Dieses Buch kommt bescheiden daher, sein Inhalt aber ist bedeutend: Die Scharia geht auf eine Übersetzung des römischen Rechts zurück. Die in der islamischen Tradition behauptete Verbindung zum arabischen Propheten wurde erst nachträglich hergestellt.
Jokisch hat endeckt, dass es zwischen einer
ganz bestimmten Kodifikation des Justinianischen Rechts, der zwischen 630 und 650 auf griechisch…mehrDieses Buch kommt bescheiden daher, sein Inhalt aber ist bedeutend: Die Scharia geht auf eine Übersetzung des römischen Rechts zurück. Die in der islamischen Tradition behauptete Verbindung zum arabischen Propheten wurde erst nachträglich hergestellt.
Jokisch hat endeckt, dass es zwischen einer ganz bestimmten Kodifikation des Justinianischen Rechts, der zwischen 630 und 650 auf griechisch erstellten „Digestsumma“ des älteren Anonymus sowie der um 620 erstellten „Glosse“ des jüngeren Anonymus (Enantiophanes) einerseits und den Werken des laut Traditionsliteratur aus Wasit im Süden des Zweistromlandes stammenden Juristen Muhammad Al-Shaybani andererseits Übereinstimmungen gibt, die nur durch eine unmittelbare Übernahme durch Übersetzung zu erklären sind. Um dies nachvollziehen zu können, muss sich der Leser in das Mängelrecht im Sklavenhandel hineindenken. In der griechischen Vorlage geht es z.B. um Sklaven, die nicht zu ihrem Herren zurückkehren. Es wird zwischen solchen unterschieden, die nur kurze Zeit ausbleiben, weil sie bummeln, und solchen, die eines Tages möglicherweise ganz ausbleiben, weil sie schon einmal versucht hatten wegzulaufen. Im islamischen Recht wurde daraus eine Unterscheidung zwischen Unzuverlässigkeit bei jungen und bei erwachsenen Sklaven. Wo der griechische Text zwischen der Dauer des Ausbleibens unterscheidet, stellt der arabische aufgrund eines Übersetzungsfehlers auf das Lebensalter ab. Ein weiteres Beispiel ist die Linkshändigkeit. Im römischen Recht war dies kein Mangel. Allerdings war die Überschrift dieses Rechtssatzes in der Digestsumma etwas zu knapp geraten. Sie ist dort nur verständlich, wenn man den vorhergehenden Rechtssatz mit berücksichtigt: „Ein Sklave, der kehlig spricht oder hervortretende Augen hat ist gesund [...] Ebenso der Linkshänder“. In der arabischen Fassung wurde der Zusammenhang aufgelöst und aus der zu knappen Inhaltsangabe darauf geschlossen, dass auch Linkshändigkeit ein Mangel sei. Solche Übertragungsfehler weisen dem Philologen den Weg. Sie erlauben Jokisch, ein groß angelegtes Übersetzungsprojekt zu rekonstruieren, das er zwischen 786 und 803 datiert, und das von zwei Juristen im Auftrag der Herrschaft betrieben wurde, Muhammad al-Shaybani (TL etwa 750–805) und Abu Yusuf Yakub al-Kufi (TL 731–798). Interessanterweise aber wurde die Herkunft des neuen Rechts von Anfang an verschleiert, indem es als Lehre des zur Zeit der Übersetzung noch nicht lange verstorbenen Kufischen Gelehrten Abu Hanifa (TL etwa 699–767) ausgegeben wurden. Als sich später, im 9. Jahrhundert, orthodoxe Tendenzen durchsetzten, wurden Al-Shaybani und Abu Yusuf aus den Überliefererketten entfernt und die Herkunft in die Zeit noch vor Abu Hanifa zurückverlegt. Erst von dieser Zeit an wurden die aus dem römischen Recht entlehnten Rechtssätze auf den arabischen Propheten zurückgeführt. Unter den Händen der Orthodoxen wurde das islamische Recht der Schriftgelehrten („Jurists Law“) geformt, wie es teilweise noch heute als „Scharia“ angewandt wird. Dabei nahm offenbar niemand am römischen Inhalt dieses Rechts Anstoß. Wichtig war vor allem, dass ein „Hadith“ eine arabische Überliefererkette hatte. Ein Menschenalter nach der Übertragung ins Arabische war den meisten Gelehrten der kaiserlich römische Ursprung ihrer Rechtssätze schon nicht mehr bewusst.
(Gekürzter und leicht veränderter Auszug aus meinem Beitrag in: Imprimatur, Heft 1 aus 2012, siehe unter www.imprimatur-trier.de)