Niemand hat sein Leben akribischer memoriert als seine Mutter. Als sie stirbt, tritt der Sohn ihre Erbschaft als Archivar der Erinnerung an, folgt der Flut der Bilder, die in ihm aufsteigt. Erinnern, das ist bei Dragan Veliki? immer an Orte geknüpft, die die Landkarte eines Lebens ergeben. Er ist wieder der Junge, frisch von Belgrad nach Pula gezogen, erkundet die duftenden Innenhöfe, trifft den alten Uhrmacher MaleSa, der einst Titos Uhren repariert hat und alle Geschichten kennt - immer begleitet von der rigiden Weltdeutung der Mutter, von der er sich mit jedem Schritt mehr befreit. Dragan Veliki?s neuer Roman ist eine berührende Hommage an seine Mutter, an ein Land, eine Zeit und Menschen, die es nicht mehr gibt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2017Verdammungsfuror und Jugoslawien-Seligkeit
Dragan Velikic führt mit seinem Roman "Jeder muss doch irgendwo sein" in die Vergangenheit seiner Heimat
Der 1953 geborene Dragan Velikic ist einer der renommiertesten serbischen Gegenwartsautoren. Für seinen Roman "Jeder muss doch irgendwo sein" hat er zum zweiten Mal den höchsten Literaturpreis seines Landes erhalten. Zwei Jahre nach dem Original liegt nun die deutsche Übersetzung vor und erfüllt die Erwartung, die Velikic-Leser haben konnten: von Handlung und linearem Erzählen kaum eine Spur, stattdessen eine poetische Prozedur der Erinnerung. Der Titel lässt sich als Grundformel für die Werke dieses Autors verstehen: Das Leben ist im emphatischen Sinn verknüpft mit Räumen und Orten, die später zum Stimulus der Erinnerung werden können. Das Schreiben dieses Autors ist deshalb immer eine Ortsbegehung und jede Reise durch den Raum ein Unterwegssein in der Zeit: In Velikics poetischer Topographie ergeben die Orte das Schicksal eines Menschen.
Der Erzähler reist an die Schauplätze seiner Kindheit (der wichtigste ist die Hafenstadt Pula in Istrien) und in jene Städte, die im Leben seiner Mutter Epoche machten. Die Mutter mit ihrer moralischen Strenge ist die markanteste Figur des Buches. Der Sohn erinnert sich an Kino- und Strandbesuche, bei denen sie ihrer Empörung über die unermüdlich futternden, schmatzenden und ihren Unrat zu Boden werfenden Mitmenschen so lautstark Ausdruck gab, dass sie angefeindet wurde - ein Bad der Peinlichkeit für die Kinder, die es meist mit der Mehrheit halten. Zugleich war schon die Mutter eine Träumerin, die "das eigene Leben bereiste", während der Vater als Seemann auf Meeren und Ozeanen unterwegs war. Schlüsselmomente der Familiengeschichte werden wiederholt aufgerufen, etwa der Diebstahl der wertvollsten Habseligkeiten aus einem Eisenbahnwaggon in Vinkovci.
Grenzt die Ordnungsliebe der Mutter auf der einen Seite ans Pedantische, so auf der anderen Seite ans Enzyklopädische. Sie führt Buch über den Alltag; in einem Heft notiert sie alle Hotels, in denen sie je eine Nacht verbracht hat. Diese Häuser und ihre klangvollen Namen sind wie Eisenbahnen und Schienennetze Leitmotive im Werk von Velikic: als Synthese von Unterwegs- und Angekommensein, als Orte der "Zwischenzeit".
Eine zweite Familiengeschichte ist mit der autobiographischen Erzählung verflochten - die der Griechin Lisetta, der älteren Freundin der Mutter in Pula, auch sie auf der Suche nach einer verlorenen Zeit. Lisetta verbrachte ihre Kindheit in Thessaloniki; als Teile der Stadt 1917 abbrannten, wurde das Viertel ihrer Herkunft zerstört. Später lebte sie in Rovinj. Es geht sprunghaft durch die Zeiten: Erster Weltkrieg, das frühe Jugoslawien, die Zerfallskriege der neunziger Jahre, dazu die Reisen des Schriftstellers in der Gegenwart, immer auf den Spuren der Erinnerung, im Vollgefühl von Reminiszenzen. Die Rückkehrsehnsucht und eine gewisse Verklärung der jugoslawischen Ära haben auch mit der schroffen Abkehr von der Gegenwart zu tun, die als moralisch zutiefst verkommen empfunden wird. Kein gutes Haar lässt der Erzähler an den Entwicklungen der postsozialistischen Jahre: "Nichtsnutze und Manipulatoren übernahmen die Macht." Die Kritik bleibt allerdings verschwommen in ihrem Verdammungsfuror. Aber gut verständlich, dass Velikic, der unter Milosevic zu den mutigsten Journalisten seines Landes gehörte, die "Helden des Konformismus" verhasst sind.
Oft sind Romane Kunstwerke der Erinnerung; Velikic dagegen erzählt von Menschen, die selbst bereits mit kaum etwas anderem als ihrer Erinnerungsarbeit beschäftigt sind, als wäre es eine Lebensaufgabe, bei der man tiefe, untrügliche Wahrheiten zu fassen bekommt. Dieser Erzähler ist ein Metaphysiker der Erinnerung; er beruft sich auf den ungarischen Psychoanalytiker Leopold Szondi mit der Auffassung, dass sich die intensiven Erlebnisse eines Menschen, seine Ängste und Verfehlungen, in die Gene einschreiben und in Form eines "familiären Unbewussten" an die Nachkommen weitergegeben werden.
Inzwischen geht die Hirnforschung aber davon aus, dass Erinnerungen immer aufs Neue konstruiert und umgeschrieben werden; mehr noch, es lassen sich falsche Erinnerungen an nie Erlebtes ins Gedächtnis einschreiben. Von dieser Unsicherheit und prinzipiellen Täuschungsanfälligkeit vermittelt auch Velikic in seinen weniger metaphysischen Momenten eine Ahnung, etwa wenn er seinen Helden grübeln lässt: "Warum erlebte er Dinge, die nichts mit seinem eigenen Leben zu tun hatten, als Teil seiner Familiengeschichte?"
Die Erinnerung, die im Proustschen Sinn als Rettung aus der Flüchtigkeit des Lebens begriffen wird, kann zudem nur eine vorübergehende Heimkehr bieten; sie liegt bereits unter dem Schatten der Demenzdrohung. Mit Schrecken meint der Erzähler Vorzeichen der Alzheimer-Krankheit, die seine Mutter zerstörte, bei sich selbst wahrzunehmen. Der übermäßige Drang nach Ordnung, wie er das Leben der Mutter kennzeichnete, ist womöglich ihr erstes Symptom.
Es ist eine tiefernste, schwermütige autobiographische Erkundung, die Velikic vornimmt - aber ist sie auch für die Leser von Belang? Zumindest für diejenigen, die nicht so leicht fremde Angelegenheiten zu ihrer eigenen Sache machen können, dürfte das Buch spröde Kost sein. Die poetischen Reize enthüllen sich nur gutwilligen Lesern, denen die jugoslawische und postjugoslawische Welt eine gewisse Magie verheißt, mit ihren Übergängen vom Slowenisch-Alpenländischen ins Mediterrane und weiter zu Orten, wo bereits der "Atem des Orients" spürbar ist.
Zu den schönsten Momenten des Romans gehört der Auftritt des 2003 gestorbenen Schriftstellers Aleksandar Tisma, der mit "Der Gebrauch des Menschen" das Meisterwerk der serbischen Literatur nach 1945 geschrieben hat. Der Erzähler führt Gespräche mit ihm, über sparsame Huren und andere Erscheinungen des Lebens, und Tisma hat dabei ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. "Alles, was er gesagt hatte, war scharfsinnig und ungeschminkt", rühmt Velikic. Das lässt sich über seine eigene Prosa leider nicht immer sagen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Dragan Velikic: "Jeder muss doch irgendwo sein". Roman.
Aus dem Serbischen von Mascha Dabic. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2017. 302 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dragan Velikic führt mit seinem Roman "Jeder muss doch irgendwo sein" in die Vergangenheit seiner Heimat
Der 1953 geborene Dragan Velikic ist einer der renommiertesten serbischen Gegenwartsautoren. Für seinen Roman "Jeder muss doch irgendwo sein" hat er zum zweiten Mal den höchsten Literaturpreis seines Landes erhalten. Zwei Jahre nach dem Original liegt nun die deutsche Übersetzung vor und erfüllt die Erwartung, die Velikic-Leser haben konnten: von Handlung und linearem Erzählen kaum eine Spur, stattdessen eine poetische Prozedur der Erinnerung. Der Titel lässt sich als Grundformel für die Werke dieses Autors verstehen: Das Leben ist im emphatischen Sinn verknüpft mit Räumen und Orten, die später zum Stimulus der Erinnerung werden können. Das Schreiben dieses Autors ist deshalb immer eine Ortsbegehung und jede Reise durch den Raum ein Unterwegssein in der Zeit: In Velikics poetischer Topographie ergeben die Orte das Schicksal eines Menschen.
Der Erzähler reist an die Schauplätze seiner Kindheit (der wichtigste ist die Hafenstadt Pula in Istrien) und in jene Städte, die im Leben seiner Mutter Epoche machten. Die Mutter mit ihrer moralischen Strenge ist die markanteste Figur des Buches. Der Sohn erinnert sich an Kino- und Strandbesuche, bei denen sie ihrer Empörung über die unermüdlich futternden, schmatzenden und ihren Unrat zu Boden werfenden Mitmenschen so lautstark Ausdruck gab, dass sie angefeindet wurde - ein Bad der Peinlichkeit für die Kinder, die es meist mit der Mehrheit halten. Zugleich war schon die Mutter eine Träumerin, die "das eigene Leben bereiste", während der Vater als Seemann auf Meeren und Ozeanen unterwegs war. Schlüsselmomente der Familiengeschichte werden wiederholt aufgerufen, etwa der Diebstahl der wertvollsten Habseligkeiten aus einem Eisenbahnwaggon in Vinkovci.
Grenzt die Ordnungsliebe der Mutter auf der einen Seite ans Pedantische, so auf der anderen Seite ans Enzyklopädische. Sie führt Buch über den Alltag; in einem Heft notiert sie alle Hotels, in denen sie je eine Nacht verbracht hat. Diese Häuser und ihre klangvollen Namen sind wie Eisenbahnen und Schienennetze Leitmotive im Werk von Velikic: als Synthese von Unterwegs- und Angekommensein, als Orte der "Zwischenzeit".
Eine zweite Familiengeschichte ist mit der autobiographischen Erzählung verflochten - die der Griechin Lisetta, der älteren Freundin der Mutter in Pula, auch sie auf der Suche nach einer verlorenen Zeit. Lisetta verbrachte ihre Kindheit in Thessaloniki; als Teile der Stadt 1917 abbrannten, wurde das Viertel ihrer Herkunft zerstört. Später lebte sie in Rovinj. Es geht sprunghaft durch die Zeiten: Erster Weltkrieg, das frühe Jugoslawien, die Zerfallskriege der neunziger Jahre, dazu die Reisen des Schriftstellers in der Gegenwart, immer auf den Spuren der Erinnerung, im Vollgefühl von Reminiszenzen. Die Rückkehrsehnsucht und eine gewisse Verklärung der jugoslawischen Ära haben auch mit der schroffen Abkehr von der Gegenwart zu tun, die als moralisch zutiefst verkommen empfunden wird. Kein gutes Haar lässt der Erzähler an den Entwicklungen der postsozialistischen Jahre: "Nichtsnutze und Manipulatoren übernahmen die Macht." Die Kritik bleibt allerdings verschwommen in ihrem Verdammungsfuror. Aber gut verständlich, dass Velikic, der unter Milosevic zu den mutigsten Journalisten seines Landes gehörte, die "Helden des Konformismus" verhasst sind.
Oft sind Romane Kunstwerke der Erinnerung; Velikic dagegen erzählt von Menschen, die selbst bereits mit kaum etwas anderem als ihrer Erinnerungsarbeit beschäftigt sind, als wäre es eine Lebensaufgabe, bei der man tiefe, untrügliche Wahrheiten zu fassen bekommt. Dieser Erzähler ist ein Metaphysiker der Erinnerung; er beruft sich auf den ungarischen Psychoanalytiker Leopold Szondi mit der Auffassung, dass sich die intensiven Erlebnisse eines Menschen, seine Ängste und Verfehlungen, in die Gene einschreiben und in Form eines "familiären Unbewussten" an die Nachkommen weitergegeben werden.
Inzwischen geht die Hirnforschung aber davon aus, dass Erinnerungen immer aufs Neue konstruiert und umgeschrieben werden; mehr noch, es lassen sich falsche Erinnerungen an nie Erlebtes ins Gedächtnis einschreiben. Von dieser Unsicherheit und prinzipiellen Täuschungsanfälligkeit vermittelt auch Velikic in seinen weniger metaphysischen Momenten eine Ahnung, etwa wenn er seinen Helden grübeln lässt: "Warum erlebte er Dinge, die nichts mit seinem eigenen Leben zu tun hatten, als Teil seiner Familiengeschichte?"
Die Erinnerung, die im Proustschen Sinn als Rettung aus der Flüchtigkeit des Lebens begriffen wird, kann zudem nur eine vorübergehende Heimkehr bieten; sie liegt bereits unter dem Schatten der Demenzdrohung. Mit Schrecken meint der Erzähler Vorzeichen der Alzheimer-Krankheit, die seine Mutter zerstörte, bei sich selbst wahrzunehmen. Der übermäßige Drang nach Ordnung, wie er das Leben der Mutter kennzeichnete, ist womöglich ihr erstes Symptom.
Es ist eine tiefernste, schwermütige autobiographische Erkundung, die Velikic vornimmt - aber ist sie auch für die Leser von Belang? Zumindest für diejenigen, die nicht so leicht fremde Angelegenheiten zu ihrer eigenen Sache machen können, dürfte das Buch spröde Kost sein. Die poetischen Reize enthüllen sich nur gutwilligen Lesern, denen die jugoslawische und postjugoslawische Welt eine gewisse Magie verheißt, mit ihren Übergängen vom Slowenisch-Alpenländischen ins Mediterrane und weiter zu Orten, wo bereits der "Atem des Orients" spürbar ist.
Zu den schönsten Momenten des Romans gehört der Auftritt des 2003 gestorbenen Schriftstellers Aleksandar Tisma, der mit "Der Gebrauch des Menschen" das Meisterwerk der serbischen Literatur nach 1945 geschrieben hat. Der Erzähler führt Gespräche mit ihm, über sparsame Huren und andere Erscheinungen des Lebens, und Tisma hat dabei ein schelmisches Lächeln auf den Lippen. "Alles, was er gesagt hatte, war scharfsinnig und ungeschminkt", rühmt Velikic. Das lässt sich über seine eigene Prosa leider nicht immer sagen.
WOLFGANG SCHNEIDER
Dragan Velikic: "Jeder muss doch irgendwo sein". Roman.
Aus dem Serbischen von Mascha Dabic. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2017. 302 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main