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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Eine Demokratie vertrage sowohl die vollständige Abwesenheit wie auch ein Höchstmaß von Religion, meint Otfried Höffe.
Hat sich die Welt oder zumindest der politische Westen im Lauf der Geschichte immer weiter säkularisiert? Otfried Höffe räumt schon im Vorwort seines Essays mit dieser - wie er sagt - "großen Erzählung" auf. Vielmehr verliefen die Entwicklungen seit der Antike wellenartig. Auf Vorstellungen, die ein politisches Gemeinwesen und seine Normen unabhängig von der Religion begründeten, folgten Entwürfe, die sich enger an der Transzendenz orientieren, bevor säkulares Denken wieder erstarkte.
Wie viel Religion verträgt die Demokratie und wie viel Demokratie die Religion? Auf diese Doppelfrage versucht der Philosoph Antworten zu geben. Eindeutig positioniert er sich zur Frage, ob die "ganz Frommen" eine Gefahr für das Gemeinwesen seien. Das sei nicht der Fall. Eine Demokratie vertrage sowohl die vollständige Abwesenheit wie auch ein Höchstmaß von Religion in orthodoxer oder gar ultraorthodoxer Auslegung. Es verbiete sich jedoch die Anwendung von Gewalt. Höffe gibt allerdings zu, dass es im Falle emotionaler Gewalt schwierig sei, diese gerichtsfest zu bestimmen. Ebenso verbiete es sich, anderen den eigenen Glauben aufzuzwingen. Während es der Staat Glaubensgemeinschaften erlaube, Frauen von gewissen Ämtern auszuschließen, dürfe das nicht dazu führen, dass sie außerhalb der religiösen Sphäre benachteiligt werden.
In der ersten Hälfte seines Essays blickt Höffe auf die geistesgeschichtliche Entwicklung der Überlegungen über das Verhältnis von göttlicher und weltlicher Ebene. Er erklärt, wie das antike Griechenland, das konfuzianische China und weitgehend sogar die Zehn Gebote auf eine theologische Moral-, Rechts- und Politikbegründung verzichten konnten. Dagegen idealisierte der römische Kirchenlehrer Augustinus einen imaginierten Gottesstaat, ein himmlisches Jerusalem, das jedoch keineswegs mit dem gering geschätzten weltlichen Staat interagiert. Nach einer radikalen Gegenbewegung, als Vordenker der Aufklärung wie Voltaire und David Hume den Glauben und insbesondere die Kirche eliminieren wollten, brachte Immanuel Kant die Religion wieder ins Spiel. Um einen Sinn im moralischen Leben zu erkennen, empfahl Kant, eine "ins Unendliche fortdauernde Existenz" der eigenen Persönlichkeit anzunehmen. Über diese "unsterbliche Seele" und ihre Glückseligkeit sollte ein allwissendes und allmächtiges Wesen richten, also ein Gott. Niklas Luhmann knüpfte daran an, indem er der Religion zubilligte, eine "Erlösung von der Gesellschaft" zu verheißen.
Eindeutig präferiert der Autor entsprechende Ansätze von "Verteidigern" der Religion. Statt mit der Frage nach ihren Potentialen in die zweite Hälfte des Essays über die zeitgenössischen Fragen überzuleiten, verliert er sich leider in langer Deskription. Nachdem er seitenlang Redensarten wie "Gott behüte" und "auf Teufel komm raus" sowie die Rezeption der biblischen Überlieferung in der Populärkultur aufzählt, gibt Höffe an einer Stelle zu, dass dies "ermüden" könne. Doch warum er bei eigenem Erkennen dieser Leserunfreundlichkeit die Kapitel nicht anders strukturiert hat, bleibt sein Geheimnis. Schade ist das insbesondere deswegen, weil er danach ein Thema wie das Verhältnis von Religion und Verzicht, der sich in Phänomenen wie dem Fasten manifestiert, nur streift. Denn wenn sich Glaube mit Demut verbindet, könnte er menschlicher Selbstüberhöhung vorbeugen und gesellschaftlichen Fliehkräften entgegenwirken. Hier hätte sich wie zu weiteren aktuellen Fragen eine vertiefte Erörterung gelohnt.
Seine politischen Überzeugungen verbirgt der Verfasser dagegen nicht. Die hier lebenden Muslime gehörten zu Deutschland, aber noch nicht der Islam, widerspricht Höffe der entsprechenden Aussage des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff. Dies könne man erst sagen, wenn sich ein europäischer Islam entwickelt habe, der eine Synthese aus humanen Idealen des Islams und den Ideen der Aufklärung sei. So lobenswert es ist, dass der Autor auf Gefahren durch den politischen Islam hinweist, so ungenau argumentiert er zu diesem Thema. Wenn er schreibt, es lasse sich "nicht verdrängen", dass die deutschen Islamverbände ein Gesellschaftsbild, das der "freiheitlichen Demokratie fremd" ist, verträten, führt er keinerlei Begründung an. Besonders in die Irre führt, wenn er schreibt, dass die Türkei als "ein vom Islam beherrschtes Land" 2021 ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen erklärt hat. Nicht erwähnt er jedoch, dass wegen angeblicher "Gender-Ideologie" auch ein erzkatholisches Land wie die Slowakei sich weigerte, die Konvention zu ratifizieren, und polnische Regierungspolitiker mehrfach drohten, dem türkischen Beispiel zu folgen.
Ausgesprochen kurz handelt Höffe das karitative Engagement von Religionsgemeinschaften ab, mit dem Verweis, dass es auf "nähere Erörterungen" dazu in diesem Essay nicht ankomme. Gar nichts erfährt der Leser über das religiöse Fundament der Idee der Völkerversöhnung. Gegenwärtig drängend wären ebenso Fragen einer Ethik des gerechten Krieges, wobei dem Autor zugutezuhalten ist, dass der großflächige russische Angriff auf die Ukraine erst im Erscheinungsjahr stattfand. Eine Stärke des Essays liegt weniger in der Erörterung aktueller Problemstellungen, sondern vielmehr in der Darlegung der philosophischen Grundlagen des Verhältnisses von Religion und politischem Gemeinwesen. Es geht abzüglich der persönlichen Wertungen des Autors in Richtung eines Nachschlagewerks. Durch das ständige Gegenüberstellen religiöser und säkularer Einflüsse bleibt der Eindruck: Gott ist überall. Und nirgends. NIKLAS ZIMMERMANN
Otfried Höffe: Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion.
S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2022. 232 S., 24,- Euro.
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