Basis für die Tätigkeit des Phonogrammarchivs waren und sind seine wissenschaftlichen Ton- und Videoaufnahmen – das Ergebnis der engen Verbindung von Feldforschung und Archivierung, die optimale Bedingungen für Synergien hinsichtlich neuer wissenschaftlicher Ansätze und Erkenntnisse schafft. Dementsprechend sind drei Arbeitsschwerpunkte verankert, nämlich die Erforschung und audiovisuelle Dokumentation bedrohter Sprachen und Kulturen, die kontextualisierende Forschung sowie die technische Forschung und Entwicklung im audiovisuellen Bereich. Die Beiträge im Jahrbuch 2, die in die drei Hauptkapitel „Kultur- und Sprachwissenschaft in Himachal Pradesh“, „Aufnahmetechnik und Analyse“ sowie „Kulturwissenschaften und Geschichte“ unterteilt sind, folgen diesem generellen Ansatz. Feldforschungs- und Projektberichte sowie zwei Rezensionen runden das Bild ebenso ab wie ein geraffter Jahresbericht für 2010. Die Autoren kommen diesmal aus dem Kreise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Phonogrammarchivs sowie der Forscherinnen und Forscher, die in engem Kontakt mit dem Archiv ihre Feldforschungsprojekte geplant und ihre Aufnahmen in der Folge zum Archivieren deponiert haben.
Als Paradebeispiel für Multidisziplinarität und Synergieeffekte können nun schon seit einigen Jahren die Forschungen im indischen Bundesstaat Himachal Pradesh gelten, die der audiovisuellen Dokumentation bedrohter Sprachen und Kulturen dienen und sowohl durch Mitarbeiter des Phonogrammarchivs als auch mit ihm kooperierende Forscherinnen und Forscher durchgeführt werden. Das traditionelle, mehrtägige Scherken Fest in Pooh wird aus sozialanthropologischer Sicht erklärt (Chr. Jahoda), Zähl- und Alphabetlieder in der Oraltradition Westtibets präsentiert (V. Hein); ein dritter, rein linguistischer Artikel (Chr. Huber) widmet sich Genus- und Numerusmarkierung, (verbaler) Pluralität und Verwandtschaftsterminologie des Shumcho, einer erst vor Kurzem entdeckten Sprache.
Eine enge Zusammenarbeit zwischen Technik und Musikwissenschaft tritt in den beiden folgenden Beiträgen zutage: Die Entwicklung der mehrspurigen Tonaufzeichnungsverfahren (J. Schöpf) einerseits und die Einbeziehung der Videographie (H. Kowar & F. Pavuza) andererseits machen deutlich, welche „Arbeitsbehelfe“ für bestimmte musikwissenschaftliche Fragestellungen – wie Musiktranskriptionen oder Analysen – erwünscht und notwendig sind. Dienen Mehrspuraufnahmen in der Feldforschung der Erstellung von akustischen Quellen für Transkriptionen verschiedener Mehrstimmigkeitsformen, so erlaubt die Videographie beim Abspielen von mechanischen Musikinstrumenten (hier von Flötenuhren) neue Analysemöglichkeiten, um einen korrekten Einblick in die historische Aufführungspraxis zu geben.
Auch die vorliegenden Beiträge zu kontextualisierender Forschung reflektieren die Multidisziplinarität, indem von soziologischer, ethnomusikologischer und kulturwissenschaftlich-historischer Sicht ausgegangen wird. Es sind die Aufnahmen selbst, die einen so breit gefächerten Zugang erfordern, um auf Grundlage der audiovisuellen Dokumentation eines Ereignisses, das nur als kurzer und schmaler Ausschnitt der „Wirklichkeit“ gelten kann, gewissermaßen allgemein gültige Aussagen treffen zu können. Methodologische Neuorientierungen in den Sozialwissenschaften (A. Ploder) zielen auf die Interpretation von Kultur, ihre Darstellung durch die Akteure und deren Wirkung auf die Rezipienten ab, wobei Bedeutungen oder Erkenntnisse als dynamisch und komplex beschrieben und im Dialog immer wieder neu formuliert werden. Überlegungen zum Traditionsbegriff, zur „Erfindung“ von Tradition im jeweils eigenen Kulturverständnis werden am Beispiel der Shipibo Perus (B. Brabec) ausgeführt. Kulturelle Veränderungen, hier die Sesshaftwerdung der Wanderhirten in Südosteuropa (Th. Kahl), haben Einfluss auf deren Sprache. Ziel des vorgestellten Projektes war es, die spezifische Terminologie zu dokumentieren und den Wandel, der aus Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt resultiert, zu beschreiben. Schließlich bestätigen „Anmerkungen“ zu den im Phonogrammarchiv aufbewahrten historischen Aufnahmen aus Nord- und Südamerika (Chr. Liebl) die Wichtigkeit, sich mit den Umständen, Zielsetzungen und zeitgenössischen Rezeptionen solcher Aufnahme- und Forschungsprojekte immer wieder auseinanderzusetzen, um Zusammenhänge, Netzwerke und wissenschaftshistorische Entwicklungen noch besser zu verstehen.
Berichte über Feldforschungen in Senegal (H. Köb), China (R. Brandl & L. Huang) und Taiwan (W. Lin) zeugen von unterschiedlichen Forschungsaktivitäten sowie dem damit einhergehenden Sammlungszuwachs. In technischer Hinsicht erwies sich eine Auftragsarbeit zur Sicherung eines Bestandes von moderner Kunst auf Videomaterial aus dem Essl-Museum gleichzeitig als Pilotstudie für die Migration der eigenen Videobestände (F. Pavuza). Der Abschlussbericht zur Digitalisierung des Schallarchivs in Tirana (R. Brandl, D. Schüller & N. Wallaszkovits) zeigt eindrucksvoll das Engagement des Phonogrammarchivs, seine Erfahrungen bezüglich technischer Sicherung und moderner Archivstrategien an andere weiterzugeben. Die hier veröffentlichten Rezensionen beziehen sich auf Publikationen, die auf audiovisuellem Material beruhen, das im Phonogrammarchiv langzeitgesichert und archiviert ist. Mit dieser „Textform“ schließt sich der Kreis von Betrachtungsmöglichkeiten, und es wird einmal mehr unterstrichen, dass das Phonogrammarchiv nicht nur als Bewahrer von Weltkulturerbe, sondern dank des fächerübergreifenden Ansatzes auch als besonderer Ort für innovative Forschung einerseits und für die Bereitstellung von gewonnenem Wissen andererseits zu gelten hat.
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