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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was reimt sich auf Trenitalia? Der Engländer Tim Parks hat Italien mit der Eisenbahn erkundet und weiß seither ganz genau, dass es kein Land für Anfänger ist
In der Übersetzung nimmt der Titel ganz anders Fahrt auf als im Original: "Italien in vollen Zügen", das verspricht mehr als "The Italian Way", der beides, die Gleise und, so heißt es am Ende des Vorworts, "die italienische Art, die Dinge zu handhaben", meint. Der deutsche Leser ergänzt "genießen", doch das bleibt unausgesprochen. Tim Parks hat den bel paese auf dem Schienenweg erkundet, Zug um Zug ist er ihm nähergekommen, die Eisenbahn ist ihm Mittel und Medium, Italien besser kennenzulernen. Sie wird unter seinem literarisch geschulten und alltagssoziologisch geschärften Blick zum Brennspiegel der Gesellschaft.
Das mag abwegig erscheinen in einem Land, das den Prestigewert des Autos hochhält und mit Billigfluglinien schneller und günstiger zu erreichen ist. Die Eisenbahn aber hat ihm den Weg bereitet, eine Lokomotive des Fortschritts, die den Prozess des Risorgimento beschleunigt, zur Angleichung der Sprache beigetragen und den Campanilismo zurückgedrängt hat. Das Zusammenwachsen der Nation hat sie ebenso befördert wie die Volksbildung; mit der Ausweitung des Streckennetzes im späten neunzehnten Jahrhundert hat das Lesen einen Aufschwung erfahren. "Für alle, die gerne im Zug lesen", lautet die Widmung. Doch Tim Parks hat keine Kulturgeschichte und keine Reisereportage geschrieben, auch wenn er beiden Genres verpflichtet ist.
Zwar fiel sein erster Blick auf Italien 1974, da war er neunzehn, in der Nähe von Ventimiglia, durch ein Zugfenster, doch verstanden hat er damals nur Bahnhof. Inzwischen lebt der 1954 in Manchester geborene Autor seit mehr als dreißig Jahren in Italien, hat Moravia, Calvino und Tabucchi übersetzt, kann Dialekte zuordnen, Phrasierung und Poesie der liturgischen Bahnhofsansagen zergliedern und sich über die englischen Übersetzungen, nicht nur wenn sie "Trenitalia" auf "Genitalien" reimen lassen, amüsieren.
Dabei sind es gerade die Anlässe, die ihn während der Fahrt aus seiner Lieblingsbeschäftigung reißen, die Auskünfte über die Italiener und ihre Mentalität geben: Wenn er einem "Capotreno", einem Zugchef, in die Hände fällt, der ihn, weil der Zuschlag nicht entwertet ist, mit einem Katalog von Regularien sekkiert, um dann doch nicht das angedrohte Bußgeld zu kassieren; wenn Eisenbahnergewerkschaft und Polizei mit protestierenden Milchbauern vereinbaren, dass sie jeden Zug eine halbe Stunde lang aufhalten können; wenn die Telefonini zu trällern beginnen, Mütter ihre Anweisungen fürs Abendessen durchgeben oder ein Mittvierziger, "mehrere Reihen entfernt", seine unschöne Scheidung mit Anwalt, neuer Freundin, Mutter, Bruder und anderen durchspricht. Ein Land zwischen Komik und Konfusion, Exhibitionismus und Improvisation, Ineffizienz und dem Ideal der bella figura, Vorschriftendschungel und der "Komplizenschaft beim Regelverstoß".
Beobachtungen und Begegnungen, Miniszenen und Momentaufnahmen: Der miesepetrige Bahnhofscafé-Kellner, der langsam in dem ungepflegten öffentlichen Lokal wirtschaftet, und der fröhliche Barista, der in seinem quirligen Straßencafé doppelt so hart arbeitet, erscheinen geradeso als reale Klischee-Italiener wie der "Furbo" und der "Pignolo", Schlaumeier und Pedant, die das Schlangestehen vor dem Fahrkartenschalter durchkreuzen. Selbst wie die Immigranten die Schattenwirtschaft im Mailänder Hauptbahnhof aufteilen, kann Parks erklären: Roma betteln, Inder verkaufen Rosen, Chinesen Raubkopien, Türken Kebab, und junge Osteuropäer bedienen die tückischen Fahrkartenautomaten - für Trinkgeld.
Bahn zu fahren war für Parks zunächst "eine lästige Pflicht". 1992 beginnt er zwei-, dreimal die Woche von Verona nach Mailand zu pendeln, wo er einen Job an der Universität angenommen hat: mit dem Interregionale, dem Intercity oder dem Eurostar. Der erste braucht zwei Stunden für die 148 Kilometer und ist am ehesten pünktlich. Ab Brescia ist er überfüllt und spätestens dann passiert, was Parks in England nie erlebt hat: "Alle reden, alle scheinen sich zu kennen." Und zwar "über Fußball, Politik und das beste Spargelrisotto". Trotz Ohrstöpsel, Parks kann gar nicht anders, als die Italiener hautnah kennenzulernen, Berufspendler, "lebende Tote", Studenten, Rucksacktouristen und Schwarzfahrer. Ziel ist Milano Centrale, die imposante Kopfbahnhof-Kathedrale des eklektischen Historismus, die 2006 in ein "Kommerz-Labyrinth" mit 108 Läden, Rolltreppen und Passagen verwandelt wird. Von hier fährt am 14. Dezember 2008 der erste Frecciarossa (roter Pfeil), zunächst bis Bologna, von 2010 an bis Rom: 480 Kilometer in weniger als drei Stunden. Die alten Namen - "Michelangelo" oder "Vivaldi" - verschwinden, es gibt neue Vorschriften, Preise, Zugbindung, neue Absurditäten und Komplikationen.
Im zweiten Teil des Buches macht sich Parks auf in den Süden, wo 1839, von Neapel bis Portici, die erste Bahnstrecke in Italien eröffnet wurde - "bis ans Ende des Landes". Als gelernter Norditaliener führt er dessen Ignoranz und "ein gewisses Gefühl der Beklommenheit" im Gepäck: Vorurteile werden, wie die stereotype Klage einer Sizilianerin, die Insel werde "im Stich" gelassen, bestätigt und, nicht nur durch makellos saubere Züge, widerlegt.
Die autobiographische Komponente wird stärker und die Reise zur Konfrontation mit der eigenen Identität. Denn Parks, der sich im Norden häufig "Wann gehst du zurück (nach England)?" anhören muss, macht in Palermo eine ihn unverhofft beglückende Erfahrung. Als ihn ein Paar fragt, wann genau der Bus eintreffen sollte, und er "in meinem Norditalienisch" antwortet, scheint es "gar nicht zu bemerken, dass ich kein Italiener war": "Nein, es war mehr als Freude, ich war gerührt. Ich war in meiner Adoptivheimat, in einem abgelegenen Teil des Landes, in den ich mich nie vorgewagt hatte, der mir immer zu gefährlich erschienen war, Sizilien, der Süden, die Mafia, ein heißes Pflaster, und plauderte seelenruhig mit ganz normalen Leuten, verstand und wurde verstanden, ganz so, als wäre ich tatsächlich Italiener. Fantastisch." So hat die Eisenbahn Parks (fast) zum Italiener werden lassen.
Die Reise durch den Süden, mit dem Bus, weil sonntags kein Zug fährt, nach Modica und von dort in zehn Stunden - mit, darauf hat er gewettet, nur zwanzig Minuten Verspätung! - über Syrakus, Catania, Messina, Lamezia Terme und Catanzaro nach Cortone, dann an der Sohle des Stiefels entlang nach Apulien wird für Parks zu einer Offenbarung, die ihn Schönheiten, Reichtum und Geheimnisse der Magna Graecia entdecken lässt. Eines der "Wunder" findet er in Lecce, dem "Florenz des Südens", mit den Ferrovie del Sud Est, einer regionalen Eisenbahngesellschaft auf dem Absatz des Stiefels, deren altmodische Dieselloks Waggons ziehen, aus deren offenen Fenstern orangefarbene Vorhänge flattern und die mit EU-Mitteln aufgehübschte Bahnhöfe abklappern. Kein Fahrplan wird eingehalten, doch jeder kommt zuverlässig an.
"Italien ist kein Land für Anfänger", seufzt Parks vor dem "Fegefeuer der Fahrkartenautomaten" einmal. Sein Buch erzählt "Italien für Fortgeschrittene". Es hat alles, um in einem Zug gelesen zu werden.
ANDREAS ROSSMANN
Tim Parks: "Italien in vollen Zügen".
Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann, München 2014, 336 S., geb., 19,95 [Euro].
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