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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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nicht mehr teilbar
Omri Boehm und Reiner Bernstein nehmen Abschied
von der Zwei-Staaten-Lösung und fordern Neues
VON ALEXANDRA FÖDERL-SCHMID
Das Timing könnte nicht besser sein: Wegen der Coronakrise ist das Erscheinen des Buches von Omri Boehm vom Frühjahr auf Frühsommer verschoben worden und fällt nun genau in jene Zeit, in der sich wieder die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf diese Region richtet: Von Juli an kann Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit der Annexion von Teilen des Westjordanlandes beginnen, so steht es im Koalitionsvertrag. Die nun aufgeschreckten Europäer und die Vereinten Nationen fordern weiter die Umsetzung der in den Osloer Friedensverträgen 1993 vereinbarten Zwei-Staaten-Lösung ein.
Statt an diesem Modell festzuhalten, sei es Zeit, Neues zu entwerfen, findet Boehm, der 1979 in Israel geboren und dort aufgewachsen ist. Er lehrt heute als Philosophieprofessor an der New Yorker New School of Social Research. Boehm beruft sich auf den Vordenker der Aufklärung, Immanuel Kant, wonach es „Mut“ brauche, sich aus der „selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu befreien und sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“. Genau das macht Boehm in seinem Buch „Israel – eine Utopie“.
Er macht sich Kants Imperativ der Aufklärung „an der Stelle jedes anderen denken“ zu eigen und kommt zum Ergebnis: „An irgendeinem Punkt muss man wohl zugeben, dass der Traum von einer Zwei-Staaten-Lösung zu einer Zwei-Staaten-Illusion zerstoben ist. Das zu ignorieren, ist ungefähr so, wie die Erderwärmung zu leugnen.“
Denn die Zwei-Staaten-Lösung werde seit 1967, als Israel unter anderem das Westjordanland und Ostjerusalem erobert hat, unterhöhlt. Mit der israelischen Besatzung des Westjordanlandes und der Ausbreitung der Siedler sei der Raum für einen palästinensischen Staat unwiderruflich verloren gegangen. Boehm listet auf: Seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 sei die Zahl auf etwa 400 000 Siedler im Westjordanland und 300 000 im Raum Jerusalem angewachsen. Das seien „Größenordnungen, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen“, so Boehm.
Erst Trumps „Deal des Jahrhunderts“ habe dazu beigetragen, „dieser Heuchelei“, also der Aufrechterhaltung der Zwei-Staaten-Lösung, „ein Ende zu setzen“. Trump habe einen Plan entworfen, der „die Annexion aller israelischen Siedlungen offiziell akzeptiert und einen Bevölkerungsaustausch sowie die Ausbürgerung arabischer Staatsbürger Israels empfiehlt, um die Zahl der Palästinenser in einem vergrößerten jüdischen Staat zu verringern“, fasst Boehm den Vorschlag zusammen. Seine Alternative sieht so aus: „Als wahre israelische Patrioten müssen wir heute die bekannten zionistischen Tabus auf den Prüfstand stellen und den Mut haben, uns einen Umbau des Landes vorzustellen: vom jüdischen Staat in eine föderale, binationale Republik.“
Boehm beruft sich auf dabei überraschenderweise auf Menachem Begin, jenen Ministerpräsidenten des rechtsnationalen Likud, der mit seinem Wahlsieg 1977 das Ende der Vorherrschaft der bis dahin dominierenden Arbeitspartei in Israel begründete. Die wenigsten Israelis wissen, dass Begin einen Plan ausgearbeitet hat, der den Palästinensern weitgehende Autonomie einräumte, der „mit der Möglichkeit einer vollen israelischen Staatsangehörigkeit für jeden Palästinenser im Westjordanland und in Gaza verbunden war“.
Boehm druckt den am 15. Dezember 1977 veröffentlichten Plan ab und leitet davon seine „binationale Vision“ einer „Republik Haifa“ ab. Warum Haifa? Seiner Ansicht nach bietet die drittgrößte Stadt Israels „einen Vorgeschmack davon, wie eine palästinensisch-jüdische Zusammenarbeit eines Tages aussehen könnte“. Die arabische Minderheit macht etwa 20 Prozent aus, viele leben in und um Haifa.
Es ist eine schöne Zukunft für Palästinenser und Israelis, die Boehm ausmalt: eine liberale Demokratie, die ihre Bürger, Juden und Araber, gleichberechtigt miteinander teilen. Juden und Araber lassen sich nach freier Wahl überall nieder, in Ramallah oder Tel Aviv, in Beersheva oder Bethlehem. Politisch organisieren sie sich autonom und getrennt voneinander. Es soll jedoch eine gemeinsame Hauptstadt geben: Jerusalem. Westjerusalem für die Juden, Ostjerusalem für die Palästinenser. Boehm weiß um praktische Probleme wie das 2018 erlassene Nationalstaatsgesetz, das den jüdischen Charakter des Staates Israel festschreibt. Dadurch verlor auch Arabisch den Status als offizielle Sprache.
Auf das Nationalstaatsgesetz geht Reiner Bernstein in seiner aktualisierten Auflage seines Buchs mit dem etwas sperrigen Titel „Wie alle Völker. . .? Israel und Palästina als Problem der internationalen Diplomatie“ ein. Es ist eine wissenschaftlich fundierte und detailliertere Herangehensweise des auf Nahostthemen spezialisierten deutschen Historikers und unterscheidet sich dadurch von der leichtfüßiger hingeschriebenen Arbeit des Philosophen. Bernsteins Fokus liegt stark auf dem Einfluss internationaler Akteure, er leuchtet präzise Zusammenhänge aus und bietet historische Hintergründe zu den aktuellen Ereignissen. Durch den ausführlichen Anhang und kürzere, aktuelle Texte am Ende ist eine Art Nahost-Kompendium entstanden.
Beide Autoren kommen zu einem ähnlichen Schluss, was die Zwei-Staaten-Lösung betrifft: „Gefragt sind mehr denn je neue politische Horizonte durch die Ermutigung zu eigenen Energien in einem Land, das sich territorial nicht mehr teilen lässt“, schreibt Bernstein. „Gemeinsam in der Jerusalemer Altstadt, in Jaffa, in Haifa, in Akko und in Beersheva Humus und Falafel zu essen und sich im Ausland auf Konferenzen zu treffen, reicht als Basis für die künftige Koexistenz nicht aus.“
Bernstein stellt die Frage, ob der Widerstand gegen das Nationalstaatsgesetz „eine Wende zur politischen Vernunft einleiten und internationalen Konventionen Respekt verschaffen kann“. Er findet, „Protest und Entrüstung reichen nicht aus“, auch die internationale Staatengemeinschaft sei gefordert, sich wieder stärker um eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu bemühen.
Bernstein argumentiert als Wissenschaftler vorsichtiger als Boehm, der sich als Optimist bezeichnet, wenngleich dieser eingesteht: „Zweifellos bleibt die Gründung der Republik Haifa vorerst ein utopischer Traum. Aber nicht bloß ein utopischer. Es ist ein Traum, der näher an der Realität ist als das illusionäre Festhalten an der Zwei-Staaten-Lösung.“ Er beruft sich dabei auf den Hauptbegründer des Zionismus, Theodor Herzl, und zitiert ihn am Schluss: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“ Gerade in der jetzigen Lage bräuchte es Politiker im Nahen Osten, die mit
Mut Neues denken und wagen – diese Bücher bieten Anregungen und Anleitungen dazu.
Für Juli plant die Regierung
in Jerusalem, mit den Annexionen
im Westjordanland zu beginnen
Omri Boehm:
Israel – eine Utopie.
Aus dem Englischen von
Michael Adrian. Ullstein-Verlag, Berlin 2020.
256 Seiten, 20 Euro.
Reiner Bernstein:
Wie alle Völker. . .? Israel und Palästina als Problem der internationalen
Diplomatie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2020,
438 Seiten, 38 Euro.
Am 1. Juli sollte es losgehen – doch der Annexions-Plan ist vorerst
verschoben: Ein Junge schwenkt eine Nationalfahne auf einem großen
Gemälde mit dem Satz „Das Volk gegen die Annexion“ vor
dem Museum der Künste in Tel Aviv. Foto: Sebastian Scheiner/dpa
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Eine Utopie über eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts
Kürzlich ist der frühere israelische Stadtplaner und spätere Friedensaktivist Meron Benvenisti gestorben. Als stellvertretender Bürgermeister von Jerusalem hatte Benvenisti in den siebziger Jahren die Aufgabe, die geteilte Stadt zu "vereinen". Was das hieß, beschrieb er in seinem letzten Buch: "In dieser gespaltenen Stadt wurden die Bedürfnisse der ,Öffentlichkeit' nach Nationalität definiert und arabisches Land ,für die öffentliche Nutzung' exklusiv zugunsten der jüdischen Bevölkerung enteignet." Seine Jerusalemer Beobachtungen setzte Benvenisti im von Israel besetzten palästinensischen Westjordanland fort. Mit dem weiteren Ausbau israelischer Siedlungen auf diesem besetzten Gebiet hielt er es spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends für unmöglich, dass hier einmal die Staaten Israel und Palästina nebeneinander existieren könnten. Dazu sei der jüdische Siedlungsbau im für einen palästinensischen Staat vorgesehenen Westjordanland zu weit fortgeschritten und nicht mehr umkehrbar.
Der für Benvenisti einzige Weg des Zusammenlebens war also schon damals nicht mehr eine Zweistaatenlösung, wie sie bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft hochgehalten wird. Sondern ein einziger, binationaler Staat mit gleichen Rechten für alle. Benvenisti warb für eine Machtteilung, in der die kulturelle Identität beider Völker, Palästinenser und jüdischer Israelis, gewahrt werde. Einen politischen oder gar verwaltungstechnischen Weg dahin vermochte Benvenisti allerdings nicht aufzuzeigen. Doch sein eigentlicher Befund hat an Substanz nicht verloren. Und wird auch in der liberalen jüdischen Diaspora wieder geteilt, wie zuletzt eine Reihe neuer Beiträge und Bücher zeigten.
Benvenisti nicht unähnlich, nur theoretischer, argumentiert etwa der in Israel geborene und in New York lehrende Philosoph Omri Boehm in seinem Buch "Israel - eine Utopie", das zuerst in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ein Staat, der "ausdrücklich darauf besteht, die Souveränität der jüdischen Bevölkerung und nicht die Souveränität (aller) seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewähren", wie seit 2018 in einem Grundgesetz festgehalten ist, könne keine liberale Demokratie sein, schreibt Boehm. Zumal in jenen Gebieten, in denen Israelis wählen dürfen (was die Siedler im besetzten Westjordanland einschließt), Juden kaum noch fünfzig Prozent der Bevölkerung bildeten. Die angestrebte Demokratie sei auch im heutigen Kern-Israel nur durch die Herstellung einer ethnischen Bevölkerungsmehrheit zu erreichen gewesen: Und zwar durch die gewaltsame Vertreibung von siebenhunderttausend palästinensischen Arabern im Zuge der israelischen Staatsgründung - die "Nakba". Die Nakba sei keine Folge der jüdischen Selbstverteidigung, sondern habe bewusst die demographische Überlegenheit ermöglichen sollen, die zum Aufbau eines jüdischen Staates nötig war, argumentiert Boehm.
Dass auch liberale Größen wie der Schriftsteller David Grossman zwar stets die andauernde Besatzung der 1967 eroberten Gebiete und die völkerrechtswidrige Besiedlung angeprangert, die Nakba bis heute jedoch "totgeschwiegen" hätten, hält Boehm für fatal. Denn solch eine Haltung unterstütze Teilungspläne, "die ihre Glaubwürdigkeit seit den späten Neunzigerjahren verloren haben". Eben weil "uns die Zweistaatenlösung zwischen den Fingern zerrinnt, kehrt Israels verdrängte Umsiedlungspolitik mit Macht auf die Tagesordnung zurück". Dies ist für Boehm die Frage, vor der man lange schon auch im besetzten Westjordanland stehe: Wenn nicht über Alternativen zur Teilung nachgedacht werde, dann laufe alles auf eine neuerliche Vertreibung hinaus.
"Wir werden kein neues Rhodesien sein", zitiert Boehm den israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin, der sich in einer Knesset-Rede schon Ende der siebziger Jahre von Apartheid-Zuständen distanzierte und sogar bereit war, Palästinensern in den besetzten Gebieten die israelische Staatsbürgerschaft zu verleihen - mit dem Recht auf Wahlen und Landerwerb. Dazu ist es freilich dann doch nie gekommen. Boehm greift auf zionistische Größen wie eben Begin zurück, um eine zentrale These seines Buches zu begründen: Seine Idee einer jüdisch-palästinensischen Föderation sei gar nicht weit hergeholt, zumal sie zeitweise bereits von Vordenkern wie Begin, dem Staatsgründer David Ben-Gurion oder dem Revisionisten Wladimir Jabotinsky hervorgebracht worden sei. Boehms Rückgriff auf die alten Meister mag nicht ganz überzeugen, da diese alle aus ihrer Zeit heraus und vor allem aus damals noch vollkommen anderen Machtverhältnissen heraus gehandelt haben. Damals kann es den Zionisten nicht darum gegangen sein, Souveränität aus der Position der Stärke abzugeben, sondern sie aus einer weit schwächeren Position heraus überhaupt erst einmal zu erlangen.
Heute dagegen scheint eine binationale Föderation wie ein gerechter Ausweg. Denn in dieser Utopie wäre der zionistische Grundgedanke, einen Zufluchtsort für verfolgte Juden in aller Welt zu bilden, ja weiter erfüllt, wie Boehm theoretisch darlegt. Selbstbestimmung müsse nicht Souveränität bedeuten. Doch bliebe das Konzept in der Praxis friedlich? Keine Garantie.
Eine von nicht mehr allzu vielen Gemeinsamkeiten linksliberaler und rechter Israelis ist die gemeinsame Abneigung gegen Vorschläge und Anweisungen, dass man zum Wohl der Allgemeinheit das eigene politische Dasein fundamental umzukrempeln und im eigenen Land ein neues System zu etablieren habe. Man lebe schließlich auch in Israel ein reales Leben, gehe morgens zur Arbeit, bringe abends die Kinder zu Bett, ist häufig zu hören. Die Bereitschaft, sich als Teil eines so wahrgenommenen Experiments zur Verfügung zu stellen, ist jedenfalls nicht eben ausgeprägt. Zumal man die möglichen gefährlichen Folgen in Israel (und Palästina) zuvörderst selbst zu tragen habe. Gewiss nicht an der amerikanischen Ostküste, von wo aus dann und wann derartige Vorschläge kommen.
In Israel oder in Palästina vertritt keine der wesentlichen Parteien die Idee einer binationalen Föderation. Weder die verbliebenen liberalen Parteien noch die palästinensische Behörde oder der von Boehm ob seines Eintretens für gleiche Rechte innerhalb Israels mit Recht gelobte Knesset-Abgeordnete Ahmad Tibi von der arabischen Vereinigten Liste. So ist es nicht Boehms Utopie, die dieses Buch lesenswert macht, sondern eher dessen Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen israelischen Politik. Und die ausdrücklich an das deutsche Publikum gerichteten Ausführungen, Israel "als normalen Gegenstand einer Debatte" zu behandeln.
JOCHEN STAHNKE
Omri Boehm: "Israel - Eine Utopie".
Propyläen Verlag, Berlin 2020. 256 S., 20,- [Euro].
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