»Der stille junge Mann«, heißt es von Jacob Flanders, und: »wie besonders er aussieht«. Er hat das College in Cambridge verlassen und lebt in London. Flüchtige Freundschaften und Liebeserlebnisse lassen ihn spüren, wie einsam er mit seinem vielleicht nicht mehr zeitgemäßen Weltbild ist. Mehr und mehr zieht er sich in sein Zimmer und seinen eigenen geistig-seelischen Bereich zurück, liest bis spät in die Nacht Autoren der griechischen und römischen Antike und der elisabethanischen Zeit. Auf einer Reise nach Italien und Griechenland will er die klassischen Kunstdenkmäler als den Ausdruck von Einheit und Größe erleben, der seinem Ideal entspricht. Ist es das, was er erlebt? Nach seiner Rückkehr findet er den Kontakt zur Gegenwart nicht mehr. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen; Jacobs Spur verliert sich in Flandern. In sein Zimmer dringen jetzt durch das offene Fenster die Laute des modernen Lebens. Mit ihrem dritten Roman hat Virginia Woolf den entscheidenden Schritt in ihrer künstlerischen Entwicklung getan. Flüchtige Sinneswahrnehmungen, Momentaufnahmen, Gesprächsfetzen, wie mit dem Blick des Malers eingefangene Impressionen, das sind die Mittel, die sie nun bewußt einsetzt. Mit vierzig Jahren, schrieb Virginia Woolf in ihr Tagebuch, habe sie herausgefunden, »wie ich es anfangen muß, etwas mit eigener Stimme zu sagen.«
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1998Die Raumdeutung
Virginia Woolfs Chor der Stimmen · Von Eberhard Rathgeb
Am 27. Oktober 1922 erschien im Verlag der Hogarth Press der Roman "Jacob's Room" in einer Auflage von eintausendzweihundert Exemplaren. Den Verlag hatte die Autorin, Virginia Woolf, zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, fünf Jahre zuvor gegründet. Zwei Romane hatte sie schon veröffentlicht, "The Voyage Out" (1915) und "Night and Day" (1919). Mit "Jacobs Zimmer" aber, wie die deutsche Neuübersetzung heißt (die alte Übersetzung trug den Titel "Jacobs Raum"), hatte sie ihren Stil gefunden; nun wußte sie, "wie ich es (mit 40) anfangen muß, etwas mit eigener Stimme zu sagen". Das vertraute sie ihrem Tagebuch am 26. Juli 1922 an. Auf das Urteil ihres Mannes war sie gespannt, und den Zeilen, in denen sie seine Reaktion festhielt, merkt man ihre Erleichterung an. Er halte es für ihr bestes Werk, "aber das erste, was er sagte, war, daß es erstaunlich gut geschrieben sei. Wir debattierten darüber . . . er sagt, es sei sehr seltsam: ich hätte keine Lebensphilosophie . . ." Virginia Woolf hatte den Weg beschritten, der sie zu ihren vielgerühmten Büchern "Mrs. Dalloway", "To the Lighthouse" und "The Waves" führen sollte. Mit der neuen Übersetzung des Romans läßt sich der Beginn einer schon klassisch gewordenen Moderne noch einmal besichtigen.
Noch heute bewundert man an den Romanen Virginia Woolfs die sprachliche Meisterschaft. Die Art ihres Schreibens sowie der Mangel an "Lebensphilosophie" lassen sich als Garanten dafür verstehen, daß diese Autorin zu den wirklichen Modernen zählt, zu den wenigen großen Schriftstellern, die am Anfang dieses Jahrhunderts mit den traditionellen Darstellungsweisen und ihren psychologisch geschlossenen Figuren brachen und die Kunst des Erzählens als eigenständige Form der Welterkundung neu definierten. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von "Jacob's Room" hat Virginia Woolf in dem Essay "Mr. Bennett und Mrs. Brown" diese Unterschiede des Erzählens hervorgehoben und als einen Grund für das neue Erzählen genannt: "Wie wenig wissen wir vom Charakter, wie wenig wissen wir von der Kunst." Damit schloß sie zusammen, was Leonard Woolf schon zusammensah, den Mangel an "Lebensphilosophie" und den durch seine kreisende, suchende Reflexivität auffallenden Sprachstil.
In "Jacobs Zimmer" taucht ein Kind auf, sein Bruder, seine Mutter; und dann ist aus dem Kind über Nacht ein junger Mann geworden, der das Trinity College in Cambridge besucht und sich auf eine Reise nach Griechenland begibt. Er kehrt wieder zurück, bezieht sein Zimmer in London, und schließlich, als der Erste Weltkrieg ausbricht, geht er in den Krieg. Er hinterläßt sein Zimmer unaufgeräumt, so als wäre er in dem Glauben hinausgezogen, noch einmal aus dem großen Krieg zurückzukommen. "Inwieweit war Jacob Flanders im Alter von sechsundzwanzig ein dummer Kerl? Der Versuch, Menschen in ihrer Gänze zu erfassen, ist zwecklos. Man muß Andeutungen nachgehen, nicht unbedingt dem, was gesagt wird, auch nicht völlig dem, was getan wird." Das Reden und das Handeln gehört zur Außenwelt, und es war eine der herausragenden Leistungen Virginia Woolfs, die Innenwelt erneut der Literatur zurückgewonnen zu haben, und zwar in einer ihr eigenen Architektur.
Der sogenannte Charakter des traditionellen Romans war nichts anderes gewesen als die künstliche Formung eines letztlich nicht Formbaren, die Übertragung eines Formprinzips der Außenwelt auf innerweltliche Ereignisse und Zustände, deren Eigenart sich dem Zugriff der Psychologie und dem ordnenden Eingriff der Philosophie insofern entzog, als das seelische Material von seiner wissenschaftlichen Formung unterschieden blieb. Mit Sigmund Freuds "Traumdeutung" als literarischem Ereignis holte die Erkundung der Seele aus wissenschaftlicher Sicht die literarischen Vorläufer ein. Virginia Woolf hat erst am Ende ihres Lebens Freuds Schriften gelesen, während ihr Mann die "Psychopathologie des Alltagslebens" gleich bei Erscheinen rezensierte, so wie der Bloomsbury Kreis insgesamt ein offenes Ohr für die Psychoanalyse hatte. Aus seiner Mitte gingen die englischen Übersetzer der Freudschen Schriften hervor.
Virginia Woolfs Stil lebt von der Assoziation, der geistvollen Auslegung der Andeutungen, der Verknüpfung von Wahrnehmungen, dem Verbinden von Reizen. Statt den Menschen zu formen, löst sie ihn auf. Als Zentrifugalkraft seines Inneren läßt sie ihm nur die magnetische Kraft eines Sinnes für Gleichklang und Disharmonie mit dem Außen. Alle Figuren hält sie in der Schwebe. Diese Unsicherheit möchte der Tatsache gerecht werden, daß das Werden nicht ein Reifen, sondern nur ein Gerinnen ist, und daß das Wissen über sich selbst ohne Garantie ist und nur im elegischen Moment der Erinnerung Kontinuität gewinnt. Virginia Woolf sucht die Gegenwärtigkeit des Lebens zu erzählen. Die Präsenz ist der Raum ihres Erzählens und ihre Metapher ist Jacobs Zimmer.
Das achtzehnte Jahrhundert habe seine Eigenart, schreibt Virginia Woolf auf der letzten Seite des Romans; die Häuser haben "wohldimensionierte" Räume, hohe Decken, und im Türsturz fände man eine Rose oder einen Widderschädel ins Holz geschnitzt. In einem solchen Haus hatte einhundertfünfzig Jahre später Jacob sein Zimmer bezogen. Nur rückblickend ins ferngerückte Jahrhundert kann man sich der Vorstellung überlassen, es hätten dort Charaktere gewohnt. Virginia Woolf beendete diesen Traum auch deswegen, weil sie sich dem Leben ohne Philosophie annähern wollte. Was sie fand, war ein reflektierendes Schreiben um die Leere: um ein verlassenes Zimmer.
Aus solchen Innenräumen kommen die Stimmen, die an die Stelle der traditionellen Figuren getreten sind. Sie setzen wieder in eins, was durch die Psychologisierung der poetischen Helden getrennt wurde. Dort gab es die Rede und eine austarierte Seelenlage, die Handlung und eine Motivkette. Hier, bei Virginia Woolf und ihren Stimmen, findet man die Unmittelbarkeit wieder, den Ton, der die Bedeutung ausmacht, die Stimmlage, die den Sinn grundiert.
Die Flüchtigkeit der Stimme, ihr Aufgehen im Laut macht aus der traditionellen Innenwelt einen Körper, dessen Konturen vom Echo, von der Resonanz definiert werden. Jacobsche Zimmer betritt man deswegen in allen folgenden Romanen Virginia Woolfs. Durch die eine Tür geht das Ich in den Salon mit Biographie, Beruf und Adresse, zu den vorgestellten, nacherzählbaren Figuren also, durch die andere Tür kommt es hinaus in den Vorgarten der Redewendungen und Definitionsbemühungen und wird darüber stumm. Mit Jacobs Raum zog Virginia Woolf dem Ästhetischen eine Grenze, die Modernität markierte. Wo Ich war, ist nun Stimme, Klang, Stil.
Virginia Woolf: "Jacobs Zimmer". Gesammelte Werke, Prosa 4. Hrsg. von Klaus Reichert. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 206 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Virginia Woolfs Chor der Stimmen · Von Eberhard Rathgeb
Am 27. Oktober 1922 erschien im Verlag der Hogarth Press der Roman "Jacob's Room" in einer Auflage von eintausendzweihundert Exemplaren. Den Verlag hatte die Autorin, Virginia Woolf, zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, fünf Jahre zuvor gegründet. Zwei Romane hatte sie schon veröffentlicht, "The Voyage Out" (1915) und "Night and Day" (1919). Mit "Jacobs Zimmer" aber, wie die deutsche Neuübersetzung heißt (die alte Übersetzung trug den Titel "Jacobs Raum"), hatte sie ihren Stil gefunden; nun wußte sie, "wie ich es (mit 40) anfangen muß, etwas mit eigener Stimme zu sagen". Das vertraute sie ihrem Tagebuch am 26. Juli 1922 an. Auf das Urteil ihres Mannes war sie gespannt, und den Zeilen, in denen sie seine Reaktion festhielt, merkt man ihre Erleichterung an. Er halte es für ihr bestes Werk, "aber das erste, was er sagte, war, daß es erstaunlich gut geschrieben sei. Wir debattierten darüber . . . er sagt, es sei sehr seltsam: ich hätte keine Lebensphilosophie . . ." Virginia Woolf hatte den Weg beschritten, der sie zu ihren vielgerühmten Büchern "Mrs. Dalloway", "To the Lighthouse" und "The Waves" führen sollte. Mit der neuen Übersetzung des Romans läßt sich der Beginn einer schon klassisch gewordenen Moderne noch einmal besichtigen.
Noch heute bewundert man an den Romanen Virginia Woolfs die sprachliche Meisterschaft. Die Art ihres Schreibens sowie der Mangel an "Lebensphilosophie" lassen sich als Garanten dafür verstehen, daß diese Autorin zu den wirklichen Modernen zählt, zu den wenigen großen Schriftstellern, die am Anfang dieses Jahrhunderts mit den traditionellen Darstellungsweisen und ihren psychologisch geschlossenen Figuren brachen und die Kunst des Erzählens als eigenständige Form der Welterkundung neu definierten. Zwei Jahre nach dem Erscheinen von "Jacob's Room" hat Virginia Woolf in dem Essay "Mr. Bennett und Mrs. Brown" diese Unterschiede des Erzählens hervorgehoben und als einen Grund für das neue Erzählen genannt: "Wie wenig wissen wir vom Charakter, wie wenig wissen wir von der Kunst." Damit schloß sie zusammen, was Leonard Woolf schon zusammensah, den Mangel an "Lebensphilosophie" und den durch seine kreisende, suchende Reflexivität auffallenden Sprachstil.
In "Jacobs Zimmer" taucht ein Kind auf, sein Bruder, seine Mutter; und dann ist aus dem Kind über Nacht ein junger Mann geworden, der das Trinity College in Cambridge besucht und sich auf eine Reise nach Griechenland begibt. Er kehrt wieder zurück, bezieht sein Zimmer in London, und schließlich, als der Erste Weltkrieg ausbricht, geht er in den Krieg. Er hinterläßt sein Zimmer unaufgeräumt, so als wäre er in dem Glauben hinausgezogen, noch einmal aus dem großen Krieg zurückzukommen. "Inwieweit war Jacob Flanders im Alter von sechsundzwanzig ein dummer Kerl? Der Versuch, Menschen in ihrer Gänze zu erfassen, ist zwecklos. Man muß Andeutungen nachgehen, nicht unbedingt dem, was gesagt wird, auch nicht völlig dem, was getan wird." Das Reden und das Handeln gehört zur Außenwelt, und es war eine der herausragenden Leistungen Virginia Woolfs, die Innenwelt erneut der Literatur zurückgewonnen zu haben, und zwar in einer ihr eigenen Architektur.
Der sogenannte Charakter des traditionellen Romans war nichts anderes gewesen als die künstliche Formung eines letztlich nicht Formbaren, die Übertragung eines Formprinzips der Außenwelt auf innerweltliche Ereignisse und Zustände, deren Eigenart sich dem Zugriff der Psychologie und dem ordnenden Eingriff der Philosophie insofern entzog, als das seelische Material von seiner wissenschaftlichen Formung unterschieden blieb. Mit Sigmund Freuds "Traumdeutung" als literarischem Ereignis holte die Erkundung der Seele aus wissenschaftlicher Sicht die literarischen Vorläufer ein. Virginia Woolf hat erst am Ende ihres Lebens Freuds Schriften gelesen, während ihr Mann die "Psychopathologie des Alltagslebens" gleich bei Erscheinen rezensierte, so wie der Bloomsbury Kreis insgesamt ein offenes Ohr für die Psychoanalyse hatte. Aus seiner Mitte gingen die englischen Übersetzer der Freudschen Schriften hervor.
Virginia Woolfs Stil lebt von der Assoziation, der geistvollen Auslegung der Andeutungen, der Verknüpfung von Wahrnehmungen, dem Verbinden von Reizen. Statt den Menschen zu formen, löst sie ihn auf. Als Zentrifugalkraft seines Inneren läßt sie ihm nur die magnetische Kraft eines Sinnes für Gleichklang und Disharmonie mit dem Außen. Alle Figuren hält sie in der Schwebe. Diese Unsicherheit möchte der Tatsache gerecht werden, daß das Werden nicht ein Reifen, sondern nur ein Gerinnen ist, und daß das Wissen über sich selbst ohne Garantie ist und nur im elegischen Moment der Erinnerung Kontinuität gewinnt. Virginia Woolf sucht die Gegenwärtigkeit des Lebens zu erzählen. Die Präsenz ist der Raum ihres Erzählens und ihre Metapher ist Jacobs Zimmer.
Das achtzehnte Jahrhundert habe seine Eigenart, schreibt Virginia Woolf auf der letzten Seite des Romans; die Häuser haben "wohldimensionierte" Räume, hohe Decken, und im Türsturz fände man eine Rose oder einen Widderschädel ins Holz geschnitzt. In einem solchen Haus hatte einhundertfünfzig Jahre später Jacob sein Zimmer bezogen. Nur rückblickend ins ferngerückte Jahrhundert kann man sich der Vorstellung überlassen, es hätten dort Charaktere gewohnt. Virginia Woolf beendete diesen Traum auch deswegen, weil sie sich dem Leben ohne Philosophie annähern wollte. Was sie fand, war ein reflektierendes Schreiben um die Leere: um ein verlassenes Zimmer.
Aus solchen Innenräumen kommen die Stimmen, die an die Stelle der traditionellen Figuren getreten sind. Sie setzen wieder in eins, was durch die Psychologisierung der poetischen Helden getrennt wurde. Dort gab es die Rede und eine austarierte Seelenlage, die Handlung und eine Motivkette. Hier, bei Virginia Woolf und ihren Stimmen, findet man die Unmittelbarkeit wieder, den Ton, der die Bedeutung ausmacht, die Stimmlage, die den Sinn grundiert.
Die Flüchtigkeit der Stimme, ihr Aufgehen im Laut macht aus der traditionellen Innenwelt einen Körper, dessen Konturen vom Echo, von der Resonanz definiert werden. Jacobsche Zimmer betritt man deswegen in allen folgenden Romanen Virginia Woolfs. Durch die eine Tür geht das Ich in den Salon mit Biographie, Beruf und Adresse, zu den vorgestellten, nacherzählbaren Figuren also, durch die andere Tür kommt es hinaus in den Vorgarten der Redewendungen und Definitionsbemühungen und wird darüber stumm. Mit Jacobs Raum zog Virginia Woolf dem Ästhetischen eine Grenze, die Modernität markierte. Wo Ich war, ist nun Stimme, Klang, Stil.
Virginia Woolf: "Jacobs Zimmer". Gesammelte Werke, Prosa 4. Hrsg. von Klaus Reichert. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998. 206 S., geb., 36,- DM.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.12.2014KRIEGSKLASSIKER
Virginia Woolfs Roman
„Jacobs Zimmer“
Auch dies ist ein Buch zum Ersten Weltkrieg, wenngleich das Ereignis hier nur schemenhaft Gestalt gewinnt, in Andeutungen, Assoziationen, atmosphärischen Schwingungen. Virginia Woolfs Roman „Jacobs Zimmer“ (1922), der im selben Jahr erschien wie der „Ulysses“ von James Joyce, ist, obwohl viel weniger bekannt, ebenfalls ein Schlüsselwerk der literarischen Moderne.
Nach zwei konventionell erzählten Romanen bediente die Autorin, die von 1882 bis 1941 lebte, sich hier erstmals im großen Format der experimentellen Technik, die sie zuvor in Kurzgeschichten erprobt hatte und später in „Mrs Dalloway“, „Zum Leuchtturm“ und „Die Wellen“ vervollkommnen sollte. An Virginia Woolfs Werk lässt sich trefflich die Frage diskutieren, inwieweit die Zerschlagung der alten europäischen Verhältnisse sich in der Auflösung herkömmlicher Erzählstrukturen spiegelte.
„Jacobs Zimmer“ bezeichnet den realen und den innerseelischen Raum, in den sich der Protagonist, ein junger, hochgebildeter Engländer, vor einer ihm fremd gewordenen Gegenwart zurückzieht. Sein kurzer Lebensgang, durch filmähnliche Schnitte in eine lose Folge sensorisch aufgeladener Bilder, vielstimmiger Kommentare und scharfsinnig-ironischer Beobachtungen zerlegt, endet abrupt mit dem Kriegsausbruch, zeitgleich mit Jacobs Rückkehr von einer Griechenland-Reise. Danach ist das leere Zimmer die Chiffre für seinen Tod auf den Schlachtfeldern, die sein Nachname „Flanders“ schon ominös vorweggenommen hat.
In die Figur des Jacob sind Züge von Virginia Woolfs Bruder Thoby Stephen eingegangen; er ist allerdings nicht im Krieg gefallen, sondern schon 1906 an Typhus gestorben. Im Werdegang der Schriftstellerin markiert der Roman den entscheidenden Wendepunkt. Und der heutige Leser darf darüber staunen, wie mit den vermeintlich spröden Mitteln der Avantgarde ein derart sinnliches, geistreiches und kurzweiliges Porträt einer untergehenden Gesellschaft gelingen konnte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
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Virginia Woolfs Roman
„Jacobs Zimmer“
Auch dies ist ein Buch zum Ersten Weltkrieg, wenngleich das Ereignis hier nur schemenhaft Gestalt gewinnt, in Andeutungen, Assoziationen, atmosphärischen Schwingungen. Virginia Woolfs Roman „Jacobs Zimmer“ (1922), der im selben Jahr erschien wie der „Ulysses“ von James Joyce, ist, obwohl viel weniger bekannt, ebenfalls ein Schlüsselwerk der literarischen Moderne.
Nach zwei konventionell erzählten Romanen bediente die Autorin, die von 1882 bis 1941 lebte, sich hier erstmals im großen Format der experimentellen Technik, die sie zuvor in Kurzgeschichten erprobt hatte und später in „Mrs Dalloway“, „Zum Leuchtturm“ und „Die Wellen“ vervollkommnen sollte. An Virginia Woolfs Werk lässt sich trefflich die Frage diskutieren, inwieweit die Zerschlagung der alten europäischen Verhältnisse sich in der Auflösung herkömmlicher Erzählstrukturen spiegelte.
„Jacobs Zimmer“ bezeichnet den realen und den innerseelischen Raum, in den sich der Protagonist, ein junger, hochgebildeter Engländer, vor einer ihm fremd gewordenen Gegenwart zurückzieht. Sein kurzer Lebensgang, durch filmähnliche Schnitte in eine lose Folge sensorisch aufgeladener Bilder, vielstimmiger Kommentare und scharfsinnig-ironischer Beobachtungen zerlegt, endet abrupt mit dem Kriegsausbruch, zeitgleich mit Jacobs Rückkehr von einer Griechenland-Reise. Danach ist das leere Zimmer die Chiffre für seinen Tod auf den Schlachtfeldern, die sein Nachname „Flanders“ schon ominös vorweggenommen hat.
In die Figur des Jacob sind Züge von Virginia Woolfs Bruder Thoby Stephen eingegangen; er ist allerdings nicht im Krieg gefallen, sondern schon 1906 an Typhus gestorben. Im Werdegang der Schriftstellerin markiert der Roman den entscheidenden Wendepunkt. Und der heutige Leser darf darüber staunen, wie mit den vermeintlich spröden Mitteln der Avantgarde ein derart sinnliches, geistreiches und kurzweiliges Porträt einer untergehenden Gesellschaft gelingen konnte.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
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der heutige Leser darf [...] staunen, wie mit den vermeintlich spröden Mitteln der Avantgarde ein derart sinnliches, geistreiches und kurzweiliges Porträt einer untergehenden Gesellschaft gelingen konnte. Kristina Maidt-Zinke Süddeutsche Zeitung 20141211