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Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ ist keine neue Bewegung. Das ist nicht der einzige Irrtum, den Behnam T. Said korrigiert
Schon auf der ersten Seite seines Buches, noch im Vorwort, macht der Verfasser ein überraschendes und sympathisches Eingeständnis. Als er im Jahr 2005 als 24-jähriger Student des Arabischen und der Islam-Wissenschaften zum ersten Mal nach Syrien kam, hatte er noch nie gehört, dass der Gründer der Dynastie Assad, Präsident Hafis al-Assad, im Februar 1982 die Stadt Hama mit Artillerie, Bomben und Panzern in Schutt und Asche legen und dabei mindestens 20 000 ihrer Einwohner abschlachten ließ.
Überraschend ist das deshalb, weil jenes Massaker für jeden, der sich mit dem Land und speziell mit dem Kampf des Regimes gegen die Muslimbrüder beschäftigt, Teil der ersten Stunde seines Studiums ist. Sympathisch ist es, weil Behnam Said weder seinen heutigen gewaltigen Wissensstand auf damals zurückprojiziert, noch einen schnellen oder leichten Zugang zu seinem Thema auf die Tatsache zurückführt, dass er selber Muslim ist.
Behnam T. Said ist in Deutschland als Sohn eines afghanischen Vaters und damit als Muslim geboren. Auch wenn er sich selber als „laizistisch“ definiert, dürfte dadurch verständlich werden, dass ihm gewisse Grundbegriffe des Glaubens und Verhaltensweisen der Gläubigen von Jugend an vertraut sind. Seine Biografie enthält keine Hinweise auf jahrelange Studien des Arabischen, die nötig wären, um die Quellen, die er korrekt und ausführlich zitiert, alle selber auszuwählen und zu lesen. Aber das schadet dem Werk nicht. Falls er es nicht selber konnte, hatte er kundige Helfer.
Für die meisten Westler brach der Islamische Staat wie ein plötzlicher Sandsturm aus der Wüste über die Städte und alten Kulturlandschaften Syriens und des Irak herein. Mit dieser Vorstellung räumt Said gründlich auf. Das Gebilde, das sich erst Islamischer Staat im Irak und an der Levante, kurz Isis oder Isil nannte, ist keine Fata Morgana. Seine ideologischen und organisatorischen Wurzeln sowie die Aktivitäten seiner Vordenker reichen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurück. Said kennt sie alle.
Unter dem Einfluss der ägyptischen Muslimbrüder wurde der syrische Zweig der Organisation in Hama sogar schon 1942 gegründet. Nach langem und zähem Widerstand gegen die französische Kolonialherrschaft brach in dieser Stadt 1964 erstmals ein Aufstand gegen die „Atheisten“ der Baath-Partei aus. Der Kleinkrieg gegen den Staat erreichte 1979 mit dem Angriff auf eine Militärakademie in Aleppo einen Höhepunkt, bei dem Dutzende Kadetten getötet wurden.
Die Muslimbrüder und ihre Sympathisanten, die für Assad herrschaftsbedrohend geworden waren, suchte der Präsident danach durch sein brutales Vorgehen auszurotten. Seit 1980 steht die bloße Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern in Syrien unter Todesstrafe. Doch die ins Ausland geflohenen Führer bauten ihr Netz von Aktivisten im Untergrund weiter aus. „Es scheint fast so, als wären die syrischen Dschihadisten nach einem Tiefschlaf kräftiger und aggressiver als zuvor wieder erwacht. Der Albtraum Hafis al-Assads holt nun dessen Sohn Baschar al-Assad ein.“ So Said zur Entstehungsgeschichte des Problems.
Der Islamische Staat, den die Araber (und die Iraner) mit seiner arabischen Abkürzung „Daesch“ nennen, ist kein Monolith, was Said sehr gut beschreibt. Für die vielen Gruppen und Grüppchen, die einander mitunter unterstützen, sich zeitweise vereinigen, wieder zerstreiten, einander bekämpfen, gibt es allenfalls ein gemeinsames Ziel, das der Ägypter Sayyid Qutb formulierte, bevor ihn Gamal Abdel Nasser hinrichten ließ: Zur Herstellung einer gottgefälligen Ordnung auf Erden, erklärt Said, müsse eine islamische Avantgarde von Revolutionären die Gläubigen zunächst von Herrschern befreien, „die sich Muslime nennen, aber in Wirklichkeit vom Glauben abgefallen seien“.
Wie andere mordende Dschihadisten auch betrachtet der falsche Kalif Abu Bakr al-Bagdadi den „nahen Feind“ zunächst als wichtigeren Gegner denn den „fernen Feind“ des Imperialismus. Um seinem Ziel näherzukommen, lässt er Ketzer wie Ungläubige hinrichten und ihre Heiligtümer zerstören.
Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die konkurrierenden Gruppen aufzuführen, unter denen die Ansar al-Scharia (Helfer der Scharia) oder die Dschabhat al-Nusra (Unterstützungsfront) zu den wichtigsten zählen – samt ihren jeweiligen Verflechtungen mit Gruppen von al-Qaida. Bereits seit den Anfangsjahren des Aufstands waren ausländische Freiwillige für den Kampf im Irak bedeutsam. Die größten Kontingente stellten zunächst Saudis und Libyer, gefolgt von Syrern, Jemeniten, Algeriern, Marokkanern und Jordaniern. Al- Qaida ließ sie in den sogenannten Sinjar Records festhalten, die den Regierungstruppen 2007 in die Hände fielen. Später, mit der Ausdehnung des Kampfes auf Syrien, kamen Freiwillige aus vielen islamischen Ländern, darunter vor allem Tunesier und Tschetschenen, sowie Muslime und Konvertiten aus Europa.
Behnam Said hat ein unentbehrliches Handbuch der islamistischen Internationale geliefert, ein „Wer-ist-wer“ der Anführer, Propagandisten und Werber. Da Said nach eigenem Zeugnis für den Hamburger Verfassungsschutz arbeitet, ist er über die „deutschen Brigaden“ beim Islamischen Staat besonders gut informiert. Seine Darstellung macht indessen auch deutlich, dass die deutsche Dschihadisten-Bewegung zwar viel Radau macht und potenziell gefährlich, aber zahlenmäßig ein winziges Häuflein mit vorwiegend virtueller Existenz ist. Gäbe es nicht das Internet, Netzwerke wie Facebook und dergleichen, sie wären kaum sichtbar und für Anfällige weniger attraktiv.
Auf eine mögliche Expansionsrichtung der Dschihadisten über Syrien und den Irak geht der Autor kurz ein. Er zitiert Hassan Nasrallah, den Chef der libanesischen Hisbollah, mit einer Bemerkung vom vergangenen Juni: Die Isis wäre längst in Libanon, hätte die Hisbollah nicht in Syrien interveniert.
RUDOLPH CHIMELLI
Behnam T. Said: Islamischer Staat, IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden“. C.H. Beck, München 2014. 223 Seiten, 14,95 Euro.
Über die „deutschen Brigaden“
unter den IS-Truppen ist
Said hervorragend gut informiert
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Der Orientalist Behnam Timo Said schildert die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak und warnt eindringlich vor den Folgen für die Türkei und damit für die Nato.
Von Wolfgang Günter Lerch
Wird es gelingen, den "Islamischen Staat" (IS) zu stoppen und den dauerhaften Aufbau eines neuen "Kalifats" zu verhindern? Behnam T. Said, Orientalist und Autor des ersten Buches über die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak, ist skeptisch. Er sagt voraus, dass der IS kein flüchtiges Phänomen sei, das bald wieder verschwinden werde, im Gegenteil. Der augenblickliche Gang der Dinge scheint ihm recht zu geben. Nach dem Ansturm der Dschihadisten auf den kurdischen Ort Kobani an der syrisch-türkischen Grenze droht neue Gefahr, nicht nur Syrien, sondern der Türkei, damit auch der Nato.
Die detailreiche Schilderung der Ereignisse in Syrien und im Irak greift auch auf andere Regionen des Nahen Ostens aus und wird so zur lesenswerten Geschichte des Dschihadismus insgesamt. Der ist längst transnational geworden. Schwerpunkte sind jedoch Syrien und der Irak. Die Ursprünge islamistischer Militanz in Syrien liegen weit zurück und gingen an der westlichen Öffentlichkeit lange vorbei. Man schaute auf Iran, später Afghanistan oder den "arabischen Frühling". Protagonist der ersten islamistischen Attacken gegen das Assad-Regime waren die Muslimbrüder Syriens. Dafür stehen Namen wie Marwan Hadid, Said Hawwa oder Adnan Saaduddin. Schon 1962/63 zettelten die "Brüder" in Hama einen Aufstand an, da sie - als fundamentalistisch gesinnte Vertreter des sunnitischen Mehrheitsislams - die weltlich-sozialistische Ideologie der gerade an die Macht gekommenen Baath-Partei als "atheistisch" ablehnten. Das verstärkte sich, als mit General Hafiz al Assad 1970/71 die Alawiten an die Macht kamen, jene heterodoxen Schiiten, die etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen und lange unterdrückt wurden.
Der erste syrische "Dschihad" intensivierte sich und fand seinen Höhepunkt in den blutigen Ereignissen von Hama, als Assad-Vater im Februar 1980 den dortigen Aufstand der Muslimbrüder niederschlagen und Teile der Stadt Hama zerstören ließ. Das forderte zwischen 10 000 und 40 000 Menschenleben. Die Muslimbrüder gingen ins Exil nach Jordanien, später in den Irak.
Zwei Ereignisse öffneten dann die Büchse der Pandora: der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die zehn Jahre währende sowjetische Besetzung des Landes zwischen 1979 und 1989 sowie der amerikanisch-britische Irak-Krieg, mit dem man 2003 Saddam Hussein stürzte. In Afghanistan entstand jene dschihadistische "Internationale", die seither die Szene beherrscht: Muslime aus vielen Ländern unterstützten die afghanischen Mudschahedin in ihrem Kampf. Diese "Afghanen" waren und sind auch später an allen Brennpunkten des Dschihad zu finden. 1989 entstand unter dem Palästinenser al Azzam und dem in Saudi-Arabien geborenen und aufgewachsenen Jemeniten Usama Bin Ladin die Kampforganisation Al Qaida ("Basis"), die sich zur Keimzelle anderer terroristischer Gruppierungen entwickelte.
Ohne den Sturz Saddam Husseins, so der Autor, und das durch ihn entstandene Vakuum, in das die irakischen Schiiten mit ihren Machtansprüchen unter Ministerpräsident Nuri al Maliki stießen, wäre die Entwicklung anders verlaufen. Die Al Qaida im Irak (AQI) von Abu Musab al Zarqawi, der "Islamische Staat im Irak" (ISI), schließlich der "Islamische Staat im Irak und in Syrien" (Isis) und der "Islamische Staat" (IS) unter Führung des nun in al Raqqa residierenden "Kalifen" Abu Bakr al Bagdadi wären ohne den Irak-Krieg nicht denkbar; vor allem jedoch das Übergreifen jener terroristischen Kräfte auf Syrien, aus dem auch die Dschabha al Nusra ("Unterstützungsfront") al Jaulanis im Jahre 2012 entstanden ist. Das Verhältnis all dieser Gruppen zur Kern-al-Qaida und zu ihrem jetzigen Führer Aiman al Zawahiri, der nach der gezielten Tötung Usama Bin Ladins durch ein amerikanisches Spezialkommando die Führungsfigur aller Dschihadisten sein möchte, ist zwiespältig: Sie teilen deren Ziele, lehnen jedoch den Machtanspruch Zawahiris ab.
Der zweite syrische Dschihad nun setzte sich auf eine Demokratiebewegung, die anfangs alles andere war als islamistisch. Doch sie wurde es, nicht zuletzt durch den Zustrom dschihadistisch gesinnter Kämpfer aus vielen Teilen der muslimischen Welt, denen das diktatorische und "sektiererische" Regime von Baschar al Assad ebenso verhasst ist wie das seines Vaters. Etliche Deutsche sind darunter, die oft der relativ neuen Salafistenszene bei uns entstammen. Said, ein Fachmann für den Salafismus, vergleicht diese transnationalen Terroristen mit jenen Kämpfern, die aufbrachen, um zwischen 1936 und 1939 am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Einige der deutschen Protagonisten werden in dem Buch vorgestellt, so der ehemalige Rapper Denis Cuspert (Abu Talha al Almani); ihre Propaganda in den sozialen Netzwerken ist intensiv, verfängt bei wenigen Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund. Aus dem Kampf gegen das alawitische Assad-Regime wurde inzwischen auch ein Stellvertreterkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Mächten, der die Weltgemeinschaft herausfordert.
Der "Islamische Staat" agiert nach den Angaben des Autors mit einer Mischung aus unmenschlicher Repression, Greueltaten und sozialen Wohltaten. Er baut allmählich staatliche Strukturen, wie Schulen, Gerichte, Sozialfürsorge, auf und lebt von Einnahmen aus der Erdöl- und Gasförderung. Sein sichtbarer "Erfolg" macht ihn für manche attraktiv, zumal die Idee eines umfassenden islamischen Staates, der die von den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien künstlich nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen sprengt, nicht unbeliebt ist. Der IS preist sich selbst als der Liquidator von Sykes-Picot an, jenes Abkommens, das 1916 zwischen Paris und London geheim abgeschlossen worden war. Den Islamisten gilt der Nationalstaat als Götzendienst. Mit der Proklamation des neuen "Kalifats" Ende Juni 2014 ist der Dschihadismus Europa bedenklich nahe gerückt. Gefahr ist im Verzug.
Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden.
C. H. Beck Verlag, München 2014. 244 S., 14,95 [Euro].
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