Tag für Tag, über ein Jahr hinweg, erzählt Gesine Cresspahl ihrer zehnjährigen Tochter Marie aus der eigenen Familiengeschichte, vom Leben in Mecklenburg in der Weimarer Republik, während der Herrschaft der Nazis, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren in der DDR. Zugleich schildert der Roman das alltägliche Leben von Mutter und Tochter in der Metropole New York im Epochejahr 1967/1968, inmitten von Vietnamkriegs- und Studentenprotesten. In den »Jahrestagen« entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – eine »Lese-Weltreise« (Reinhard Baumgart) in die bewegte New Yorker Gegenwart des Jahres 1968 und zugleich in die Geschichte einer deutschen Familie seit der Weimarer Republik.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2017Die Woche mit Frau Cresspahl
Zeit und Zeitung berühren sich: Uwe Johnsons "Jahrestage" wiedergelesen
Es gibt nichts Älteres, heißt es, als die Zeitung von gestern. Doch das kommt darauf an. Als der Schriftsteller Uwe Johnson im Sommersemester 1979 Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt war, erzählte er von seiner Zeit in New York und der Suche nach Material. Während seine Kollegen - Johnson war Angestellter eines Schulbuchverlags - auf einen Schlüsselroman im Verlagswesen hoffen, grast er 1966 und 1967 New York und dessen unmittelbare Umgebung nach etwas ab, wovon er selbst nicht weiß, was es sein kann. "Fast war das vereinbarte Jahr vorüber", als Johnson am 12. April 1967 auf Gesine Cresspahl stößt: "Ob sie wohl in Restaurants in ihrem Mantel sitzt? die Brille im Haar traegt?". In der nächsten Woche habe er sie dienstags in Richtung Sixth Avenue gehen sehen. "Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse [...] einer Gesine Cresspahl zu begegnen". Doch keine andere aus seinem erzählerischen Kosmos habe dort gehen können und nirgendwo hätte das "Mecklenburger Kind, aufgewachsen eine Stunde Fußweg von der Ostsee" anders wohnen können als am Riverside Drive an der Westküste Manhattans, dort wo Johnson selbst lebte.
Dank der Rockefeller Foundation blieb Johnson noch bis zum August 1968 in New York. Vom 29. Januar an schrieb er an den "Jahrestagen", die (undatiert) am 20. August 1967 an der Küste New Jerseys beginnen und am 20. August 1968 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei enden. Keine seiner Figuren und ihre Erinnerungen hat der in Vorpommern und Mecklenburg aufgewachsene Schriftsteller damit so genau erkundet wie Gesine Cresspahl - bekannt aus Johnsons 1959 veröffentlichtem Roman "Mutmassungen über Jakob" und der Erzählung "Osterwasser", erschienen 1964.
Die uns heute entfernt erscheinende Gegenwart des Romans wird von Gesine Cresspahls Lektüre der "New York Times" organisiert. Nur vordergründig aber ist Johnson ein Chronist des New York der späten sechziger Jahre, denn Zeit ist auf vielfältigere Weise das Thema der "Jahrestage": als Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit, als von einem Kalender gerahmtes Erinnern, als Abgleich von Erfahrungen und Nachrichten. Die stammen zwar aus den Jahren 1967/68; das sich zu ihnen in Bezug setzen aber, wie Erinnerung wellengleich in die Gegenwart spült, ist zeitlos oder zumindest teilweise zeitunabhängig. So wie es auch andere Zeit-Romane sind, James Joyce' "Ulysses" mit der auf den 16. Juni 1904 konzentrierten Handlung und Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Clarissa Dalloways Erinnerungen werden an einem Mittwoch im Juni des Jahres 1923 immer wieder durch Begegnungen und sensorische Wahrnehmungen ausgelöst. Im zuerst "Die Stunden" genannten Buch untersucht Woolf das Verhältnis unterschiedlicher Zeitmodelle. Das regelmäßige Geläut des Big Ben rahmt Dalloways Gedankenstrom, die aus den Angeln gehobene Tür des dritten Satzes setzt Erinnerungen frei, etwa die an ihre Jugendliebe Sally Seton. Aber es kann, wie im Fall des "Kriegszitterers" Septimus Warren Smith, ebenso die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs vergegenwärtigen, mit katastrophalen Folgen.
Ähnlich kann man die "Jahrestage" lesen: als Untersuchungsanordnung unterschiedlich erlebter Zeiten, als Versuch, eine Biographie zu organisieren. Dazu passt die zweite Funktion der Zeitungslektüre. Für Gesine Cresspahl, das erfahren die Leser bereits am 22. August 1967, ist die Zeitung Partnerin eines stillen Zwiegesprächs, ein bereits geschriebenes Tagebuch. So wie andere eines schreiben, liest sie das "Grey Old Lady" genannte Blatt "wie ein Gespräch mit jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit" und jener Skepsis, die man sonst einer "ausgedachten, nicht verwandten" Tante zuteilwerden lässt. Cresspahl selbst wird zur Chronistin Jerichows, ihrer Heimatstadt, indem sie ihrer Tochter von den Ereignissen in ihrer Heimat berichtet und sie zum Teil als Tondokumente festhält. Der Erzähler aber thematisiert sich als derjenige, der Gesine und ihre Tochter Marie ein Jahr lang beobachten darf und so die "Jahrestage" festhält.
Wer sie heute liest, findet sich unwillkürlich aufgefordert, die eigene Gegenwart mit den Tagen jener Jahre zu vergleichen. Johnson muss diese Möglichkeit, sein Buch im selben Rhythmus zu lesen, in dem er es schrieb, vor Augen gestanden haben. Eine tageweise Lektüre zum fünfzigsten Jubiläum der Jahrestage erlaubt, noch nicht alles wissen zu müssen, zu Beginn die vielen Ebenen noch nicht durchschaut zu haben und Johnson beispielsweise am 21. August 1967 noch unterstellen zu dürfen, er setze das Wort "Neger" strategisch ein und übersetzte nicht nur "negroe", weil es eben in der "New York Times" so stand. Es ist das Medium liberaler Weißer, durch das sich Johnson wie Cresspahl Zugang zur amerikanischen Gegenwart zu verschaffen suchen, ihr "sehepunckt" (Chladenius).
Die "sehepunckte" der Leserin heute aber können und sollen variieren. Dessen war Johnson, der sehr souverän über seine erzählerischen Mittel verfügte, gewiss. Er schrieb aus dem Tag heraus, nicht für ihn, und er durfte mit Lesern rechnen, für die das, wovon er erzählte, schon lange vergangen sein würde. Wer heute, nach einem halben Jahrhundert, zu den "Jahrestagen" greift, begegnet trotzdem nicht einer völlig entlegenen Welt. Darum ist ihre Lektüre auch ein Versuch herauszufinden, inwiefern uns nicht fremd ist, was schon so lange zurückliegt und sich durch Zeitung und Tagebuch an seine Zeit gebunden hatte. Schon nach wenigen Einträgen weiß die heutige Leserin: Der Roman legt immer wieder Fährten aus, gibt Hinweise, ohne sie zu Ende zu führen, verlangt detektivische Aufmerksamkeit und ist zugleich ein ästhetischer Genuss durch den Erinnerungsstrom, den er auslöst. Zeit und Zeitung haben sich in keinem Roman der Literaturgeschichte so folgenreich berührt wie in diesem.
BIRTE FÖRSTER.
Die Autorin, Historikerin in Darmstadt, wird sich von heute an in ihrem Blog "Die Woche mit Frau Cresspahl" auf faz.net/jahrestage jeden Samstag auf die Wege der "Jahrestage" Uwe Johnsons begeben.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeit und Zeitung berühren sich: Uwe Johnsons "Jahrestage" wiedergelesen
Es gibt nichts Älteres, heißt es, als die Zeitung von gestern. Doch das kommt darauf an. Als der Schriftsteller Uwe Johnson im Sommersemester 1979 Gastdozent für Poetik an der Universität Frankfurt war, erzählte er von seiner Zeit in New York und der Suche nach Material. Während seine Kollegen - Johnson war Angestellter eines Schulbuchverlags - auf einen Schlüsselroman im Verlagswesen hoffen, grast er 1966 und 1967 New York und dessen unmittelbare Umgebung nach etwas ab, wovon er selbst nicht weiß, was es sein kann. "Fast war das vereinbarte Jahr vorüber", als Johnson am 12. April 1967 auf Gesine Cresspahl stößt: "Ob sie wohl in Restaurants in ihrem Mantel sitzt? die Brille im Haar traegt?". In der nächsten Woche habe er sie dienstags in Richtung Sixth Avenue gehen sehen. "Meine Damen und Herren, Sie werden mir vorhalten, sicherlich sei ich der einzige gewesen auf der ganzen 42. Strasse [...] einer Gesine Cresspahl zu begegnen". Doch keine andere aus seinem erzählerischen Kosmos habe dort gehen können und nirgendwo hätte das "Mecklenburger Kind, aufgewachsen eine Stunde Fußweg von der Ostsee" anders wohnen können als am Riverside Drive an der Westküste Manhattans, dort wo Johnson selbst lebte.
Dank der Rockefeller Foundation blieb Johnson noch bis zum August 1968 in New York. Vom 29. Januar an schrieb er an den "Jahrestagen", die (undatiert) am 20. August 1967 an der Küste New Jerseys beginnen und am 20. August 1968 mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei enden. Keine seiner Figuren und ihre Erinnerungen hat der in Vorpommern und Mecklenburg aufgewachsene Schriftsteller damit so genau erkundet wie Gesine Cresspahl - bekannt aus Johnsons 1959 veröffentlichtem Roman "Mutmassungen über Jakob" und der Erzählung "Osterwasser", erschienen 1964.
Die uns heute entfernt erscheinende Gegenwart des Romans wird von Gesine Cresspahls Lektüre der "New York Times" organisiert. Nur vordergründig aber ist Johnson ein Chronist des New York der späten sechziger Jahre, denn Zeit ist auf vielfältigere Weise das Thema der "Jahrestage": als Wechselspiel von Gegenwart und Vergangenheit, als von einem Kalender gerahmtes Erinnern, als Abgleich von Erfahrungen und Nachrichten. Die stammen zwar aus den Jahren 1967/68; das sich zu ihnen in Bezug setzen aber, wie Erinnerung wellengleich in die Gegenwart spült, ist zeitlos oder zumindest teilweise zeitunabhängig. So wie es auch andere Zeit-Romane sind, James Joyce' "Ulysses" mit der auf den 16. Juni 1904 konzentrierten Handlung und Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Clarissa Dalloways Erinnerungen werden an einem Mittwoch im Juni des Jahres 1923 immer wieder durch Begegnungen und sensorische Wahrnehmungen ausgelöst. Im zuerst "Die Stunden" genannten Buch untersucht Woolf das Verhältnis unterschiedlicher Zeitmodelle. Das regelmäßige Geläut des Big Ben rahmt Dalloways Gedankenstrom, die aus den Angeln gehobene Tür des dritten Satzes setzt Erinnerungen frei, etwa die an ihre Jugendliebe Sally Seton. Aber es kann, wie im Fall des "Kriegszitterers" Septimus Warren Smith, ebenso die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs vergegenwärtigen, mit katastrophalen Folgen.
Ähnlich kann man die "Jahrestage" lesen: als Untersuchungsanordnung unterschiedlich erlebter Zeiten, als Versuch, eine Biographie zu organisieren. Dazu passt die zweite Funktion der Zeitungslektüre. Für Gesine Cresspahl, das erfahren die Leser bereits am 22. August 1967, ist die Zeitung Partnerin eines stillen Zwiegesprächs, ein bereits geschriebenes Tagebuch. So wie andere eines schreiben, liest sie das "Grey Old Lady" genannte Blatt "wie ein Gespräch mit jemand, dem sie zuhört und antwortet mit der Höflichkeit" und jener Skepsis, die man sonst einer "ausgedachten, nicht verwandten" Tante zuteilwerden lässt. Cresspahl selbst wird zur Chronistin Jerichows, ihrer Heimatstadt, indem sie ihrer Tochter von den Ereignissen in ihrer Heimat berichtet und sie zum Teil als Tondokumente festhält. Der Erzähler aber thematisiert sich als derjenige, der Gesine und ihre Tochter Marie ein Jahr lang beobachten darf und so die "Jahrestage" festhält.
Wer sie heute liest, findet sich unwillkürlich aufgefordert, die eigene Gegenwart mit den Tagen jener Jahre zu vergleichen. Johnson muss diese Möglichkeit, sein Buch im selben Rhythmus zu lesen, in dem er es schrieb, vor Augen gestanden haben. Eine tageweise Lektüre zum fünfzigsten Jubiläum der Jahrestage erlaubt, noch nicht alles wissen zu müssen, zu Beginn die vielen Ebenen noch nicht durchschaut zu haben und Johnson beispielsweise am 21. August 1967 noch unterstellen zu dürfen, er setze das Wort "Neger" strategisch ein und übersetzte nicht nur "negroe", weil es eben in der "New York Times" so stand. Es ist das Medium liberaler Weißer, durch das sich Johnson wie Cresspahl Zugang zur amerikanischen Gegenwart zu verschaffen suchen, ihr "sehepunckt" (Chladenius).
Die "sehepunckte" der Leserin heute aber können und sollen variieren. Dessen war Johnson, der sehr souverän über seine erzählerischen Mittel verfügte, gewiss. Er schrieb aus dem Tag heraus, nicht für ihn, und er durfte mit Lesern rechnen, für die das, wovon er erzählte, schon lange vergangen sein würde. Wer heute, nach einem halben Jahrhundert, zu den "Jahrestagen" greift, begegnet trotzdem nicht einer völlig entlegenen Welt. Darum ist ihre Lektüre auch ein Versuch herauszufinden, inwiefern uns nicht fremd ist, was schon so lange zurückliegt und sich durch Zeitung und Tagebuch an seine Zeit gebunden hatte. Schon nach wenigen Einträgen weiß die heutige Leserin: Der Roman legt immer wieder Fährten aus, gibt Hinweise, ohne sie zu Ende zu führen, verlangt detektivische Aufmerksamkeit und ist zugleich ein ästhetischer Genuss durch den Erinnerungsstrom, den er auslöst. Zeit und Zeitung haben sich in keinem Roman der Literaturgeschichte so folgenreich berührt wie in diesem.
BIRTE FÖRSTER.
Die Autorin, Historikerin in Darmstadt, wird sich von heute an in ihrem Blog "Die Woche mit Frau Cresspahl" auf faz.net/jahrestage jeden Samstag auf die Wege der "Jahrestage" Uwe Johnsons begeben.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.11.2023Gesines Gedanken
Charly Hübner und Caren Miosga haben erstmals Uwe Johnsons detailvernarrten
Jahrhundertroman „Jahrestage“ vollständig als Hörbuch eingesprochen.
2024 wird ein Uwe-Johnson-Gedenkjahr. Im kommenden Februar vor vierzig Jahren starb der Schriftsteller in seinem Haus in England, mit nur 49 Jahren – das beschädigte Herz. Mit seinem zwischen 1970 und 1983 entstandenen Romankoloss, dem vierbändigen, 1700 Seiten schweren „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ hat er ein Jahrhundertwerk vorgelegt. Im kommenden Juli vor neunzig Jahren wiederum wurde Johnson in Cammin, dem heutigen Kamień Pomorski, geboren. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er nach dem Krieg in Mecklenburg-Vorpommern.
In jenem Landstrich also, in dem er später sein fiktives Ostseedorf Jerichow ansiedelte, dessen Geschichte von den Dreißigerjahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familie Cresspahl erzählt wird. Und in dem sich auch das Landestheater Neustrelitz befindet, das ihm in dieser Spielzeit eine Veranstaltungsreihe widmet. Mit dabei: Charly Hübner und Caren Miosga. Der in Neustrelitz geborene Schauspieler und die Fernsehjournalistin stellen ihre Lesung von Johnsons Opus magnum vor, die gerade bei DAV erschienen ist. Und zwar zum ersten Mal in voller Länge, nachdem sich 1995/96 Max Volkert Martens schon einmal daran gesetzt und eine um gut die Hälfte gekürzte Version eingesprochen hatte. Diese dauerte 40, die aktuelle Lesung nun knapp 74 Stunden. Dank der außerordentlichen Leistung von Charly Hübner, der den weitaus größten Part zu bewältigen hatte, ein Wurf, mit dem er sich in die Geschichte des Hörbuchs einschreiben dürfte. Fortan wird man seinen Namen in einem Atemzug mit den Hörbuch-Monumenten von Peter Matić („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) und Wolfram Berger („Der Mann ohne Eigenschaften“) nennen.
Würde man täglich an die acht Stunden hören, wäre man nach zehn Tagen mit Johnsons Werk fertig, das vor dem Hintergrund des Holocaust um die Thematik von Erinnern und Vergessen, Schuld und Verantwortung kreist und gleichermaßen Provinzgeschichte, Familienchronik, Zeit-, Medien- und historischer Roman ist. Man könnte sich freilich auch ein Jahr lang jeden Tag einen der 366 Tageseinträge anhören und so den „Jahrestagen“ womöglich am gerechtesten werden.
Es ist die 1933 in Jerichow geborene und seit 1961 in New York lebende, alleinerziehende Mutter Gesine Cresspahl, die hier vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 auf ihre problematische Herkunft blickt und gleichzeitig dank der täglichen Lektüre der New York Times, mit der sie „wie mit einer Person“ Umgang pflegt, die eigene Gegenwart reflektiert: vom Vietnamkrieg über den Rassismus in ihrer Wahlheimat bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Das Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart prägt den Roman ebenso wie dessen besondere Erzählhaltung, über die es einmal heißt: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ Johnson gab über sein Schreiben die beredte Auskunft, ihm werde von „seinen Leuten“ deutlich „vorgesprochen“. Insofern hat Holger Helbig, Inhaber der Uwe-Johnson-Professur an der Universität Rostock, recht, wenn er im Booklet anführt, die „Jahrestage“ seien von Anfang an eine Geschichte gewesen, die nicht nur aufgeschrieben wurde, um gelesen, sondern auch, um gehört zu werden.
Es ist daher schlüssig, dass der Regisseur Wolfgang Stockmann in Hübner und Miosga zwei Sprecher ins Studio geholt hat. Indem sie Johnsons kunstvoll arrangierten Chor der Stimmen gemeinsam zu Gehör bringen, bekommt die Aufnahme eine Energie und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Von Caren Miosga, die nicht nur, aber auch die Zitate aus der „Tante Times“ vorträgt, erwartet man den typischen Nachrichtenton. Den aber liefert sie gerade nicht. Stattdessen moduliert sie wie eine Schauspielerin. Mitunter auch an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, so etwa, wenn sie bei Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald“, das „Bestie“ noch eigens betont. Einen besseren Interpreten für die „Jahrestage“ als Charly Hübner wiederum kann man sich nicht vorstellen.
Hübner sucht seine Projekte gezielt aus und ist dabei seiner Heimat oft eng verbunden. Jahrelang war er der Kommissar Sascha Bukow im Rostocker „Polizeiruf 110“, über die mecklenburgische Punkband Feine Sahne Fischfilet drehte er den Dokumentarfilm „Wildes Herz“. Dass er sich nun Uwe Johnsons angenommen hat, ist nur folgerichtig. Als Sohn Mecklenburgs ist ihm dessen Sound nicht fremd, die plattdeutschen Passagen der „Jahrestage“ beherrscht er sowieso. Er liest unaufgeregt und souverän, manchmal blitzt der Schelm durch. Er erschließt dieses Riesenwerk einem neuen Publikum.
Angesichts eines wachsenden Antisemitismus ist „Jahrestage“ kein aus der Zeit gefallener Roman, sondern immer noch beklemmend aktuell. Darin benennt Johnson das Mindeste, was man tun kann. Nämlich: „Wenigstens mit Kenntnis zu leben.“
FLORIAN WELLE
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine
Cresspahl.
Ungekürzte Lesung
mit Charly Hübner
und Caren Miosga.
73 Stunden und
53 Minuten. DAV,
Berlin 2023, 60 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Charly Hübner und Caren Miosga haben erstmals Uwe Johnsons detailvernarrten
Jahrhundertroman „Jahrestage“ vollständig als Hörbuch eingesprochen.
2024 wird ein Uwe-Johnson-Gedenkjahr. Im kommenden Februar vor vierzig Jahren starb der Schriftsteller in seinem Haus in England, mit nur 49 Jahren – das beschädigte Herz. Mit seinem zwischen 1970 und 1983 entstandenen Romankoloss, dem vierbändigen, 1700 Seiten schweren „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl“ hat er ein Jahrhundertwerk vorgelegt. Im kommenden Juli vor neunzig Jahren wiederum wurde Johnson in Cammin, dem heutigen Kamień Pomorski, geboren. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er nach dem Krieg in Mecklenburg-Vorpommern.
In jenem Landstrich also, in dem er später sein fiktives Ostseedorf Jerichow ansiedelte, dessen Geschichte von den Dreißigerjahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familie Cresspahl erzählt wird. Und in dem sich auch das Landestheater Neustrelitz befindet, das ihm in dieser Spielzeit eine Veranstaltungsreihe widmet. Mit dabei: Charly Hübner und Caren Miosga. Der in Neustrelitz geborene Schauspieler und die Fernsehjournalistin stellen ihre Lesung von Johnsons Opus magnum vor, die gerade bei DAV erschienen ist. Und zwar zum ersten Mal in voller Länge, nachdem sich 1995/96 Max Volkert Martens schon einmal daran gesetzt und eine um gut die Hälfte gekürzte Version eingesprochen hatte. Diese dauerte 40, die aktuelle Lesung nun knapp 74 Stunden. Dank der außerordentlichen Leistung von Charly Hübner, der den weitaus größten Part zu bewältigen hatte, ein Wurf, mit dem er sich in die Geschichte des Hörbuchs einschreiben dürfte. Fortan wird man seinen Namen in einem Atemzug mit den Hörbuch-Monumenten von Peter Matić („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) und Wolfram Berger („Der Mann ohne Eigenschaften“) nennen.
Würde man täglich an die acht Stunden hören, wäre man nach zehn Tagen mit Johnsons Werk fertig, das vor dem Hintergrund des Holocaust um die Thematik von Erinnern und Vergessen, Schuld und Verantwortung kreist und gleichermaßen Provinzgeschichte, Familienchronik, Zeit-, Medien- und historischer Roman ist. Man könnte sich freilich auch ein Jahr lang jeden Tag einen der 366 Tageseinträge anhören und so den „Jahrestagen“ womöglich am gerechtesten werden.
Es ist die 1933 in Jerichow geborene und seit 1961 in New York lebende, alleinerziehende Mutter Gesine Cresspahl, die hier vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 auf ihre problematische Herkunft blickt und gleichzeitig dank der täglichen Lektüre der New York Times, mit der sie „wie mit einer Person“ Umgang pflegt, die eigene Gegenwart reflektiert: vom Vietnamkrieg über den Rassismus in ihrer Wahlheimat bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag. Das Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart prägt den Roman ebenso wie dessen besondere Erzählhaltung, über die es einmal heißt: „Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.“ Johnson gab über sein Schreiben die beredte Auskunft, ihm werde von „seinen Leuten“ deutlich „vorgesprochen“. Insofern hat Holger Helbig, Inhaber der Uwe-Johnson-Professur an der Universität Rostock, recht, wenn er im Booklet anführt, die „Jahrestage“ seien von Anfang an eine Geschichte gewesen, die nicht nur aufgeschrieben wurde, um gelesen, sondern auch, um gehört zu werden.
Es ist daher schlüssig, dass der Regisseur Wolfgang Stockmann in Hübner und Miosga zwei Sprecher ins Studio geholt hat. Indem sie Johnsons kunstvoll arrangierten Chor der Stimmen gemeinsam zu Gehör bringen, bekommt die Aufnahme eine Energie und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Von Caren Miosga, die nicht nur, aber auch die Zitate aus der „Tante Times“ vorträgt, erwartet man den typischen Nachrichtenton. Den aber liefert sie gerade nicht. Stattdessen moduliert sie wie eine Schauspielerin. Mitunter auch an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, so etwa, wenn sie bei Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald“, das „Bestie“ noch eigens betont. Einen besseren Interpreten für die „Jahrestage“ als Charly Hübner wiederum kann man sich nicht vorstellen.
Hübner sucht seine Projekte gezielt aus und ist dabei seiner Heimat oft eng verbunden. Jahrelang war er der Kommissar Sascha Bukow im Rostocker „Polizeiruf 110“, über die mecklenburgische Punkband Feine Sahne Fischfilet drehte er den Dokumentarfilm „Wildes Herz“. Dass er sich nun Uwe Johnsons angenommen hat, ist nur folgerichtig. Als Sohn Mecklenburgs ist ihm dessen Sound nicht fremd, die plattdeutschen Passagen der „Jahrestage“ beherrscht er sowieso. Er liest unaufgeregt und souverän, manchmal blitzt der Schelm durch. Er erschließt dieses Riesenwerk einem neuen Publikum.
Angesichts eines wachsenden Antisemitismus ist „Jahrestage“ kein aus der Zeit gefallener Roman, sondern immer noch beklemmend aktuell. Darin benennt Johnson das Mindeste, was man tun kann. Nämlich: „Wenigstens mit Kenntnis zu leben.“
FLORIAN WELLE
Uwe Johnson:
Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine
Cresspahl.
Ungekürzte Lesung
mit Charly Hübner
und Caren Miosga.
73 Stunden und
53 Minuten. DAV,
Berlin 2023, 60 Euro.
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