eingeweiht ist, der die Zeichen deuten kann, weiß, daß alles gut wird. Es geht um Gewißheit, man will immer wieder dasselbe hören, um diese Gewißheit immer wieder aufs neue zu beschwören.
Autoren, die eine Auslegung des ägyptischen Mythos geben, unterteilte Plutarch in die "Simplen" und die "Klügeren". Merkelbach reiht sich mit seinem opus magnum zweifellos unter die letzteren ein. MANFRED CLAUSS
Reinhold Merkelbach: "Isis regina - Zeus Sarapis". Die griechisch-ägyptische Religion nach den Quellen dargestellt. B. G. Teubner Verlag, Stuttgart/Leipzig 1995. 722 S., zahlr. Abb., geb., 245,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main