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Das Ersatzkuscheltier kennt den Weg: Heute erscheint J. K. Rowlings neues Kinderbuch "Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein"
Jede Ähnlichkeit, schreibt die Autorin am Ende ihres Romans, "zwischen den Dingen auf diesen Seiten und den Dingen, die unsere Familie verloren und wiedergefunden haben mag", sei "vollkommen beabsichtigt". Und hält man sich zudem vor Augen, dass die Geschichte um das Frotteeschwein des kleinen Jack, wie die Autorin andernorts sagt, von einem ganz ähnlichen Kuscheltier ihres eigenen Sohnes inspiriert worden sei, dann klingt das nach einer im Kinderbuch leider allzu weit verbreiteten Fortschreibungsprosa privater Dinge, die furchtbar kitschige Ergebnisse hervorbringen kann, weil rosige Erinnerungen an niedliche Momente nicht immer die besten literarischen Sujets bereithalten.
"Jacks wunderbare Reise mit dem Weihnachtsschwein", der heute weltweit, auf Deutsch bei Carlsen erscheinende Roman der Harry-Potter-Autorin J. K. Rowling, verlässt dieses Fahrwasser glücklicherweise rasch. Sonderlich niedlich geht es in diesem Kinderbuch, dem zweiten in rascher Folge nach dem "Ickabog" von 2020, jedenfalls nicht zu. Jack, ein Junge im Grundschulalter, muss miterleben, wie die Ehe seiner Eltern zerbricht, sein Vater auszieht und die Mutter mit ihm in eine andere Stadt zieht. Dort freundet er sich mit der coolen, einige Jahre älteren Holly an. Doch als Hollys Eltern sich trennen und noch später ihr Vater und Jacks Mutter ein Paar werden, verhält sich Holly aggressiv gegenüber Jack - der Streit eskaliert während einer Autofahrt kurz vor Weihnachten, auf der die von Jack provozierte Holly dessen geliebtes Frotteeschwein aus dem Autofenster wirft, was den Jungen in tiefe Trauer und zugleich einen Tobsuchtsanfall treibt. Das Ersatzschwein traktiert er mit den Fäusten und versucht, ihm den Kopf abzureißen.
So weit der realistische Rahmen, den Rowling um den fantastischen Kern ihres in 58 vorlesetauglich kurzen Kapiteln strukturierten Romans zieht. Denn weil sie den tradierten Weihnachtszauber, nach dem in der Christnacht die Tiere zu sprechen anfangen, charmanterweise auch auf die Dinge ausdehnt, die daher plötzlich in Jacks Schlafzimmer durcheinanderquasseln, beginnt ein Abenteuer, das den Jungen und das Ersatzschwein auf der Suche nach dem vermissten Kuscheltier in ein Land der verlorenen Dinge führt. Als Sujet ist das nicht neu, man denke nur an Lukas Hartmanns Roman "All die verschwundenen Dinge" von 2011, der mit der schönen Pointe aufwartet, dass der kleine Karl zwar wirklich an einem solchen Ort auf seine zuvor verlorene Kasperpuppe stößt, diese am Ende aber dort lässt, weil sie ihm, wie er sich plötzlich eingestehen muss, seit dem Verlust fremd geworden ist.
Vor diesem Hintergrund aber setzt Rowling eigene Akzente, und je mehr sich der Kosmos ihres publizierten kinderliterarischen Werkes, das lange aus dem verschiedentlich ausgemalten Harry-Potter-Kosmos bestand, nun weitet, desto klarer werden dessen übergreifende Konturen, und desto überraschendere Bezüge lassen sich erkennen.
Eine der bemerkenswertesten Szenen der Harry-Potter-Reihe findet sich im Finale, wenn Harry und der Zauberer Lord Voldemort gegeneinander antreten und sich plötzlich in einer Art Limbo wiederfinden, von allem entblößt, was die Welt ihnen an Macht und Stärke verliehen hatte, reduziert auf den jeweiligen Kern. Für Voldemort heißt das: Er erscheint als wimmernder, von Ausschlag gequälter Säugling, dem nicht zu helfen ist. Auch Jack und das bald "Weihnachtsschwein" getaufte Ersatzkuscheltier geraten in eine Welt, die deutlich als Jenseits gezeichnet ist. An die Stelle des Todes tritt für die Dinge hier das Verlorenwerden durch ihre Besitzer, sodass Jack mit seinem Begleiter in eine riesige Halle gelangt, in der sich Gegenstände wie Regenschirme, Schlüssel, Ohrringe oder Werkzeuge versammeln und sie nach Funktion, nicht nach Geldwert sortiert werden - der Verlust, der große Gleichmacher. Hier erscheinen auch nicht etwa die physischen Dinge - die ruhen weiter dort, wo sie verloren wurden, und sei es unter Bananenschalen im Dschungel -, sondern deren Abbilder, auch wenn die daraus abgeleitete Körper-Seele-Entsprechung der Dinge nicht ganz aufgeht. Allerdings ist auch dieses Jenseits in angenehme und unangenehme Aufenthaltsorte gegliedert, je nachdem, welchen das jeweils Verlorene für den Besitzer besaß und noch besitzt, und Rowling zeichnet das Elysium der fortgeliebten Dinge ebenso liebevoll wie ein hitziges Äquivalent der Hölle.
Rowling entpuppt sich nach dem "Ickabog" einmal mehr als Autorin von moralischen Romanen, deren Botschaft deutlich ist, einer spannenden und anspielungsreichen Handlung aber nicht im Wege steht. So begegnen Jack personifizierte Eigenschaften wie Ehrgeiz, Stolz, Macht und Schönheit als Protagonisten, und wie auch unter den Dingen Angehörige saturierter Gemeinschaften die Unterprivilegierten - hier heißt das: von den Menschen nicht Vermissten - mit Gewalt von sich fernhalten, spielt ebenfalls eine Rolle.
Gesetze befolgen und sich um nichts kümmern, heißt es hier einmal, sei das beste Mittel, um in diesem Jenseits durchzukommen. Davon, dass es im Gegenteil das Kümmern ist, das uns vor den Schrecken einer solchen Welt bewahrt, erzählt dieses Buch mit schöner, klarer Konsequenz. TILMAN SPRECKELSEN
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Verlieren
J.K. Rowling wollten viele in der Verbannung sehen.
Ihr neues Kinderbuch ist ein Bestseller. Zurecht
VON SUSAN VAHABZADEH
Am Dienstagmorgen hat J. K. Rowling ein Foto ihrer Schokotorte zum Buchgeburtstag auf Twitter gepostet. Sie hat den sozialen Medien also nicht ganz und gar den Rücken gekehrt, und das, obwohl ein veritabler Sturm sie vor einem Jahr von dort wegfegen wollte. Zur Erinnerung: Rowling hatte damals auf Facebook einen Text gepostet darüber, warum sie findet, dass Frauen „Frauen“ genannt werden sollten und nicht etwa „Menschen, die menstruieren“. Und dann identifizierte die Kritikerschar im Netz auch noch ihren neuen Krimi, „Böses Blut“, in Deutschland im Januar erschienen, als transphob. In Großbritannien weigerten sich Buchläden, das Buch zu verkaufen. Kurz: Rowling sollte verschwinden, zumindest mal in den Bestsellerlisten.
Hier im Analogen kam vom Sturm höchstens ein laues Lüftchen an. Man konnte ihrem neuen Kinderbuch, „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“, am Dienstag der Veröffentlichung beim Klettern in den Verkaufsrängen zusehen. Am frühen Nachmittag war es schon in der Top Ten gelandet. Auf der Bestseller-Liste für Kinderbücher bei Amazon steht das „Weihnachtsschwein“ da schon auf Platz 3, nach zwei Harry-Potter-Bänden von J. K. Rowling, und auf sieben weiteren Plätzen der zwanzig Kinderbestseller stehen ebenfalls Bücher von: J. K. Rowling.
Das liegt vielleicht daran, dass die Schriftstellerin tatsächlich mit Leib und Seele Kinder begeistern und ihnen tröstliche Geschichten erzählen will, indem sie in ihren Geschichten jedem Kind seine eigenen Nöte und Schwächen zugesteht. Damit hat sie den Zauberlehrling Harry Potter weltberühmt gemacht. Und im „Weihnachtsschwein“ bricht sie ganz nebenher eine Lanze für böse Stiefschwestern, denn tief innen drin sind auch die nur Kinder, die es nicht leicht haben.
So wie Jack, der anders als Harry Potter leider nicht zaubern kann. Aber er hat eben Schwein. Seine Geschichte spielt in der Nacht der Wunder und der hoffnungslosen Fälle, das ist jene vor Weihnachten. In dieser Nacht ist alles möglich.
Jack hat so viele Sorgen, dass er sein Schwein mehr braucht denn je. Der Vater ist ausgezogen, er muss die Schule wechseln, weil die Mutter in der Nähe ihrer Eltern wohnen will. Da ist ein älteres Mädchen in der neuen Schule, Holly, die sehr nett zu ihm ist – bis herauskommt, dass ihr Vater und Jacks Mutter jetzt ein Paar sind. Grund genug, jede Nacht das Frotteeschweinchen anzuheulen. Weil aber alles immer noch ein bisschen schlimmer geht, wirft am Morgen vor Weihnachten Holly, in einem Anfall von Wut und Eifersucht, das Schweinchen auf der Autobahn aus dem Fenster. Jeder, der mal ein Kind war, erschauert bei diesem Gedanken: verschollene Kuscheltiere hinterlassen Wunden für die Ewigkeit, selbst wenn sie nicht in einem jähen Gewaltakt den ihnen zugewiesenen Kindern entrissen wurden.
Lange, bevor irgendwer auf die Idee kam, die frühkindliche Entwicklung in Phasen einzuteilen, haben Kinder wahrscheinlich auch schon gedacht, dass alles um sie herum beseelt sei. Zu abstrahieren, zu begreifen, dass nicht alles ein Eigenleben hat, müssen Menschen erst lernen. Deswegen ist es ein Dauerbrenner in Kindergeschichten, Dingen eine Seele zuzuschreiben, siehe „Toy Story“ und so weiter, der „Nussknacker“ von Alexandre Dumas steht am Anfang eines eigenen Genres. Jack ist alt genug, sich nachts zu wundern, als er aufwacht und seine Spielsachen darüber diskutieren, was zu tun ist, um das abgewetzte Schweinchen DS wieder beizubringen – auch Jacks Trostpreis diskutiert mit, der Ersatz für DS, den Holly von ihrem Taschengeld bezahlen musste, fortan Weihnachtsschwein genannt.
J. K. Rowling hat nicht nur einer ganzen Generation von Kindern mit ihren Harry-Potter-Büchern das Lesen beigebracht und Teenagern Englisch, sie ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen überhaupt gewesen – und liest man „Jack und die wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“, dann ist auch wieder glasklar, warum.
Rowling ist einfallsreich und fantasievoll, sie balanciert gern am Rande des Sentimentalen, ohne jemals abzurutschen, und sie kann damit sogar Erwachsenen das Wasser in die Augen treiben. Die Welten, die sie schafft, funktionieren nach moralischen Prinzipien. Man merkt ihren Büchern an, dass sie Spaß daran hat, das kindliche Denken zu formen. Man kann das als moralisierend empfinden. Aber zu Kinderbüchern gehört das Molarisieren ja auch irgendwie dazu. Im besten Falle sind sie psychologisches Begleitmaterial für die Dinge, die Kindern in der Welt widerfahren und vor denen sie nicht einmal Helikoptereltern bewahren können. Das Verlieren gehört zum Leben dazu, schreibt J. K. Rowling im „Weihnachtsschwein“.
Jack will das nicht lernen, er will sein Plüschtier zurück, und das Weihnachtsschwein soll ihn begleiten ins Land der verlorenen Dinge. Das ist eine riesige Zivilisationsmüllhalde, auf der Spielzeug nur eine untergeordnete Rolle spielt. Auch Erwachsene verlieren Dinge, aber andere – Kämme, Adressbücher. Klar, dass Jack und dem Weihnachtsschwein im Schattenreich des Verlusts irgendwann ein Handy begegnet. Es sind dort aber auch ideelle Dinge gelandet – neben Optimismus, Hoffnung und Glück auch ein paar verlorene Fertigkeiten, abgelegte Gewohnheiten, der abhanden gekommene Ehrgeiz einer Politikerin und einige über Bord geworfene Prinzipien. Rowling gibt Jacks bitteren Tränen einen Sinn, denn im Land der verlorenen Dinge wird schwer sortiert – wer auf Erden geliebt wurde, hat es dort leicht. Jack lernt ein schielendes blaues Plüschhäschen kennen, mit dem keiner je gespielt hat und das in Wirklichkeit irgendwo im Matsch liegt.
Es soll nun in den Teil des Landes, in dem der große Verlierer alle frisst, die er zu fassen kriegt. Er ist der Herrscher über das ganze Land. Lieber mag dieses Monster verlegte Löffel und Gabeln, zur Not nimmt es aber auch Plüschhasen, jedenfalls Dinge, die auf Erden nicht wirklich gebraucht wurden. Das ist die innere Logik dieser Riesenmüllhalde: Das Trauern ist wichtig, denn was nicht ausreichend betrauert wurde, landet in einer schrecklichen Ödnis und wird dort gefressen. Wer aber richtig ausdauernd vermisst und beweint wird wie Jacks kleines Frotteeschwein, dessen Bauch schon ganz schlaff ist und dem die Mutter die Augen mit Knöpfen ersetzt hat, kommt an einen besonderen Ort, von dem er gar nicht mehr weg will.
Fast würde man am Anfang des Buchs, wenn das Plüschtier aus dem Autofenster geflogen ist, erwarten, dass Jacks Großeltern oder seine Mutter, irgendwer, sich mit ihm hinsetzt und einen Facebook-Aufruf verfasst, damit andere helfen bei der Schweinjagd – aber „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“ ist tatsächlich ein Buch ohne Internet oder soziale Medien. Es spielt in einer surrealen Welt realer Dinge, und aus J.K. Rowlings Sicht sind Facebookland und die Twittersphere nur bedingt real.
Eigentlich ist „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachtsschwein“ vor allem ein Buch über den Wert der greifbaren Dinge, tief verwurzelt in der analogen Welt, wo sich nichts in Luft auflöst, sondern eher in beißenden Rauch – was altmodisch klingt, aber natürlich ganz richtig ist: Wenn irgendetwas die Klimakrise befeuert, ist es die Wegwerfgesellschaft. Den allesfressenden Verlierer, so schnappt es Jack im Land der verlorenen Dinge auf, haben Gier und Grausamkeit geschaffen.
Würden die Menschen auch als Erwachsene noch alles um sie herum behandeln, als ob es eine Seele hätte, gäbe es viel, viel weniger Müll.
Jeder, der mal ein
Kind war, erschauert
bei diesem Gedanken
Das Trauern ist wichtig.
Was nicht betrauert wurde,
landet in schrecklicher Ödnis
J.K. Rowling:
Jacks wundersame
Reise mit dem
Weihnachtsschwein. Illustriert von Jim Field. Carlsen Verlag 2021.
336 Seiten. 20 Euro
Twitter? Ein laues Lüftchen für diese Frau: Bestseller-Autorin J.K. Rowling.
Foto: Reuters
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