»Eine wunderbare, wunderbare Welt, diese schrecklich schöne Welt von Isaac Bashevis Singer!« Henry Miller
»Es kam selten vor, dass eine Frau, die schon in drei Bordellen gearbeitet hatte, noch heiratete … Es war ein Omen für alle Warschauer Huren, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte.«
Warschau 1911: Keila – die bereits mehrere Stationen in Bordellen hinter sich hat – findet in Jarmy, dem Ex-Häftling, ihre große Liebe. Das junge Ehepaar sehnt sich nach einem Leben außerhalb des jüdischen Gettos, in dem der Alltag von Armut und der Angst vor Pogromen geprägt ist. Dieser Traum scheint plötzlich zum Greifen nahe: Max, ein alter Bekannter, will in Amerika das große Geld machen – das Paar soll ihm dabei helfen. Keila soll junge Mädchen für die Bordelle in der Neuen Welt anwerben. Max selbst fühlt sich zu Jarmy hingezogen, dem er schon früher näherkam. Es entfaltet sich eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Da tritt der schüchterne und unerfahrene Bunem in ihr Leben, der sich auf ein Leben als Rabbiner vorbereitet. Für Keila, die er glühend verehrt, ist er bereit, mit allen Konventionen des Schtetls zu brechen. Werden die beiden in Amerika ihr Glück finden?
»Es kam selten vor, dass eine Frau, die schon in drei Bordellen gearbeitet hatte, noch heiratete … Es war ein Omen für alle Warschauer Huren, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte.«
Warschau 1911: Keila – die bereits mehrere Stationen in Bordellen hinter sich hat – findet in Jarmy, dem Ex-Häftling, ihre große Liebe. Das junge Ehepaar sehnt sich nach einem Leben außerhalb des jüdischen Gettos, in dem der Alltag von Armut und der Angst vor Pogromen geprägt ist. Dieser Traum scheint plötzlich zum Greifen nahe: Max, ein alter Bekannter, will in Amerika das große Geld machen – das Paar soll ihm dabei helfen. Keila soll junge Mädchen für die Bordelle in der Neuen Welt anwerben. Max selbst fühlt sich zu Jarmy hingezogen, dem er schon früher näherkam. Es entfaltet sich eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Da tritt der schüchterne und unerfahrene Bunem in ihr Leben, der sich auf ein Leben als Rabbiner vorbereitet. Für Keila, die er glühend verehrt, ist er bereit, mit allen Konventionen des Schtetls zu brechen. Werden die beiden in Amerika ihr Glück finden?
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.06.2019Tschechow im Schtetl
Ein stacheliges Werk: Suhrkamp legt die Romane des Nobelpreisträgers
Isaac Bashevis Singer neu auf. Zum Auftakt gibt es den Fortsetzungsroman „Jarmy und Keila“
VON FABIAN WOLFF
Alles stirbt, das ist ein Fakt, der für Zeitungen doppelt und dreifach gilt. Trotzdem fühlte es sich ganz pathetisch wie das Ende einer Ära an, als vor ein paar Monaten die gedruckte Version des Forverts eingestellt wurde. Im Januar dieses Jahres erschienen die letzten Printausgaben der jiddischen Zeitung aus New York und seines englischsprachigen Ablegers mit weitaus größerer Reichweite, dem Forward, der längst das Attribut „Daily“ verloren hatte. Die Geschichte des Forverts reicht zurück ins Jahr 1897 und steht für ein lebendiges und linkes jiddisch-immigrantisches New York – und für eine Literatur aus den Engen der Schtetl, Halb-Ghettos und Slums, die inzwischen Weltrang hat. Isaac Bashevis Singer, der jiddische Tschechow, schrieb bald nach seiner Ankunft in New York 1935 als Kolumnist für die Zeitung und veröffentlichte noch im hohen Alter Fortsetzungsromane im Blatt.
In dieser Form erschien auch der Roman „Jarme un Keile“ vom Dezember 1976 bis zum Oktober 1977 (bzw. dem 17. Kislev 5737 bis zum 25. Tishrei 5738) und kommt jetzt, mehr als 40 Jahre später, erstmals in deutscher Übersetzung im Jüdischen Verlag von Suhrkamp. Der lange Weg passt zum großen Bogen des Romans, der in Warschau beginnt und in New York endet.
Es ist also 1911, gerade wurde Pjotr Stolypin in Kiew von einem Revolutionär ermordet. Die Zeiten in der Krochmalna-Straße in Warschau sind hart, das Geld ist knapp, aber Jarmy und Keila haben einander. Er ist ein halbgebildeter Gauner, sie eine analphabetische Prostituierte, und ihre Liebe ist so groß, dass sie „ein Omen für alle Warschauer Huren war, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte, auch wenn man bis zum Kinn im Sumpf versank.“ Sie führen eine offene Ehe, einzige Bedingung ist, dem anderen von jeder Affäre ganz genau zu erzählen – etwa, wenn ihr alter Lude Itsche Einauge sie ins Krankenhausbett zerrt.
Die Unterwelt Warschaus im Roman ist ein merkwürdiger Ort zwischen Zuneigung und monströser Kälte, zwischen Dämonen in Menschengewand und freundlich winkenden krummen Gestalten, mit Namen wie Schmul Schmand oder die Dicke Reitzele. Keila selbst wird „die Rote“ genannt, nicht wegen einer politischen Überzeugung, sondern wegen ihrer Haare, Jarmy „Stachel“, weil er seine Freunde gerne piesackt. Der Rabbinersohn Singer kannte dieses Warschau als Jugendlicher noch, aber in seiner Erzählung liegen über dem harten Kern echter Verzweiflung mehrere Schichten Kolportagekitsch, die nach und nach abgetragen werden.
Doch obwohl er seiner Geliebten Keila immer wieder versichert, er wolle ihr zuliebe mit seinem alten Leben als Kleinganove nichts mehr zu tun haben, schlummert in Jarmy trotzdem eine Art Sadismus, als der Lahme Max in die Beziehung tritt. Max ist ein Menschenhändler, der von unterversorgten Fleischmärkten in der Neuen Welt erzählt, und auch sonst allerlei Ideen für große Coups hat, die Jarmy begeistern, für deren Ausführung aber stets Keila herhalten muss. Sie soll die Mädchen anwerben, die Max und Jarmy dann nach Südamerika zum Anschaffen schicken wollen.
All das nagt an der gutherzigen Keila, der Bruch aber kommt, als Max sie an Jom Kippur vergewaltigt, mit dem Wissen, wie sie vermutet, von Jarmy. Der Moment ist eine Schlüsselszene, hart und unerträglich – auch, weil Singer als Erklärung anbietet, dass es „nicht allein seine Stärke (war), sondern auch ihre Schwäche, ihr Drang, so tief zu sinken, dass sie aus eigener Kraft nie wieder hochkam“. Keila gibt sich in dem Roman zum Teil selbst die Schuld an der Vergewaltigung, und der Erzähler ist gewillt, ihr in dieser Erklärung zu folgen.
Es ist chic geworden, von solchen Texte zu sagen, dass sie sich „heute“ anders lesen würden. Die darin implizite Behauptung, dass erst #MeToo den Blick auf misogyne Figurenzeichnungen und Narrative freigeräumt hätte, wird gerne von gerade von jenen Kritikern aufgestellt, die vorher über Jahrzehnte hinweg genau diese Problematisierungen abgetan, ignoriert oder aktiv unterdrückt haben.
Diese perfide Verwischung unterschlägt die reiche Tradition feministischer Literaturkritik – wie den Essay, den die Autorin und Aktivistin Evelyn Torton Beck schon 1979 für das jüdisch-feministische Magazin Lilith über Misogynie im Werk von Singer geschrieben hat, also zu jenem Zeitpunkt, als Singer gerade den Literaturnobelpreis erhalten hatte und als wichtigster Erinnerer verschwundener jüdischer Welten kanonisiert wurde.
Becks Essay ist eine Intervention, der Singers von Otto Weininger grundierte Post-Schtetl-Misogynie attackiert: „Indem er das Opfer sich selbst beschuldigen lässt,“ schreibt Beck über die Story „The Dance“, in der es eine ganz ähnliche Situation gibt, „zeichnet Singer nicht nur das Bild einer jüdischen Frau als emotional unterentwickelt – er stellt ihrem Unterdrücker auch einen Freifahrtschein aus.“ „Du bist sowieso verloren“ spricht „eine innere Stimme“ zu Keila während der Vergewaltigung. Ließe sich diese innere Stimme aber nicht auch als Ausdruck eines kulturell-sozial tradierten Selbsthasses lesen – und die Szene damit nicht vor allem eine Kritik Singers an der misogynen Atmosphäre, in der sein Roman spielt? Beck lässt das als Einwand nicht gelten, sie will eine Darstellung jenseits dieser stereotypen Unfreiheit und findet dafür einen literarischen Gewährsmann in: Singer. „Wir beziehen uns oft auf die Geschichten, die wir in den jiddischen Zeitungen lesen. Weißt du, wie sehr Literatur das Leben formt?“, lässt er eine Figur fragen.
Becks Essay ist aufregend, weil sie vor allem zeigt, was für ein kompliziertes, stachliges Werk Singer hinterlassen hat. Zu diesem Werk gehört, dass sich auch immer wieder Momente von überraschender Weitsichtigkeit finden, etwa im Umgang mit Trans-Thematiken, oder, wie Beck lobend erwähnt, in Singers Eintreten für eine komplette religiöse Gleichbehandlung von Frauen. Und selbst für die neurotischen, zögernd besitzergreifenden Männer, die Keila in ihrem Leben hat, ist es kein Problem, dass sie mit vielen Männern geschlafen hat.
Nachdem sie Jarmy verlassen hat, trifft Keila den ängstlichen Talmudschüler Bunem, eine von Singers vielen Stellvertreterfiguren. Gemeinsam gehen sie nach New York. Im zweiten Teil des Romans bearbeitet Singer sein anderes großes Thema, die schmerzhafte, fast unmögliche Neuerfindung in Amerika – unmöglich auch, weil irgendwann Jarmy wieder auftaucht und Keila daran erinnert, dass sie immer noch verheiratet sind, also mit Bunem in Sünde lebt. In solchen dramatischen Wendungen, Cliffhangern an Kapitelenden und einigen narrativen Widersprüchen zeigt sich die Fortsetzungsgeschichte, die immer genug Thrill bieten muss, um am nächsten Tag weitergelesen zu werden. Diese Zersplitterung macht auch ein abschließendes Urteil über Singers eh schon, vorsichtig ausgedrückt, nicht komplett kohärentes Denken über Geschlechterrollen unmöglich – und die Lektüre so spannend, gerade im Kontext seiner zeitgleich entstandenen Bücher, wie dem Meisterwerk „Shosha“ oder dem Memoirenband mit dem bezeichnenden Titel „A Young Man in Search Of Love“. „Jarmy und Keila“ ergänzt diese beiden Werke wie eine Art Arbeitstagebuch in Romanform.
Für die Übersetzung ins Englische hat Singer seine auf Jiddisch geschriebenen Geschichten und Romane stets überarbeitet, entzerrt, von manchem talmudischem Zitat entschlackt. Es war auch sein Wunsch, dass diese Fassungen die Grundlage für internationale Ausgaben bilden. So ist auch Christa Krügers Übersetzung eine aus dem Englischen, obwohl diese Fassung in den USA bislang noch nicht erschienen und nur im Singer-Archiv in Austin, Texas, verfügbar ist. Der expressiv lapidare Tonfall ist gelungen, aber oft sind es gerade die jiddischen Qualitäten, die in der Übersetzung leiden. Stets ist vom trockenen „Sabbat“ die Rede, wo doch „Schabbat“, wenn nicht gar „Schabbes“ so nahe liegen; die Namen von Jarmys Kumpanen wie Mordkele Feuerbrand und Shaya Schläger sind auf eine Art verkitscht, die das jiddische Original nicht hergibt.
Die französische Übersetzung – deren Titel „Keila la Rouge“ auch schön den eigentlichen Fokus der Geschichte betont – findet dafür die elegante Lösung, aus den vermeintlichen Nachnamen einfach Attribute zu machen. So wird aus Shmul Shmetene statt Schmul Schmand einfach Shmuel la Sauce. Die Geschichte findet zu einem überraschend zärtlichen Ende – dem ein grober Schnitzer der Übersetzung dazwischen grätscht, wenn in den letzten Zeilen aus dem Sehnsuchtsort Coney Island „Cony Island“ wird. Im Gegensatz zu den Widersprüchen der Vorlage machen diese Makel den Text nicht lebendiger, sondern bringen nur die melancholische Erkenntnis, wie weit entfernt die Welten des Romans doch sind.
Eine von ihnen, das jiddische New York mit seinen Einwohnern, die jede „frumkeyt“ abgelegt hatten und so enthusiastisch den Sozialismus in die Welt holen wollten wie Chassiden den Moshiach erwarten, wird gerade von einer Generation junger Juden in den USA und im Rest der Diaspora zu einem verlorenen Paradies erklärt. Sie nennen sich stolz „jüdische Sozialisten“, ihre Einstellung zu Israel ist mehr als nur konfliktträchtig, und sie beleben sogar Jiddisch wieder. „Jarmy und Keila“ nun ist eine Flaschenpost aus dieser verlorenen Welt vom erklärten Antimarxisten Singer, die diese Nostalgie verkompliziert – mal aufs Schönste, mal aufs Niederträchtigste.
Isaac Bashevis Singer: Jarmy und Keila. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 464 Seiten, 26 Euro.
Der Rabbinersohn kannte
das alte jüdische Warschau in der
Krochmalna-Straße noch
Für die Übersetzung ins Englische
hat Singer seine Romane von
talmudischem Zitat entschlackt
Isaac Bashevis Singer im Jahr 1968, damals noch Autor des „Daily Jewish Forward“.
Foto: Michael Ochs Archives/Getty Imag
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein stacheliges Werk: Suhrkamp legt die Romane des Nobelpreisträgers
Isaac Bashevis Singer neu auf. Zum Auftakt gibt es den Fortsetzungsroman „Jarmy und Keila“
VON FABIAN WOLFF
Alles stirbt, das ist ein Fakt, der für Zeitungen doppelt und dreifach gilt. Trotzdem fühlte es sich ganz pathetisch wie das Ende einer Ära an, als vor ein paar Monaten die gedruckte Version des Forverts eingestellt wurde. Im Januar dieses Jahres erschienen die letzten Printausgaben der jiddischen Zeitung aus New York und seines englischsprachigen Ablegers mit weitaus größerer Reichweite, dem Forward, der längst das Attribut „Daily“ verloren hatte. Die Geschichte des Forverts reicht zurück ins Jahr 1897 und steht für ein lebendiges und linkes jiddisch-immigrantisches New York – und für eine Literatur aus den Engen der Schtetl, Halb-Ghettos und Slums, die inzwischen Weltrang hat. Isaac Bashevis Singer, der jiddische Tschechow, schrieb bald nach seiner Ankunft in New York 1935 als Kolumnist für die Zeitung und veröffentlichte noch im hohen Alter Fortsetzungsromane im Blatt.
In dieser Form erschien auch der Roman „Jarme un Keile“ vom Dezember 1976 bis zum Oktober 1977 (bzw. dem 17. Kislev 5737 bis zum 25. Tishrei 5738) und kommt jetzt, mehr als 40 Jahre später, erstmals in deutscher Übersetzung im Jüdischen Verlag von Suhrkamp. Der lange Weg passt zum großen Bogen des Romans, der in Warschau beginnt und in New York endet.
Es ist also 1911, gerade wurde Pjotr Stolypin in Kiew von einem Revolutionär ermordet. Die Zeiten in der Krochmalna-Straße in Warschau sind hart, das Geld ist knapp, aber Jarmy und Keila haben einander. Er ist ein halbgebildeter Gauner, sie eine analphabetische Prostituierte, und ihre Liebe ist so groß, dass sie „ein Omen für alle Warschauer Huren war, nicht die Hoffnung aufzugeben, ein Zeichen, dass die Liebe noch immer die Welt regierte, auch wenn man bis zum Kinn im Sumpf versank.“ Sie führen eine offene Ehe, einzige Bedingung ist, dem anderen von jeder Affäre ganz genau zu erzählen – etwa, wenn ihr alter Lude Itsche Einauge sie ins Krankenhausbett zerrt.
Die Unterwelt Warschaus im Roman ist ein merkwürdiger Ort zwischen Zuneigung und monströser Kälte, zwischen Dämonen in Menschengewand und freundlich winkenden krummen Gestalten, mit Namen wie Schmul Schmand oder die Dicke Reitzele. Keila selbst wird „die Rote“ genannt, nicht wegen einer politischen Überzeugung, sondern wegen ihrer Haare, Jarmy „Stachel“, weil er seine Freunde gerne piesackt. Der Rabbinersohn Singer kannte dieses Warschau als Jugendlicher noch, aber in seiner Erzählung liegen über dem harten Kern echter Verzweiflung mehrere Schichten Kolportagekitsch, die nach und nach abgetragen werden.
Doch obwohl er seiner Geliebten Keila immer wieder versichert, er wolle ihr zuliebe mit seinem alten Leben als Kleinganove nichts mehr zu tun haben, schlummert in Jarmy trotzdem eine Art Sadismus, als der Lahme Max in die Beziehung tritt. Max ist ein Menschenhändler, der von unterversorgten Fleischmärkten in der Neuen Welt erzählt, und auch sonst allerlei Ideen für große Coups hat, die Jarmy begeistern, für deren Ausführung aber stets Keila herhalten muss. Sie soll die Mädchen anwerben, die Max und Jarmy dann nach Südamerika zum Anschaffen schicken wollen.
All das nagt an der gutherzigen Keila, der Bruch aber kommt, als Max sie an Jom Kippur vergewaltigt, mit dem Wissen, wie sie vermutet, von Jarmy. Der Moment ist eine Schlüsselszene, hart und unerträglich – auch, weil Singer als Erklärung anbietet, dass es „nicht allein seine Stärke (war), sondern auch ihre Schwäche, ihr Drang, so tief zu sinken, dass sie aus eigener Kraft nie wieder hochkam“. Keila gibt sich in dem Roman zum Teil selbst die Schuld an der Vergewaltigung, und der Erzähler ist gewillt, ihr in dieser Erklärung zu folgen.
Es ist chic geworden, von solchen Texte zu sagen, dass sie sich „heute“ anders lesen würden. Die darin implizite Behauptung, dass erst #MeToo den Blick auf misogyne Figurenzeichnungen und Narrative freigeräumt hätte, wird gerne von gerade von jenen Kritikern aufgestellt, die vorher über Jahrzehnte hinweg genau diese Problematisierungen abgetan, ignoriert oder aktiv unterdrückt haben.
Diese perfide Verwischung unterschlägt die reiche Tradition feministischer Literaturkritik – wie den Essay, den die Autorin und Aktivistin Evelyn Torton Beck schon 1979 für das jüdisch-feministische Magazin Lilith über Misogynie im Werk von Singer geschrieben hat, also zu jenem Zeitpunkt, als Singer gerade den Literaturnobelpreis erhalten hatte und als wichtigster Erinnerer verschwundener jüdischer Welten kanonisiert wurde.
Becks Essay ist eine Intervention, der Singers von Otto Weininger grundierte Post-Schtetl-Misogynie attackiert: „Indem er das Opfer sich selbst beschuldigen lässt,“ schreibt Beck über die Story „The Dance“, in der es eine ganz ähnliche Situation gibt, „zeichnet Singer nicht nur das Bild einer jüdischen Frau als emotional unterentwickelt – er stellt ihrem Unterdrücker auch einen Freifahrtschein aus.“ „Du bist sowieso verloren“ spricht „eine innere Stimme“ zu Keila während der Vergewaltigung. Ließe sich diese innere Stimme aber nicht auch als Ausdruck eines kulturell-sozial tradierten Selbsthasses lesen – und die Szene damit nicht vor allem eine Kritik Singers an der misogynen Atmosphäre, in der sein Roman spielt? Beck lässt das als Einwand nicht gelten, sie will eine Darstellung jenseits dieser stereotypen Unfreiheit und findet dafür einen literarischen Gewährsmann in: Singer. „Wir beziehen uns oft auf die Geschichten, die wir in den jiddischen Zeitungen lesen. Weißt du, wie sehr Literatur das Leben formt?“, lässt er eine Figur fragen.
Becks Essay ist aufregend, weil sie vor allem zeigt, was für ein kompliziertes, stachliges Werk Singer hinterlassen hat. Zu diesem Werk gehört, dass sich auch immer wieder Momente von überraschender Weitsichtigkeit finden, etwa im Umgang mit Trans-Thematiken, oder, wie Beck lobend erwähnt, in Singers Eintreten für eine komplette religiöse Gleichbehandlung von Frauen. Und selbst für die neurotischen, zögernd besitzergreifenden Männer, die Keila in ihrem Leben hat, ist es kein Problem, dass sie mit vielen Männern geschlafen hat.
Nachdem sie Jarmy verlassen hat, trifft Keila den ängstlichen Talmudschüler Bunem, eine von Singers vielen Stellvertreterfiguren. Gemeinsam gehen sie nach New York. Im zweiten Teil des Romans bearbeitet Singer sein anderes großes Thema, die schmerzhafte, fast unmögliche Neuerfindung in Amerika – unmöglich auch, weil irgendwann Jarmy wieder auftaucht und Keila daran erinnert, dass sie immer noch verheiratet sind, also mit Bunem in Sünde lebt. In solchen dramatischen Wendungen, Cliffhangern an Kapitelenden und einigen narrativen Widersprüchen zeigt sich die Fortsetzungsgeschichte, die immer genug Thrill bieten muss, um am nächsten Tag weitergelesen zu werden. Diese Zersplitterung macht auch ein abschließendes Urteil über Singers eh schon, vorsichtig ausgedrückt, nicht komplett kohärentes Denken über Geschlechterrollen unmöglich – und die Lektüre so spannend, gerade im Kontext seiner zeitgleich entstandenen Bücher, wie dem Meisterwerk „Shosha“ oder dem Memoirenband mit dem bezeichnenden Titel „A Young Man in Search Of Love“. „Jarmy und Keila“ ergänzt diese beiden Werke wie eine Art Arbeitstagebuch in Romanform.
Für die Übersetzung ins Englische hat Singer seine auf Jiddisch geschriebenen Geschichten und Romane stets überarbeitet, entzerrt, von manchem talmudischem Zitat entschlackt. Es war auch sein Wunsch, dass diese Fassungen die Grundlage für internationale Ausgaben bilden. So ist auch Christa Krügers Übersetzung eine aus dem Englischen, obwohl diese Fassung in den USA bislang noch nicht erschienen und nur im Singer-Archiv in Austin, Texas, verfügbar ist. Der expressiv lapidare Tonfall ist gelungen, aber oft sind es gerade die jiddischen Qualitäten, die in der Übersetzung leiden. Stets ist vom trockenen „Sabbat“ die Rede, wo doch „Schabbat“, wenn nicht gar „Schabbes“ so nahe liegen; die Namen von Jarmys Kumpanen wie Mordkele Feuerbrand und Shaya Schläger sind auf eine Art verkitscht, die das jiddische Original nicht hergibt.
Die französische Übersetzung – deren Titel „Keila la Rouge“ auch schön den eigentlichen Fokus der Geschichte betont – findet dafür die elegante Lösung, aus den vermeintlichen Nachnamen einfach Attribute zu machen. So wird aus Shmul Shmetene statt Schmul Schmand einfach Shmuel la Sauce. Die Geschichte findet zu einem überraschend zärtlichen Ende – dem ein grober Schnitzer der Übersetzung dazwischen grätscht, wenn in den letzten Zeilen aus dem Sehnsuchtsort Coney Island „Cony Island“ wird. Im Gegensatz zu den Widersprüchen der Vorlage machen diese Makel den Text nicht lebendiger, sondern bringen nur die melancholische Erkenntnis, wie weit entfernt die Welten des Romans doch sind.
Eine von ihnen, das jiddische New York mit seinen Einwohnern, die jede „frumkeyt“ abgelegt hatten und so enthusiastisch den Sozialismus in die Welt holen wollten wie Chassiden den Moshiach erwarten, wird gerade von einer Generation junger Juden in den USA und im Rest der Diaspora zu einem verlorenen Paradies erklärt. Sie nennen sich stolz „jüdische Sozialisten“, ihre Einstellung zu Israel ist mehr als nur konfliktträchtig, und sie beleben sogar Jiddisch wieder. „Jarmy und Keila“ nun ist eine Flaschenpost aus dieser verlorenen Welt vom erklärten Antimarxisten Singer, die diese Nostalgie verkompliziert – mal aufs Schönste, mal aufs Niederträchtigste.
Isaac Bashevis Singer: Jarmy und Keila. Aus dem Englischen von Christa Krüger. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 464 Seiten, 26 Euro.
Der Rabbinersohn kannte
das alte jüdische Warschau in der
Krochmalna-Straße noch
Für die Übersetzung ins Englische
hat Singer seine Romane von
talmudischem Zitat entschlackt
Isaac Bashevis Singer im Jahr 1968, damals noch Autor des „Daily Jewish Forward“.
Foto: Michael Ochs Archives/Getty Imag
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.07.2019Die Toten kommen zurück
Eine beinahe perfekte Memorialisierung der zerstörten polnisch-jüdischen Gemeinde? "Jarmy und Keila", ein bislang unbekannter Roman Isaac B. Singers
"In der Literatur muss es mehr Fakten und Ereignisse als Gedanken geben. Wenn es mehr Gedanken als Fakten gibt, kann man es zwar als Strom des Bewusstseins bezeichnen, ich würde es aber eher einen Strom der Langeweile nennen." Diesen Satz soll Isaac B. Singer oft wiederholt haben, behauptet seine polnische Biographin Agata Tuszynska, und wenn man seine Prosa liest, kann man sich das sehr gut vorstellen. Dazu bietet sich auch gerade eine neue Gelegenheit, denn soeben ist, erstmals auf Deutsch, Singers Roman "Jarmy und Keila" erschienen, in dem es von Fakten und Ereignissen nur so wimmelt.
Schauplatz des ersten Teils der Handlung, die im Jahre 1911 einsetzt, ist das Warschauer jüdische Viertel, vor allem die dortige Krochmalna-Straße, die Singer, der dort jahrelang gewohnt hatte, bestens vertraut war. Eine Straße, in der fromme Juden wie sein Vater, ein chassidischer Rabbiner, anzutreffen sind, in der es aber auch Bordelle und Kneipen gibt, wo einem schon im Morgengrauen ein Bier- und Wodkadunst entgegenweht und wo Typen herumsitzen, die Fettkloß Reitzele, Noah Schaufel, Shaya Schlägel oder Itsche Einauge heißen. Die jüdische Unterwelt Warschaus.
Auch die beiden Titelhelden sind keine Heiligen: Keila ist eine Prostituierte, Jarmy ein Dieb und Menschenhändler, der gerade eine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Die beiden sind miteinander glücklich verheiratet und fest entschlossen, woanders ein neues, anständiges Leben zu beginnen. Davon scheinen sie auch nicht weit entfernt zu sein, allerdings nur so lange, bis in Warschau der Lahme Max auftaucht - ein Gauner und Zyniker, der seinerzeit von hier nach Amerika gegangen und dort zu Geld gekommen ist. Nun ist er zu seinem eigenen Erstaunen wieder da. "Die Toten kommen zurück, und ich bin wieder auf dem Platz in Warschau, in der Potocka, in der Shuletz und was weiß ich wo noch", wundert er sich. Hinter seiner Rückkehr steckt aber ein Plan: Er will in Südamerika das große Geld machen, und Keila und Jarmy sollen ihm dabei helfen - sie junge Mädchen für die dortigen Bordelle anwerben, er als ihr Zuhälter arbeiten.
Obwohl äußerlich genauso hässlich wie vom Charakter her, hat Max einen riesigen sexuellen Appetit, und zwar sowohl auf Männer als auch auf Frauen, was dem jungen Paar zum Verhängnis wird. Zunächst versucht er, Jarmy mit seinen erotischen Avancen für die Vision der Partnerschaft in Südamerika zu gewinnen, dann vergewaltigt er Keila. Er tut es ausgerechnet an Jom Kippur, was die junge Frau so verstört, dass sie den Rabbi Menachem Mendel aufsucht: Sie möchte für ihre Sünden Buße tun. Der Rabbi verordnet ihr die Pflege eines alten, kranken Mannes, und da sie den Weg zu ihm nicht kennt, gibt er ihr als Führer seinen Sohn Bunem mit.
Damit tritt ein weiterer Mann in Keilas Leben, der auch eine viel interessantere Romanfigur abgibt als der seltsam blasse Jarmy - vielleicht weil er einiges vom Autor und gleichzeitig von seinem älteren Bruder, Israel J. Singer an sich hat. Bunem ist einerseits, wie Isaac, schüchtern, unerfahren und bemüht, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden. Andererseits rebelliert er, wie Israel, gegen das Elternhaus, das er als eng und freudlos empfindet, und will das Leben eines freien Künstlers führen, was er auch - indem er sich mit einigen Malern ein Atelier teilt - heimlich tut. Durch die Begegnung mit Keila, deren spontane, leidenschaftliche Art ihn fasziniert und die ihm auch bald "alle Geheimnisse und Kapricen des Körpers zeigt", findet er den Mut, mit der alten Umgebung endgültig zu brechen. Er beschließt, mit ihr nach Amerika zu gehen, zumal er in Warschau für sich keine Zukunft sieht.
Und so spielt der zweite Teil des Romans in New York, wo das ungleiche Paar, der Rabbinersohn und die Hure, im jüdischen Viertel an der Lower East Side, einen Neuanfang versuchen. Doch keiner von ihnen kommt in der neuen Realität richtig an. Weder Keila, die zwar mit der Zeit Arbeit in einer Bäckerei findet, für die sie in den Straßen des Viertels frische Brötchen feilbietet, ansonsten aber mit der fremden Sprache und Umgebung nicht zurechtkommt. Noch Bunem, sosehr er sich auch darum bemüht. Er versucht, sich selbst Englisch beizubringen, und nimmt jeden Job an, der sich bietet. Dennoch fühlt sich für ihn alles irgendwie falsch an, sogar seine Arbeit als Lehrer in einem Talmud-Tora-Lehrhaus, denn die Kinder können nur wenig Jiddisch, nehmen den Unterricht nicht ernst und scheinen nur eine einzige jüdische Zeremonie zu kennen: "die Feier der Bar Mitzwa". Erst als er Anstellung als Vorleser bei einem reichen, blinden Juden findet, kommt er ein wenig zur Ruhe. Mit der ist es aber bald vorbei, denn Jarmy taucht in New York auf und fordert seine Rechte als Ehemann ein, woraufhin Keila aus Bunems Leben verschwindet. Als sie sich irgendwann wiederbegegnen, scheint sie nur noch eins zu verbinden: der Wunsch, ihrem Dasein ein Ende zu setzen.
"Jarmy und Keila" erschien vom Dezember 1976 bis Oktober 1977 als Fortsetzungsroman in der New Yorker jiddischen Zeitung "Forverts", in der Singer, ähnlich wie sein Bruder, jahrzehntelang seine Texte publizierte. Im folgenden Jahr 1978, in dem er den Nobelpreis für Literatur bekam, erschien sein Roman "Schoscha" (dt. 1980), der, so Jan Schwarz in seinem Nachwort, "eine beinahe perfekte Memorialisierung der zerstörten polnisch-jüdischen Gemeinde" gewesen sei, was Singers Entscheidung zur Folge gehabt habe, auf die Veröffentlichung der englischen Fassung von "Jarmy und Keila" zu verzichten. Und im Endeffekt auch darauf, die in "Forverts" erschienenen Folgen zu überarbeiten und eine endgültige Version des Romans zu schreiben.
Über die Frage der perfekten Memorialisierung ließe sich sicher diskutieren, doch davon abgesehen: Der Roman hat durchaus seine Stärken - er zeichnet ein breites, detailreiches Gesellschaftspanorama jener Zeit nach, zeigt unbeschönigt das jüdische Milieu Warschaus und New Yorks, gibt überzeugend die Ängste und Hoffnungen der damaligen Migranten wieder, womit er für die Situation der heutigen sensibilisiert. Auf der anderen Seite aber machen sich die ausgebliebene Überarbeitung und die ursprüngliche Bestimmung des Romans auf eine Art bemerkbar, die für Momente der Ungeduld oder der Belustigung sorgt. Es gibt Längen und Wiederholungen, und manche Szenen und Dialoge haben etwas von der Trivialität oder Melodramatik jenes Dreigroschenromans, auf dessen Tradition das Buch basiert. Etwa Keilas Verhalten, das oft etwas vom effektheischenden Agieren der Stummfilmstars an sich hat: "Keila wies anklagend mit dem Finger auf Bunem. Schaum stand ihr vor dem Mund, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Sie hatte den Blick einer Wahnsinnigen, verdrehte die Augen so, dass man nur noch das Weiße sah." Auf Singers Zeitgenossen mögen solche Szenen eine ungeheuer starke Wirkung gehabt haben, für den heutigen Leser haben sie eher ungewollte Komik. Und auch "die Kraft zu schockieren", die der Nachwortverfasser verspricht, kann man dem Roman nur dann attestieren, wer von der Existenz einer jüdischen Unterwelt im Vorkriegswarschau nicht gewusst hat.
In diesem Fall sollte man allerdings zwei Romane gleichzeitig lesen: Singers "Jarmy und Keila" und Szczepan Twardochs "Der Boxer" (dt. 2018), der im Warschau der späten dreißiger Jahre, genauer: in der polnisch-jüdischen Unterwelt spielt. Denn wenn man es tut, merkt man plötzlich, wie durch Twardochs modernen, oft wirklich schockierenden Stil auch Singers Buch an Kraft und Härte gewinnt. Und zudem, dass dies zwei Teile einer und derselben Geschichte sind, in denen zwar die Grenze zwischen Realität und Fantasie gleichermaßen schwer auszumachen ist, die aber dennoch ein doppelter Beweis dafür sind, dass diese Welt einst tatsächlich existierte.
MARTA KIJOWSKA
Isaac Bashevis Singer:
"Jarmy und Keila". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Krüger. Mit einem Nachwort von Jan Schwarz. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 464 S., geb., 26,- [Euro].
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Eine beinahe perfekte Memorialisierung der zerstörten polnisch-jüdischen Gemeinde? "Jarmy und Keila", ein bislang unbekannter Roman Isaac B. Singers
"In der Literatur muss es mehr Fakten und Ereignisse als Gedanken geben. Wenn es mehr Gedanken als Fakten gibt, kann man es zwar als Strom des Bewusstseins bezeichnen, ich würde es aber eher einen Strom der Langeweile nennen." Diesen Satz soll Isaac B. Singer oft wiederholt haben, behauptet seine polnische Biographin Agata Tuszynska, und wenn man seine Prosa liest, kann man sich das sehr gut vorstellen. Dazu bietet sich auch gerade eine neue Gelegenheit, denn soeben ist, erstmals auf Deutsch, Singers Roman "Jarmy und Keila" erschienen, in dem es von Fakten und Ereignissen nur so wimmelt.
Schauplatz des ersten Teils der Handlung, die im Jahre 1911 einsetzt, ist das Warschauer jüdische Viertel, vor allem die dortige Krochmalna-Straße, die Singer, der dort jahrelang gewohnt hatte, bestens vertraut war. Eine Straße, in der fromme Juden wie sein Vater, ein chassidischer Rabbiner, anzutreffen sind, in der es aber auch Bordelle und Kneipen gibt, wo einem schon im Morgengrauen ein Bier- und Wodkadunst entgegenweht und wo Typen herumsitzen, die Fettkloß Reitzele, Noah Schaufel, Shaya Schlägel oder Itsche Einauge heißen. Die jüdische Unterwelt Warschaus.
Auch die beiden Titelhelden sind keine Heiligen: Keila ist eine Prostituierte, Jarmy ein Dieb und Menschenhändler, der gerade eine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Die beiden sind miteinander glücklich verheiratet und fest entschlossen, woanders ein neues, anständiges Leben zu beginnen. Davon scheinen sie auch nicht weit entfernt zu sein, allerdings nur so lange, bis in Warschau der Lahme Max auftaucht - ein Gauner und Zyniker, der seinerzeit von hier nach Amerika gegangen und dort zu Geld gekommen ist. Nun ist er zu seinem eigenen Erstaunen wieder da. "Die Toten kommen zurück, und ich bin wieder auf dem Platz in Warschau, in der Potocka, in der Shuletz und was weiß ich wo noch", wundert er sich. Hinter seiner Rückkehr steckt aber ein Plan: Er will in Südamerika das große Geld machen, und Keila und Jarmy sollen ihm dabei helfen - sie junge Mädchen für die dortigen Bordelle anwerben, er als ihr Zuhälter arbeiten.
Obwohl äußerlich genauso hässlich wie vom Charakter her, hat Max einen riesigen sexuellen Appetit, und zwar sowohl auf Männer als auch auf Frauen, was dem jungen Paar zum Verhängnis wird. Zunächst versucht er, Jarmy mit seinen erotischen Avancen für die Vision der Partnerschaft in Südamerika zu gewinnen, dann vergewaltigt er Keila. Er tut es ausgerechnet an Jom Kippur, was die junge Frau so verstört, dass sie den Rabbi Menachem Mendel aufsucht: Sie möchte für ihre Sünden Buße tun. Der Rabbi verordnet ihr die Pflege eines alten, kranken Mannes, und da sie den Weg zu ihm nicht kennt, gibt er ihr als Führer seinen Sohn Bunem mit.
Damit tritt ein weiterer Mann in Keilas Leben, der auch eine viel interessantere Romanfigur abgibt als der seltsam blasse Jarmy - vielleicht weil er einiges vom Autor und gleichzeitig von seinem älteren Bruder, Israel J. Singer an sich hat. Bunem ist einerseits, wie Isaac, schüchtern, unerfahren und bemüht, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden. Andererseits rebelliert er, wie Israel, gegen das Elternhaus, das er als eng und freudlos empfindet, und will das Leben eines freien Künstlers führen, was er auch - indem er sich mit einigen Malern ein Atelier teilt - heimlich tut. Durch die Begegnung mit Keila, deren spontane, leidenschaftliche Art ihn fasziniert und die ihm auch bald "alle Geheimnisse und Kapricen des Körpers zeigt", findet er den Mut, mit der alten Umgebung endgültig zu brechen. Er beschließt, mit ihr nach Amerika zu gehen, zumal er in Warschau für sich keine Zukunft sieht.
Und so spielt der zweite Teil des Romans in New York, wo das ungleiche Paar, der Rabbinersohn und die Hure, im jüdischen Viertel an der Lower East Side, einen Neuanfang versuchen. Doch keiner von ihnen kommt in der neuen Realität richtig an. Weder Keila, die zwar mit der Zeit Arbeit in einer Bäckerei findet, für die sie in den Straßen des Viertels frische Brötchen feilbietet, ansonsten aber mit der fremden Sprache und Umgebung nicht zurechtkommt. Noch Bunem, sosehr er sich auch darum bemüht. Er versucht, sich selbst Englisch beizubringen, und nimmt jeden Job an, der sich bietet. Dennoch fühlt sich für ihn alles irgendwie falsch an, sogar seine Arbeit als Lehrer in einem Talmud-Tora-Lehrhaus, denn die Kinder können nur wenig Jiddisch, nehmen den Unterricht nicht ernst und scheinen nur eine einzige jüdische Zeremonie zu kennen: "die Feier der Bar Mitzwa". Erst als er Anstellung als Vorleser bei einem reichen, blinden Juden findet, kommt er ein wenig zur Ruhe. Mit der ist es aber bald vorbei, denn Jarmy taucht in New York auf und fordert seine Rechte als Ehemann ein, woraufhin Keila aus Bunems Leben verschwindet. Als sie sich irgendwann wiederbegegnen, scheint sie nur noch eins zu verbinden: der Wunsch, ihrem Dasein ein Ende zu setzen.
"Jarmy und Keila" erschien vom Dezember 1976 bis Oktober 1977 als Fortsetzungsroman in der New Yorker jiddischen Zeitung "Forverts", in der Singer, ähnlich wie sein Bruder, jahrzehntelang seine Texte publizierte. Im folgenden Jahr 1978, in dem er den Nobelpreis für Literatur bekam, erschien sein Roman "Schoscha" (dt. 1980), der, so Jan Schwarz in seinem Nachwort, "eine beinahe perfekte Memorialisierung der zerstörten polnisch-jüdischen Gemeinde" gewesen sei, was Singers Entscheidung zur Folge gehabt habe, auf die Veröffentlichung der englischen Fassung von "Jarmy und Keila" zu verzichten. Und im Endeffekt auch darauf, die in "Forverts" erschienenen Folgen zu überarbeiten und eine endgültige Version des Romans zu schreiben.
Über die Frage der perfekten Memorialisierung ließe sich sicher diskutieren, doch davon abgesehen: Der Roman hat durchaus seine Stärken - er zeichnet ein breites, detailreiches Gesellschaftspanorama jener Zeit nach, zeigt unbeschönigt das jüdische Milieu Warschaus und New Yorks, gibt überzeugend die Ängste und Hoffnungen der damaligen Migranten wieder, womit er für die Situation der heutigen sensibilisiert. Auf der anderen Seite aber machen sich die ausgebliebene Überarbeitung und die ursprüngliche Bestimmung des Romans auf eine Art bemerkbar, die für Momente der Ungeduld oder der Belustigung sorgt. Es gibt Längen und Wiederholungen, und manche Szenen und Dialoge haben etwas von der Trivialität oder Melodramatik jenes Dreigroschenromans, auf dessen Tradition das Buch basiert. Etwa Keilas Verhalten, das oft etwas vom effektheischenden Agieren der Stummfilmstars an sich hat: "Keila wies anklagend mit dem Finger auf Bunem. Schaum stand ihr vor dem Mund, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Sie hatte den Blick einer Wahnsinnigen, verdrehte die Augen so, dass man nur noch das Weiße sah." Auf Singers Zeitgenossen mögen solche Szenen eine ungeheuer starke Wirkung gehabt haben, für den heutigen Leser haben sie eher ungewollte Komik. Und auch "die Kraft zu schockieren", die der Nachwortverfasser verspricht, kann man dem Roman nur dann attestieren, wer von der Existenz einer jüdischen Unterwelt im Vorkriegswarschau nicht gewusst hat.
In diesem Fall sollte man allerdings zwei Romane gleichzeitig lesen: Singers "Jarmy und Keila" und Szczepan Twardochs "Der Boxer" (dt. 2018), der im Warschau der späten dreißiger Jahre, genauer: in der polnisch-jüdischen Unterwelt spielt. Denn wenn man es tut, merkt man plötzlich, wie durch Twardochs modernen, oft wirklich schockierenden Stil auch Singers Buch an Kraft und Härte gewinnt. Und zudem, dass dies zwei Teile einer und derselben Geschichte sind, in denen zwar die Grenze zwischen Realität und Fantasie gleichermaßen schwer auszumachen ist, die aber dennoch ein doppelter Beweis dafür sind, dass diese Welt einst tatsächlich existierte.
MARTA KIJOWSKA
Isaac Bashevis Singer:
"Jarmy und Keila". Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Christa Krüger. Mit einem Nachwort von Jan Schwarz. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 464 S., geb., 26,- [Euro].
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»[Der Roman] zeichnet ein breites, detailreiches Gesellschaftspanorama jener Zeit nach, zeigt unbeschönigt das jüdische Milieu Warschaus und New Yorks, gibt überzeugend die Ängste und Hoffnungen der damaligen Migranten wieder, womit er für die Situation der heitigen sensibilisiert.« Marta Kijowska Frankfurter Allgemeine Zeitung 20190709