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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Empfehlenswert: Ein Band über die Vielfalt des Islams
Je stärker in Deutschland der Islam die öffentlichen Debatten prägt, umso mehr "besorgte Bürger" melden sich zu Wort - manchmal schlicht nur Hetzer, die sich zu Fachleuten für das Thema erklären. Mit grobklotzigen Behauptungen ziehen sie durchs Land, etwa dass sich jeder Muslim bedingungslos an den Koran klammere, dass der Koran ein Buch des Schwertes sei und dass es jedem Muslim auferlegt sei, "Ungläubige" zu töten. Meist mischt sich ein Körnchen Wahrheit unter viel Unsinn, und meist gilt die Regel: je geringer das Wissen, desto sicherer das Urteil.
Unverändert gering bleibt jedoch die Zahl der Kenner. Der von Rainer Brunner, der am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris als Directeur de recherche arbeitet und an der Universität Freiburg lehrt, herausgegebene Sammelband lässt einunddreißig, meist junge deutschsprachige Wissenschaftler zu Wort kommen. Sie behandeln in verständlich verfassten Beiträgen die Themen, die unsere aktuellen Debatten prägen oder mehr Beachtung verdienten. Der Band zeigt, wozu die deutschsprachige Islamwissenschaft in der Lage ist.
Die Themen reichen von Mohammed, dem Koran und der Prophetentradition; über die Theologie, das Recht und die politischen Ordnungsvorstellungen; bis zum heutigen Salafismus und dem Islam in Europa. Behandelt werden zudem Themen wie die Philosophie und Naturwissenschaften, wie Literatur, Kunst und Architektur, nicht zuletzt die Stellung der Frauen und der Nichtmuslime. Die Autoren schlagen dabei eine Brücke von den Dogmen, die sich in der Frühzeit des Islams ausgebildet haben, zu ihrer Wirkung in der Gegenwart.
Wie ein roter Faden zieht sich durch die Beiträge, wie stark die islamische Tradition von einer Ambiguitätstoleranz geprägt war und wie selbstverständlich sie es hinnahm, dass es bei ein und derselben Frage stets mehrere konkurrierende Meinungen gab. Alltäglich waren alternative Interpretationen des Korans und ein hermeneutischer Zugang zum Text; erst im zwanzigsten Jahrhundert setzte sich eine eindeutige Koranauslegung durch, die für die Mehrheit der Muslime verbindlich wurde.
Neu wird für viele Leser auch sein, wie sehr der Koran auch ein Text der Spätantike ist, der Normen und literarischen Ausdrucksformen jener Zeit aufnahm. So beeinflussten Predigten und Dichtungen der syrisch-christlichen Kirche die ersten Koransuren, die auf das Weltende hinweisen. Zudem waren Mohammeds Hörer offenbar mit biblischen Texten vertraut. Mohammed verdichtete sie und setzte sich dann von ihnen ab.
Klar wird, dass die Muslime unter Scharia etwas anderes verstehen als das, was hierzulande behauptet wird - nämlich abstrakt "Gottes Wegleitung und Gebote"; erst das "Rechtsdenken" (arabisch: fiqh) der Rechtsgelehrten (fuqaha) setzt dieses konkret in Rechtsvorschriften um. Dieses islamische Recht ist kein kodifiziertes Recht, sondern ein Juristenrecht, wie es Richter entwickelt haben. Ambiguitätstoleranz setzte sich auch im juristischen Denken durch, was Flexibilität und ständige Weiterentwicklungen ermöglichte. Erst die rechtliche Kodifizierung im neunzehnten Jahrhundert hat das beendet.
Seit der Moderne setzen sich die Muslime mit der Überlegenheit des Westens auseinander, und so entstanden islamische Reformbewegungen. Die einen wollen dem Westen mit einer Rückbesinnung auf den frühen Islam begegnen, andere wollen eine Synthese von Islam und den westlichen Errungenschaften. Aus dem Glaubenssystem Islam setzte sich so der Islamismus ab, mit einem politischem Programm, das sich aus dem Islam ableitet: Dabei breitete sich in weniger als einem halben Jahrhundert der Dschihadismus in transnationalen Terrorgruppen aus; gleichzeitig rücken aber gemäßigte Islamisten von früheren theokratischen Konzepten ab.
Unter ihnen hat eine Konvergenz zur Regierungsform der Demokratie eingesetzt, denn sie wird nicht mehr als "westliche" Regierungsform wahrgenommen, sondern als universell gültige. Beispielsweise leiten heute die ägyptischen Muslimbrüder aus der Scharia die Demokratie, das Gebot freier Wahlen und den Schutz vor staatlicher Willkür ab. Im Zentrum der innerislamischen Diskurse steht, wie weit Religion die Politik bestimmen dürfe und wie die Scharia auszulegen sei. Welche "Politik" Islamisten letztlich aus dem Islam ableiten, das hängt maßgeblich von den Rahmenbedingungen und den lokalen kulturellen Traditionen ab.
Der Sammelband zeichnet nach, worin die dogmatische Einheit des Islams besteht und wie vielfältig die Welt des Islams dennoch ist. Einzelne Kapitel eignen sich für den Schulunterricht beim Thema Islam. Wer sich in der Materie auskennt, wird sein Wissen erweitern, und wer sich einlesen will, begreift rasch, dass der Islam keineswegs so plump ist, wie die selbsternannten "Islamkenner" glauben machen wollen.
RAINER HERMANN
Rainer Brunner (Hrsg.):
"Islam". Einheit und Vielfalt einer Weltreligion.
Verlag W. Kohlhammer,
Stuttgart 2016.
666 S., geb., 50,- [Euro].
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