Was passiert, wenn ein ganzes Land in Rente geht Seit den neunziger Jahren ist die einst als unbesiegbar geltende Wirtschaft Japans in einer Abwärtsspirale gefangen. Sie wird auch dadurch beschleunigt, dass Japans Bevölkerung so schnell altert wie kaum eine andere: In den vergangenen fünf Jahren verlor das Land knapp eine Million Menschen, ganze ländliche Regionen sterben gleichsam aus. Japans Beispiel zeigt, was passiert, wenn ein Land die Grenzen des Wachstums erreicht und sich tiefgreifenden Reformen - insbesondere der konsequenten Öffnung der Wirtschaft für Frauen und Einwanderer - verweigert. Wieland Wagner, Asien-Korrespondent des SPIEGEL, beschreibt in seinem Buch eindrucksvoll, wie die jahrzehntelange Stagnation den Alltag der Menschen verändert und welche Lehren wir in Deutschland aus dem Vergreisen dieser Wohlstandsnation ziehen sollten.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.02.2019Ende der
Klischeeblüten
Wieland Wagner erklärt Japans
Gesellschaft jenseits von Klischees
Klischees sind Wegweiser zu unbedachten Trampelpfaden, etwa ins Land des Lächelns. Schon die Titelseiten vieler Bücher über das ostasiatische Inselreich zeigen Kimonos oder Kirschblüten. Anders dagegen der lesenswerte Band des ehemaligen Spiegel-Journalisten Wieland Wagner, er trägt bei zum Ende der Klischeeblütenzeit. Bereits das Sonnensymbol auf dem Einband zeigt Risse; und der Titel verspricht wenig Gutes: „Japan – Abstieg in Würde“.
Wagner, verheiratet mit einer Japanerin, beschreibt krisenhafte Veränderungen im demografischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Der einstige Musterknabe Nippon geht ja inzwischen teils am Stock und schleppt hohe Staatsschulden mit sich. Zwischen der Metropolregion Tokio und ländlichen Präfekturen hat der Autor eine Gesellschaft kennengelernt, die mental völlig anders geprägt ist als unsere. Ein beschriftetes Briefkuvert verdeutlicht das: Wird in traditioneller Form adressiert, dann unterscheidet sich die Reihenfolge von unserer Anordnung. Japaner nennen zuerst die Ortsangaben, anschließend den Familien- und Vornamen. Dies ist typisch für den anderen Stellenwert, den das Individuum in Ostasien hat. Hierarchisch eingebunden in seine Gruppe hat sich der Einzelne konform zu verhalten. Bei Abweichungen funktioniert die soziale Kontrolle durch die Stärkeren, die eine sprichwörtliche Antwort parat haben: „Ein hervorstehender Nagel wird eingeschlagen.“
In seinem Nachruf auf Nippons Elektronikindustrie geht Wieland Wagner am Beispiel des Toshiba-Konzerns detailliert auf die negativen Folgen dieser „Kultur des kollektiven Gehorsams“ ein. Dabei erinnert er übrigens auch an den Dieselskandal hierzulande, wo ja ebenfalls Beschäftigte zu Befehlsempfängern degradiert wurden. Ein weiteres Problem, das beide Länder zunehmend belastet, ist die Vergreisung. Weltweit hat Japan die älteste Bevölkerung. Es fehlt seit Langem der nötige Nachwuchs und in manchen Branchen das Fachpersonal. Kommt noch (wie im Ruhrgebiet) ein industrieller Strukturwandel hinzu, dann sieht es so trist aus wie im heutigen Yubari (Hokkaido). Aus der einst wohlhabenden Kohle-Metropole ist eine armselige Siedlung geworden, in der ungefähr 8000 alte Leute leben. Kommunale und medizinische Leistungen gibt es für sie kaum. So schlecht geht es freilich nicht allen Japanern. Wagners Fazit fällt deshalb verhaltener aus: „Japan legt Wert auf Harmonie und Konsens. Das kann ausländische Beobachter bisweilen zur Verzweiflung treiben, vor allem dann, wenn Missstände offensichtlich unter den Teppich gekehrt werden. Andererseits wäre es falsch zu behaupten, dass Japan stillsteht. Die Gesellschaft wandelt sich, aber auf ihre eigene, ihr möglicherweise angemessenere Weise.“
WERNER HORNUNG
Wieland Wagner:
Japan – Abstieg in
Würde. Wie ein
alterndes Land um
seine Zukunft ringt.
Deutsche Verlags-Anstalt,
München 2018.
254 Seiten, 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Klischeeblüten
Wieland Wagner erklärt Japans
Gesellschaft jenseits von Klischees
Klischees sind Wegweiser zu unbedachten Trampelpfaden, etwa ins Land des Lächelns. Schon die Titelseiten vieler Bücher über das ostasiatische Inselreich zeigen Kimonos oder Kirschblüten. Anders dagegen der lesenswerte Band des ehemaligen Spiegel-Journalisten Wieland Wagner, er trägt bei zum Ende der Klischeeblütenzeit. Bereits das Sonnensymbol auf dem Einband zeigt Risse; und der Titel verspricht wenig Gutes: „Japan – Abstieg in Würde“.
Wagner, verheiratet mit einer Japanerin, beschreibt krisenhafte Veränderungen im demografischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Der einstige Musterknabe Nippon geht ja inzwischen teils am Stock und schleppt hohe Staatsschulden mit sich. Zwischen der Metropolregion Tokio und ländlichen Präfekturen hat der Autor eine Gesellschaft kennengelernt, die mental völlig anders geprägt ist als unsere. Ein beschriftetes Briefkuvert verdeutlicht das: Wird in traditioneller Form adressiert, dann unterscheidet sich die Reihenfolge von unserer Anordnung. Japaner nennen zuerst die Ortsangaben, anschließend den Familien- und Vornamen. Dies ist typisch für den anderen Stellenwert, den das Individuum in Ostasien hat. Hierarchisch eingebunden in seine Gruppe hat sich der Einzelne konform zu verhalten. Bei Abweichungen funktioniert die soziale Kontrolle durch die Stärkeren, die eine sprichwörtliche Antwort parat haben: „Ein hervorstehender Nagel wird eingeschlagen.“
In seinem Nachruf auf Nippons Elektronikindustrie geht Wieland Wagner am Beispiel des Toshiba-Konzerns detailliert auf die negativen Folgen dieser „Kultur des kollektiven Gehorsams“ ein. Dabei erinnert er übrigens auch an den Dieselskandal hierzulande, wo ja ebenfalls Beschäftigte zu Befehlsempfängern degradiert wurden. Ein weiteres Problem, das beide Länder zunehmend belastet, ist die Vergreisung. Weltweit hat Japan die älteste Bevölkerung. Es fehlt seit Langem der nötige Nachwuchs und in manchen Branchen das Fachpersonal. Kommt noch (wie im Ruhrgebiet) ein industrieller Strukturwandel hinzu, dann sieht es so trist aus wie im heutigen Yubari (Hokkaido). Aus der einst wohlhabenden Kohle-Metropole ist eine armselige Siedlung geworden, in der ungefähr 8000 alte Leute leben. Kommunale und medizinische Leistungen gibt es für sie kaum. So schlecht geht es freilich nicht allen Japanern. Wagners Fazit fällt deshalb verhaltener aus: „Japan legt Wert auf Harmonie und Konsens. Das kann ausländische Beobachter bisweilen zur Verzweiflung treiben, vor allem dann, wenn Missstände offensichtlich unter den Teppich gekehrt werden. Andererseits wäre es falsch zu behaupten, dass Japan stillsteht. Die Gesellschaft wandelt sich, aber auf ihre eigene, ihr möglicherweise angemessenere Weise.“
WERNER HORNUNG
Wieland Wagner:
Japan – Abstieg in
Würde. Wie ein
alterndes Land um
seine Zukunft ringt.
Deutsche Verlags-Anstalt,
München 2018.
254 Seiten, 20 Euro.
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»Der Reporter also macht sich auf den Weg zu den Menschen - und genau darauf, auf Gespräch und kluger Beobachtung, beruht die Stärke seiner Analyse.« Deutschlandfunk "Andruck" - Das Magazin für Politische Literatur