Unter den Augen der staunenden Weltöffentlichkeit haben Islamisten der Miliz «Islamischer Staat» (IS) ein riesiges Gebiet in Irak und Syrien mit Großstädten, Waffenarsenalen und Ölvorkommen unter ihre Kontrolle gebracht – ein «Kalifat», das einmal die gesamte islamische Welt beherrschen und alle «Ungläubigen» unterjochen soll. Die riesige Terrororganisation zerstört den Frieden in der Region, bedroht Israel, verfolgt rücksichtslos Christen, Aleviten, Jeziden, Schiiten und überhaupt alle, die sich nicht zum «Islamischen Staat» bekennen, und vernichtet ihr kulturelles Erbe. Der Jihadismus-Experte Behnam T. Said geht den Hintergründen dieser Gefahr nach. Er erklärt, wie in Syrien seit Jahrzehnten im Geheimen islamistische Gruppen entstanden sind, die sich im Schatten der Aufstände gegen das Asad-Regime eine Machtbasis schaffen konnten, und wie es zur Feindschaft zwischen IS und al-Qaida – vertreten durch die kaum weniger gefährliche al-Nusra-Front – gekommen ist. Nicht zuletzt macht er deutlich, warum so viele Islamisten aus aller Welt, aus dem Westen und gerade aus Deutschland den Jihad unterstützen. Ein «Muss» für alle, die die Gefahr vor den Toren Europas besser verstehen wollen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Sehr hilfreich findet Rudolph Chimelli diesen Band, den er als "unverzichtbares Handbuch der islamistischen Internationale" bezeichnet. Hier lernt er alle über die führenden Gestalten des Dschihads, seine einzelnen Gruppen und Untergruppen, über Propaganda und Netzwerke. Zudem sieht der Rezensent hier gut dargestellt, dass der islamische Staat in Syrien alles andere als aus dem Nichts entstanden ist, sondern in einer langen Geschichte der Unterdrückung der sunnitischen Minderheiten und der Muslimbrüder wurzelt. Besonders interessant findet Chimelli, dass Behnam T. Said die Dschihadisten in Deutschland als eher "winziges Häuflein mit vorwiegend virtueller Existenz" beschreibt, immerhin sei der Autor Mitarbeiter des Hamburger Verfassungsschutzes.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2014Al Qaida, al Nusra, "Islamischer Staat"
Der Orientalist Behnam Timo Said schildert die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak und warnt eindringlich vor den Folgen für die Türkei und damit für die Nato.
Von Wolfgang Günter Lerch
Wird es gelingen, den "Islamischen Staat" (IS) zu stoppen und den dauerhaften Aufbau eines neuen "Kalifats" zu verhindern? Behnam T. Said, Orientalist und Autor des ersten Buches über die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak, ist skeptisch. Er sagt voraus, dass der IS kein flüchtiges Phänomen sei, das bald wieder verschwinden werde, im Gegenteil. Der augenblickliche Gang der Dinge scheint ihm recht zu geben. Nach dem Ansturm der Dschihadisten auf den kurdischen Ort Kobani an der syrisch-türkischen Grenze droht neue Gefahr, nicht nur Syrien, sondern der Türkei, damit auch der Nato.
Die detailreiche Schilderung der Ereignisse in Syrien und im Irak greift auch auf andere Regionen des Nahen Ostens aus und wird so zur lesenswerten Geschichte des Dschihadismus insgesamt. Der ist längst transnational geworden. Schwerpunkte sind jedoch Syrien und der Irak. Die Ursprünge islamistischer Militanz in Syrien liegen weit zurück und gingen an der westlichen Öffentlichkeit lange vorbei. Man schaute auf Iran, später Afghanistan oder den "arabischen Frühling". Protagonist der ersten islamistischen Attacken gegen das Assad-Regime waren die Muslimbrüder Syriens. Dafür stehen Namen wie Marwan Hadid, Said Hawwa oder Adnan Saaduddin. Schon 1962/63 zettelten die "Brüder" in Hama einen Aufstand an, da sie - als fundamentalistisch gesinnte Vertreter des sunnitischen Mehrheitsislams - die weltlich-sozialistische Ideologie der gerade an die Macht gekommenen Baath-Partei als "atheistisch" ablehnten. Das verstärkte sich, als mit General Hafiz al Assad 1970/71 die Alawiten an die Macht kamen, jene heterodoxen Schiiten, die etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen und lange unterdrückt wurden.
Der erste syrische "Dschihad" intensivierte sich und fand seinen Höhepunkt in den blutigen Ereignissen von Hama, als Assad-Vater im Februar 1980 den dortigen Aufstand der Muslimbrüder niederschlagen und Teile der Stadt Hama zerstören ließ. Das forderte zwischen 10 000 und 40 000 Menschenleben. Die Muslimbrüder gingen ins Exil nach Jordanien, später in den Irak.
Zwei Ereignisse öffneten dann die Büchse der Pandora: der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die zehn Jahre währende sowjetische Besetzung des Landes zwischen 1979 und 1989 sowie der amerikanisch-britische Irak-Krieg, mit dem man 2003 Saddam Hussein stürzte. In Afghanistan entstand jene dschihadistische "Internationale", die seither die Szene beherrscht: Muslime aus vielen Ländern unterstützten die afghanischen Mudschahedin in ihrem Kampf. Diese "Afghanen" waren und sind auch später an allen Brennpunkten des Dschihad zu finden. 1989 entstand unter dem Palästinenser al Azzam und dem in Saudi-Arabien geborenen und aufgewachsenen Jemeniten Usama Bin Ladin die Kampforganisation Al Qaida ("Basis"), die sich zur Keimzelle anderer terroristischer Gruppierungen entwickelte.
Ohne den Sturz Saddam Husseins, so der Autor, und das durch ihn entstandene Vakuum, in das die irakischen Schiiten mit ihren Machtansprüchen unter Ministerpräsident Nuri al Maliki stießen, wäre die Entwicklung anders verlaufen. Die Al Qaida im Irak (AQI) von Abu Musab al Zarqawi, der "Islamische Staat im Irak" (ISI), schließlich der "Islamische Staat im Irak und in Syrien" (Isis) und der "Islamische Staat" (IS) unter Führung des nun in al Raqqa residierenden "Kalifen" Abu Bakr al Bagdadi wären ohne den Irak-Krieg nicht denkbar; vor allem jedoch das Übergreifen jener terroristischen Kräfte auf Syrien, aus dem auch die Dschabha al Nusra ("Unterstützungsfront") al Jaulanis im Jahre 2012 entstanden ist. Das Verhältnis all dieser Gruppen zur Kern-al-Qaida und zu ihrem jetzigen Führer Aiman al Zawahiri, der nach der gezielten Tötung Usama Bin Ladins durch ein amerikanisches Spezialkommando die Führungsfigur aller Dschihadisten sein möchte, ist zwiespältig: Sie teilen deren Ziele, lehnen jedoch den Machtanspruch Zawahiris ab.
Der zweite syrische Dschihad nun setzte sich auf eine Demokratiebewegung, die anfangs alles andere war als islamistisch. Doch sie wurde es, nicht zuletzt durch den Zustrom dschihadistisch gesinnter Kämpfer aus vielen Teilen der muslimischen Welt, denen das diktatorische und "sektiererische" Regime von Baschar al Assad ebenso verhasst ist wie das seines Vaters. Etliche Deutsche sind darunter, die oft der relativ neuen Salafistenszene bei uns entstammen. Said, ein Fachmann für den Salafismus, vergleicht diese transnationalen Terroristen mit jenen Kämpfern, die aufbrachen, um zwischen 1936 und 1939 am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Einige der deutschen Protagonisten werden in dem Buch vorgestellt, so der ehemalige Rapper Denis Cuspert (Abu Talha al Almani); ihre Propaganda in den sozialen Netzwerken ist intensiv, verfängt bei wenigen Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund. Aus dem Kampf gegen das alawitische Assad-Regime wurde inzwischen auch ein Stellvertreterkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Mächten, der die Weltgemeinschaft herausfordert.
Der "Islamische Staat" agiert nach den Angaben des Autors mit einer Mischung aus unmenschlicher Repression, Greueltaten und sozialen Wohltaten. Er baut allmählich staatliche Strukturen, wie Schulen, Gerichte, Sozialfürsorge, auf und lebt von Einnahmen aus der Erdöl- und Gasförderung. Sein sichtbarer "Erfolg" macht ihn für manche attraktiv, zumal die Idee eines umfassenden islamischen Staates, der die von den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien künstlich nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen sprengt, nicht unbeliebt ist. Der IS preist sich selbst als der Liquidator von Sykes-Picot an, jenes Abkommens, das 1916 zwischen Paris und London geheim abgeschlossen worden war. Den Islamisten gilt der Nationalstaat als Götzendienst. Mit der Proklamation des neuen "Kalifats" Ende Juni 2014 ist der Dschihadismus Europa bedenklich nahe gerückt. Gefahr ist im Verzug.
Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden.
C. H. Beck Verlag, München 2014. 244 S., 14,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Orientalist Behnam Timo Said schildert die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak und warnt eindringlich vor den Folgen für die Türkei und damit für die Nato.
Von Wolfgang Günter Lerch
Wird es gelingen, den "Islamischen Staat" (IS) zu stoppen und den dauerhaften Aufbau eines neuen "Kalifats" zu verhindern? Behnam T. Said, Orientalist und Autor des ersten Buches über die jüngste dschihadistische Entwicklung in Syrien und im Irak, ist skeptisch. Er sagt voraus, dass der IS kein flüchtiges Phänomen sei, das bald wieder verschwinden werde, im Gegenteil. Der augenblickliche Gang der Dinge scheint ihm recht zu geben. Nach dem Ansturm der Dschihadisten auf den kurdischen Ort Kobani an der syrisch-türkischen Grenze droht neue Gefahr, nicht nur Syrien, sondern der Türkei, damit auch der Nato.
Die detailreiche Schilderung der Ereignisse in Syrien und im Irak greift auch auf andere Regionen des Nahen Ostens aus und wird so zur lesenswerten Geschichte des Dschihadismus insgesamt. Der ist längst transnational geworden. Schwerpunkte sind jedoch Syrien und der Irak. Die Ursprünge islamistischer Militanz in Syrien liegen weit zurück und gingen an der westlichen Öffentlichkeit lange vorbei. Man schaute auf Iran, später Afghanistan oder den "arabischen Frühling". Protagonist der ersten islamistischen Attacken gegen das Assad-Regime waren die Muslimbrüder Syriens. Dafür stehen Namen wie Marwan Hadid, Said Hawwa oder Adnan Saaduddin. Schon 1962/63 zettelten die "Brüder" in Hama einen Aufstand an, da sie - als fundamentalistisch gesinnte Vertreter des sunnitischen Mehrheitsislams - die weltlich-sozialistische Ideologie der gerade an die Macht gekommenen Baath-Partei als "atheistisch" ablehnten. Das verstärkte sich, als mit General Hafiz al Assad 1970/71 die Alawiten an die Macht kamen, jene heterodoxen Schiiten, die etwa zehn Prozent der syrischen Bevölkerung ausmachen und lange unterdrückt wurden.
Der erste syrische "Dschihad" intensivierte sich und fand seinen Höhepunkt in den blutigen Ereignissen von Hama, als Assad-Vater im Februar 1980 den dortigen Aufstand der Muslimbrüder niederschlagen und Teile der Stadt Hama zerstören ließ. Das forderte zwischen 10 000 und 40 000 Menschenleben. Die Muslimbrüder gingen ins Exil nach Jordanien, später in den Irak.
Zwei Ereignisse öffneten dann die Büchse der Pandora: der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan und die zehn Jahre währende sowjetische Besetzung des Landes zwischen 1979 und 1989 sowie der amerikanisch-britische Irak-Krieg, mit dem man 2003 Saddam Hussein stürzte. In Afghanistan entstand jene dschihadistische "Internationale", die seither die Szene beherrscht: Muslime aus vielen Ländern unterstützten die afghanischen Mudschahedin in ihrem Kampf. Diese "Afghanen" waren und sind auch später an allen Brennpunkten des Dschihad zu finden. 1989 entstand unter dem Palästinenser al Azzam und dem in Saudi-Arabien geborenen und aufgewachsenen Jemeniten Usama Bin Ladin die Kampforganisation Al Qaida ("Basis"), die sich zur Keimzelle anderer terroristischer Gruppierungen entwickelte.
Ohne den Sturz Saddam Husseins, so der Autor, und das durch ihn entstandene Vakuum, in das die irakischen Schiiten mit ihren Machtansprüchen unter Ministerpräsident Nuri al Maliki stießen, wäre die Entwicklung anders verlaufen. Die Al Qaida im Irak (AQI) von Abu Musab al Zarqawi, der "Islamische Staat im Irak" (ISI), schließlich der "Islamische Staat im Irak und in Syrien" (Isis) und der "Islamische Staat" (IS) unter Führung des nun in al Raqqa residierenden "Kalifen" Abu Bakr al Bagdadi wären ohne den Irak-Krieg nicht denkbar; vor allem jedoch das Übergreifen jener terroristischen Kräfte auf Syrien, aus dem auch die Dschabha al Nusra ("Unterstützungsfront") al Jaulanis im Jahre 2012 entstanden ist. Das Verhältnis all dieser Gruppen zur Kern-al-Qaida und zu ihrem jetzigen Führer Aiman al Zawahiri, der nach der gezielten Tötung Usama Bin Ladins durch ein amerikanisches Spezialkommando die Führungsfigur aller Dschihadisten sein möchte, ist zwiespältig: Sie teilen deren Ziele, lehnen jedoch den Machtanspruch Zawahiris ab.
Der zweite syrische Dschihad nun setzte sich auf eine Demokratiebewegung, die anfangs alles andere war als islamistisch. Doch sie wurde es, nicht zuletzt durch den Zustrom dschihadistisch gesinnter Kämpfer aus vielen Teilen der muslimischen Welt, denen das diktatorische und "sektiererische" Regime von Baschar al Assad ebenso verhasst ist wie das seines Vaters. Etliche Deutsche sind darunter, die oft der relativ neuen Salafistenszene bei uns entstammen. Said, ein Fachmann für den Salafismus, vergleicht diese transnationalen Terroristen mit jenen Kämpfern, die aufbrachen, um zwischen 1936 und 1939 am spanischen Bürgerkrieg teilzunehmen. Einige der deutschen Protagonisten werden in dem Buch vorgestellt, so der ehemalige Rapper Denis Cuspert (Abu Talha al Almani); ihre Propaganda in den sozialen Netzwerken ist intensiv, verfängt bei wenigen Jugendlichen mit oder ohne Migrationshintergrund. Aus dem Kampf gegen das alawitische Assad-Regime wurde inzwischen auch ein Stellvertreterkrieg zwischen sunnitischen und schiitischen Mächten, der die Weltgemeinschaft herausfordert.
Der "Islamische Staat" agiert nach den Angaben des Autors mit einer Mischung aus unmenschlicher Repression, Greueltaten und sozialen Wohltaten. Er baut allmählich staatliche Strukturen, wie Schulen, Gerichte, Sozialfürsorge, auf und lebt von Einnahmen aus der Erdöl- und Gasförderung. Sein sichtbarer "Erfolg" macht ihn für manche attraktiv, zumal die Idee eines umfassenden islamischen Staates, der die von den Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien künstlich nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen sprengt, nicht unbeliebt ist. Der IS preist sich selbst als der Liquidator von Sykes-Picot an, jenes Abkommens, das 1916 zwischen Paris und London geheim abgeschlossen worden war. Den Islamisten gilt der Nationalstaat als Götzendienst. Mit der Proklamation des neuen "Kalifats" Ende Juni 2014 ist der Dschihadismus Europa bedenklich nahe gerückt. Gefahr ist im Verzug.
Behnam T. Said: Islamischer Staat. IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden.
C. H. Beck Verlag, München 2014. 244 S., 14,95 [Euro].
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