Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer am 9. Dezember 2016: Die erste umfassende Biographie eines der wichtigsten Autoren nach 1945. Wolfgang Hildesheimer ist nicht nur einer der wichtigsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit, sondern er war auch eine zentrale Stimme des politisch engagierten Bürgertums. Als Sohn jüdischer Eltern verließ er Deutschland 1933 in Richtung England und Palästina. Nach dem Krieg arbeitete er als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen und wurde Mitglied der Gruppe 47. Stephan Braese zeichnet die biographischen Stationen nach und stellt Werk und Leben von Wolfgang Hildesheimer in den Kontext von Geschichte und Diskursen. Hildesheimers multikulturelle Erfahrung, sein emphatisches Bekenntnis zur Psychoanalyse, seine Experimente mit einer Verschmelzung von Literatur, Musik und bildender Kunst, aber auch seine Haltung zur deutschen NS-Vergangenheit schufen die Grundlage für ein unverwechselbares künstlerisches Werk. Öffentliche Stellungnahmen zu einer Vielzahl kontrovers diskutierter Themen zeigen Hildesheimer zugleich als engagierten Bürger und Intellektuellen. Im Prisma der Biographie, die eine Vielzahl bisher ungedruckter Quellen auswertet, entsteht so zugleich ein Porträt der alten Bundesrepublik, insbesondere ihrer kulturellen, aber auch ihrer politischen Verhältnisse. Vor allem jedoch macht Stefan Braese erkennbar, was Hildesheimers Wirken bestimmte: die unablässige Arbeit daran, jenen Bruch zu überwinden, der die deutsche Kultur in den Jahren der NS-Herrschaft von den internationalen Entwicklungen abgespalten hatte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.12.2016Liebe Leute fand er nur in der Familie
Reiche Ernte eines großen Schaffens: Zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer erscheinen eine Biographie, ein Aufsatzband und die Briefe des Schriftstellers an seine Eltern.
Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer gehörte in den fünfziger und sechziger Jahren zum Kanon der westdeutschen Gegenwartsliteratur und erhielt 1966 für seinen Roman "Tynset" den Büchnerpreis. Daran muss heute explizit erinnert werden, weil sein Name jüngeren Lesern mehrheitlich gar nichts sagt und ältere ihn gründlich vergessen zu haben scheinen. Zwar fristet sein Werk in einer siebenbändigen, bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ein Schattendasein in Bibliotheken und ist in Einzelausgaben weitgehend noch greifbar, aber aus dem Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur scheint er verschwunden.
Immerhin hat Suhrkamp nun zu Hildesheimers hundertstem Geburtstag am 9. Dezember zwei voluminöse Bände mit Briefen an seine Eltern herausgebracht, der Aachener Literaturwissenschaftler Stephan Braese bei Wallstein eine substantielle Biographie des Autors vorgelegt und die edition text + kritik Hildesheimer ihm ihr diesjähriges "Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre" gewidmet, das einige sehr bemerkenswerte Beiträge enthält.
Stephan Braese ist sich der besonderen Aufgabe bewusst, die es bedeutet, eine Biographie gerade über Wolfgang Hildesheimer zu schreiben. Denn dieser Autor hat sich über das biographische Genre mehrfach kritisch geäußert und seine eigene Lebensgeschichte in fünf kurzen Abrissen zwischen 1953 und 1966 immer wieder neu erzählt und die Schwerpunkte verschoben. Mit der Analyse dieser Selbstdarstellungen beginnt Braese seine Biographie. Zudem hat Hildesheimer selbst zwei Biographien geschrieben, die eine, seinen größten Publikumserfolg überhaupt, über Mozart und die andere, vielleicht sein geheimes Meisterwerk, über den englischen Adligen und Kunsttheoretiker Andrew Marbot, der 1830 im Alter von 29 Jahren von seinem Wohnsitz Urbino aus einen Gang ins Gebirge macht und nicht mehr zurückkehrt: verschollen für immer. Der Clou dabei ist der Umstand, dass hier jemand verschwindet, der nie gelebt hat, denn Marbot ist eine fiktive Schöpfung Hildesheimers. Sein Leben und seine nachgelassenen Schriften sind indes so überzeugend dargestellt, dass manche Leser und Rezensenten ihn als historische Figur für bare Münze genommen haben.
Braese war sich der inhärenten Tendenz aller Biographien bewusst, in einer Lebensgeschichte Kohärenz herzustellen, wo in Wahrheit Kontingenz regiert. Kontingenz, die im Fall Hildesheimer eine besonders herausragende Rolle spielt. Geboren 1916 in Hamburg als "Enkel eines der namhaftesten Rabbiner Mitteleuropas in der Neuzeit", wie Braese schreibt, war seine Familie in der Elterngeneration bereits säkularisiert. Die Hildesheimers wanderten 1933 mit ihrem Sohn Wolfgang und dessen Schwester Eva nach Palästina aus. Die Jahreszahl suggeriert eine unmittelbare Reaktion auf Hitlers Machteroberung; in der Realität hatten Hildesheimers Eltern diesen Schritt schon wesentlich länger erwogen. Weder orthodox noch religiös, waren sie dennoch zionistisch. Der Vater, Chemiker, wurde in Palästina als leitender Angestellter für Unilever tätig, sein Sohn, der bis dahin in Deutschland die Odenwaldschule und danach ganz kurz eine Public School in England besucht hatte, machte in Jerusalem eine Tischlerlehre.
Von 1937 an setzte Wolfgang Hildesheimer seine handwerklich-künstlerische Ausbildung in London an der Central School of Arts and Crafts fort. Hier beginnt dann auch der umfangreiche Briefwechsel mit den Eltern, dem wir die 507 Briefe verdanken, die jetzt bei Suhrkamp erschienen sind, vom Hildesheimer-Experten Volker Jehle mustergültig ediert. Der erste dieser Briefe, die immer mit der Anrede "Liebe Leute" beginnen, wurde noch während der Schiffspassage geschrieben und registriert unter anderem: "Sonst ist es ziemlich langweilig. Die Arier treiben ihr Unwesen. Die frommen Juden nicht minder."
In London führte Hildesheimer alters- und milieugemäß ein Bohemeleben. Das Porträt des Künstlers als junger Mann, das aus seinen Briefen durchscheint, zeigt zugleich, wie ihn dieses Leben formte und zum Kosmopoliten machte, so dass ihm später die Kollegen von der Gruppe 47, die von der Welt nicht sehr viel mehr gesehen hatten als die Länder, die sie als Wehrmachtssoldaten zu verwüsten oder zu okkupieren geholfen hatten, "Weltläufigkeit" bescheinigten. Dieser Kosmopolitismus wurde nach der Rückkehr nach Palästina verfeinert und ausgebildet. Von 1941 bis 1946 arbeitete Hildesheimer, dessen Englisch inzwischen muttersprachliche Qualität hatte, in Jerusalem als Informationsoffizier für das britische Public Information Office (PIO), eine Art Informations- und Propagandaministerium, und traf im Kontext dieser Arbeit auf viele Briten, die derzeit zwar Offiziere waren, im Zivilberuf aber Wissenschaftler und Künstler.
Dieser Hintergründe muss man sich bewusst sein, wenn man verstehen will, dass Hildesheimers Rückkehr nach Deutschland keine Heimkehr war, auch nicht die eines Exilanten. Vielmehr verstand er sich als Angehöriger der Besatzungsmacht. "Unter Deutsche mischen wir uns nicht", schreibt er am 12. März 1947 an seine Eltern, und am 26. April: "Die Deutschen dagegen sind ein trauriges Kapitel. Obwohl sie sehr ausgehungert sind nach moderner Kultur, Musik und Kunst . . . ist gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun."
Der Angehörige der Besatzungsmacht arbeitete von 1947 an als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Solche Arbeit verlangt bekanntlich höchste Konzentration bei sofortiger Umsetzung des Gehörten in die andere Sprache, wobei eventuell die Inhalte, die man gerade hört, zunächst der Amnesie verfallen, um so eher, je grauenhafter sie sind. Braeses Ausführungen zum "Hörsinn nach Nürnberg" und den Auswirkungen auf die spätere Hörspielarbeit Hildesheimers sowie auf seine Prosaarbeiten von den frühen sechziger Jahren an gehören zu den Glanzstücken dieser Biographie.
Erstaunlicherweise wurde dann die vorwiegend aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der "inneren Emigration" bestehende Gruppe 47 für den jüdischen Besatzer Hildesheimer zum Sprungbrett für seine Karriere als Schriftsteller und auch ausschlaggebend dafür, dass er sich entschloss, zunächst in Deutschland zu bleiben. "Mit dieser Erfolgsgeschichte", schreibt Jennifer Bigelow in ihrem aufschlussreichen Beitrag über Hildesheimers Verhältnis zur Gruppe fürs Jahrbuch, "gelang der Gruppe 47 auf geradezu vorbildliche Weise die Integration eines jüdischen Emigranten in ihren Kreis." Erstaunlich ist das insofern, als das problematische Verhältnis der Gruppe zu jüdischen Autorinnen und Autoren inzwischen hinlänglich bekannt ist. Hildesheimers "Integration" blieb denn auch die Ausnahme.
Sein Erfolg bei der Gruppe und beim Publikum mag damit zusammenhängen, dass seine "Lieblosen Legenden" mit ihrem satirischen Charakter nach der Schwere der Kahlschlagphase als Entlastung empfunden wurden. Dabei wurde die Tatsache übersehen und (bei den Hörspielen) überhört, dass Wolfgang Hildesheimers Werk von Beginn an von einem tiefschwarzen Pessimismus Schopenhauerscher Qualität grundiert ist. Darüber ließ man sich wegen des satirischen Ansatzes und der extrem unteutonischen Eleganz seiner Schreibweise offenbar hinwegtäuschen.
Dieser Einwand muss leider auch gegen Stefan Braeses ansonsten sehr tiefgehende Biographie erhoben werden. Auch er sieht unausgesprochen einen Hildesheimer I, der das Werk bis etwa 1960 umfasst, und einen Hildesheimer II, der etwa mit den "Vergeblichen Aufzeichnungen" beginnt und dann in Büchern wie "Tynset" und "Masante" kulminiert. Deshalb wird etwa der Roman "Paradies der falschen Vögel" aus dem Jahr 1953 keiner weiteren Würdigung unterzogen, obwohl in ihm bereits alle Motive des Hildesheimerschen Werks entfaltet werden: die Auflösung des Begriffs Identität, die Ununterscheidbarkeit von Original und Fälschung und von Schein und Sein (in postfaktischen Zeiten hochaktuell), die Ablehnung jeglichen Nationalismus, bis hin zu einem Weltekel, der in der Feststellung Philipp Roskols gipfelt, am besten seien die dran, die niemals geboren seien, ergänzt durch den bedauernden Nachsatz: "Aber das kommt in tausend Fällen höchstens zwei- bis dreimal vor."
1957 schon hatte Hildesheimer mit seiner Frau Deutschland wieder verlassen und sich im graubündischen Poschiavo angesiedelt. Anfänglich hatte er dafür ausschließlich klimatische Gründe geltend gemacht. Klima ist ein polyvalenter Begriff. Es kann kein Zweifel bestehen, dass bei dieser Entscheidung die langsame Wiederkehr des Verdrängten, sprich die Erinnerung an die Inhalte der Nürnberger Prozesse, eine Rolle gespielt hat, die sich dann in "Tynset" niedergeschlagen hat. Obwohl das Erscheinen des Buchs - Hildesheimer hat es explizit nicht Roman genannt, weil er an die Romanform nicht mehr glaubte - ins selbe Jahr fiel wie die Uraufführung von Peter Weiss' "Die Ermittlung", hat ein Großteil der Kritik damals (mehrheitlich wohlwollend) darin nur den Monolog eines schweren Melancholikers erkannt, den Holocaust aber, der unmissverständlich, wenn auch nicht plakativ thematisiert wird, nicht wahrnehmen wollen.
Als Hildesheimer in den siebziger und achtziger Jahren in Interviews zunehmend seinen Fokus auf die ökologische Katastrophe richtete und daraus unter anderem die Obsoletheit fiktionaler Literatur ableitete, sah man in ihm immer stärker einen Propheten des Unheils, über den man sich mokierte. Volker Jehle hat in seiner Werkgeschichte die Reaktionen von Kollegen auf die Ankündigung des Autors aufgeführt, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie waren mehrheitlich pikiert, ja wütend. Offenbar sah man die eigene Arbeit in Frage gestellt. Zudem reihte ihn die "Titanic" an vierter Stelle unter den "sieben peinlichsten Persönlichkeiten" ein, was sie wenigstens in diesem Fall selbst zu einer peinlichen Zeitschrift machte. Dem Betrieb, so lernt man daraus, kann man sich offenbar nicht aus freien Stücken ungestraft entziehen; nur der Betrieb selbst kann einen Autor aussortieren. Das hat er bei Hildesheimer in der Folge dann nach und nach getan.
Ob Hildesheimer das persönlich sehr berührt hat, steht dahin. Wohl eher nicht, denn im Interview mit Tilman Jens sagte er 1984: "Ich glaube, dass in wenigen Generationen der Mensch die Erde verlassen wird, das heißt, auch der Hildesheimer-Leser." Das ist eine Einschätzung, die heute an Wahrscheinlichkeit keineswegs eingebüßt hat. Bis dahin sollte es allerdings, schon allein wegen der beinahe solitären sprachlichen Eleganz dieses Autors in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, doch möglichst neue Hildesheimer-Leser geben. Viele werden es vielleicht nicht sein, eher die happy few, zu denen sich 1984 auch Günter Kunert zählte, als er an Hildesheimer schrieb: "Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr ich mich Ihnen verbunden fühle. Ich glaube, es ist überhaupt noch das einzige, was wir haben, dass wir uns anderen nahe wissen und spüren." Wenn Literatur das schafft, hat sie das Maximum erreicht.
JOCHEN SCHIMMANG
Wolfgang Hildesheimer: "Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts". Die Briefe an die Eltern.
Hrsg. von Volker Jehle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber. Zusammen 1556 S., geb., 78,- [Euro].
Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrsg.): "Treibhaus". Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd.12: Wolfgang Hildesheimer. Edition text + kritik, München 2016. 327 S., br., 38,- [Euro].
Stephan Braese: "Jenseits der Pässe". Wolfgang Hildesheimer - Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 S., Abb., geb., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Reiche Ernte eines großen Schaffens: Zum hundertsten Geburtstag von Wolfgang Hildesheimer erscheinen eine Biographie, ein Aufsatzband und die Briefe des Schriftstellers an seine Eltern.
Der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer gehörte in den fünfziger und sechziger Jahren zum Kanon der westdeutschen Gegenwartsliteratur und erhielt 1966 für seinen Roman "Tynset" den Büchnerpreis. Daran muss heute explizit erinnert werden, weil sein Name jüngeren Lesern mehrheitlich gar nichts sagt und ältere ihn gründlich vergessen zu haben scheinen. Zwar fristet sein Werk in einer siebenbändigen, bei Suhrkamp erschienenen Ausgabe ein Schattendasein in Bibliotheken und ist in Einzelausgaben weitgehend noch greifbar, aber aus dem Kanon der deutschen Gegenwartsliteratur scheint er verschwunden.
Immerhin hat Suhrkamp nun zu Hildesheimers hundertstem Geburtstag am 9. Dezember zwei voluminöse Bände mit Briefen an seine Eltern herausgebracht, der Aachener Literaturwissenschaftler Stephan Braese bei Wallstein eine substantielle Biographie des Autors vorgelegt und die edition text + kritik Hildesheimer ihm ihr diesjähriges "Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre" gewidmet, das einige sehr bemerkenswerte Beiträge enthält.
Stephan Braese ist sich der besonderen Aufgabe bewusst, die es bedeutet, eine Biographie gerade über Wolfgang Hildesheimer zu schreiben. Denn dieser Autor hat sich über das biographische Genre mehrfach kritisch geäußert und seine eigene Lebensgeschichte in fünf kurzen Abrissen zwischen 1953 und 1966 immer wieder neu erzählt und die Schwerpunkte verschoben. Mit der Analyse dieser Selbstdarstellungen beginnt Braese seine Biographie. Zudem hat Hildesheimer selbst zwei Biographien geschrieben, die eine, seinen größten Publikumserfolg überhaupt, über Mozart und die andere, vielleicht sein geheimes Meisterwerk, über den englischen Adligen und Kunsttheoretiker Andrew Marbot, der 1830 im Alter von 29 Jahren von seinem Wohnsitz Urbino aus einen Gang ins Gebirge macht und nicht mehr zurückkehrt: verschollen für immer. Der Clou dabei ist der Umstand, dass hier jemand verschwindet, der nie gelebt hat, denn Marbot ist eine fiktive Schöpfung Hildesheimers. Sein Leben und seine nachgelassenen Schriften sind indes so überzeugend dargestellt, dass manche Leser und Rezensenten ihn als historische Figur für bare Münze genommen haben.
Braese war sich der inhärenten Tendenz aller Biographien bewusst, in einer Lebensgeschichte Kohärenz herzustellen, wo in Wahrheit Kontingenz regiert. Kontingenz, die im Fall Hildesheimer eine besonders herausragende Rolle spielt. Geboren 1916 in Hamburg als "Enkel eines der namhaftesten Rabbiner Mitteleuropas in der Neuzeit", wie Braese schreibt, war seine Familie in der Elterngeneration bereits säkularisiert. Die Hildesheimers wanderten 1933 mit ihrem Sohn Wolfgang und dessen Schwester Eva nach Palästina aus. Die Jahreszahl suggeriert eine unmittelbare Reaktion auf Hitlers Machteroberung; in der Realität hatten Hildesheimers Eltern diesen Schritt schon wesentlich länger erwogen. Weder orthodox noch religiös, waren sie dennoch zionistisch. Der Vater, Chemiker, wurde in Palästina als leitender Angestellter für Unilever tätig, sein Sohn, der bis dahin in Deutschland die Odenwaldschule und danach ganz kurz eine Public School in England besucht hatte, machte in Jerusalem eine Tischlerlehre.
Von 1937 an setzte Wolfgang Hildesheimer seine handwerklich-künstlerische Ausbildung in London an der Central School of Arts and Crafts fort. Hier beginnt dann auch der umfangreiche Briefwechsel mit den Eltern, dem wir die 507 Briefe verdanken, die jetzt bei Suhrkamp erschienen sind, vom Hildesheimer-Experten Volker Jehle mustergültig ediert. Der erste dieser Briefe, die immer mit der Anrede "Liebe Leute" beginnen, wurde noch während der Schiffspassage geschrieben und registriert unter anderem: "Sonst ist es ziemlich langweilig. Die Arier treiben ihr Unwesen. Die frommen Juden nicht minder."
In London führte Hildesheimer alters- und milieugemäß ein Bohemeleben. Das Porträt des Künstlers als junger Mann, das aus seinen Briefen durchscheint, zeigt zugleich, wie ihn dieses Leben formte und zum Kosmopoliten machte, so dass ihm später die Kollegen von der Gruppe 47, die von der Welt nicht sehr viel mehr gesehen hatten als die Länder, die sie als Wehrmachtssoldaten zu verwüsten oder zu okkupieren geholfen hatten, "Weltläufigkeit" bescheinigten. Dieser Kosmopolitismus wurde nach der Rückkehr nach Palästina verfeinert und ausgebildet. Von 1941 bis 1946 arbeitete Hildesheimer, dessen Englisch inzwischen muttersprachliche Qualität hatte, in Jerusalem als Informationsoffizier für das britische Public Information Office (PIO), eine Art Informations- und Propagandaministerium, und traf im Kontext dieser Arbeit auf viele Briten, die derzeit zwar Offiziere waren, im Zivilberuf aber Wissenschaftler und Künstler.
Dieser Hintergründe muss man sich bewusst sein, wenn man verstehen will, dass Hildesheimers Rückkehr nach Deutschland keine Heimkehr war, auch nicht die eines Exilanten. Vielmehr verstand er sich als Angehöriger der Besatzungsmacht. "Unter Deutsche mischen wir uns nicht", schreibt er am 12. März 1947 an seine Eltern, und am 26. April: "Die Deutschen dagegen sind ein trauriges Kapitel. Obwohl sie sehr ausgehungert sind nach moderner Kultur, Musik und Kunst . . . ist gesellschaftlicher Verkehr mit ihnen dadurch beschwert, dass sie sich so entsetzlich leid tun."
Der Angehörige der Besatzungsmacht arbeitete von 1947 an als Simultandolmetscher bei den Nürnberger Prozessen. Solche Arbeit verlangt bekanntlich höchste Konzentration bei sofortiger Umsetzung des Gehörten in die andere Sprache, wobei eventuell die Inhalte, die man gerade hört, zunächst der Amnesie verfallen, um so eher, je grauenhafter sie sind. Braeses Ausführungen zum "Hörsinn nach Nürnberg" und den Auswirkungen auf die spätere Hörspielarbeit Hildesheimers sowie auf seine Prosaarbeiten von den frühen sechziger Jahren an gehören zu den Glanzstücken dieser Biographie.
Erstaunlicherweise wurde dann die vorwiegend aus ehemaligen Wehrmachtssoldaten und Angehörigen der "inneren Emigration" bestehende Gruppe 47 für den jüdischen Besatzer Hildesheimer zum Sprungbrett für seine Karriere als Schriftsteller und auch ausschlaggebend dafür, dass er sich entschloss, zunächst in Deutschland zu bleiben. "Mit dieser Erfolgsgeschichte", schreibt Jennifer Bigelow in ihrem aufschlussreichen Beitrag über Hildesheimers Verhältnis zur Gruppe fürs Jahrbuch, "gelang der Gruppe 47 auf geradezu vorbildliche Weise die Integration eines jüdischen Emigranten in ihren Kreis." Erstaunlich ist das insofern, als das problematische Verhältnis der Gruppe zu jüdischen Autorinnen und Autoren inzwischen hinlänglich bekannt ist. Hildesheimers "Integration" blieb denn auch die Ausnahme.
Sein Erfolg bei der Gruppe und beim Publikum mag damit zusammenhängen, dass seine "Lieblosen Legenden" mit ihrem satirischen Charakter nach der Schwere der Kahlschlagphase als Entlastung empfunden wurden. Dabei wurde die Tatsache übersehen und (bei den Hörspielen) überhört, dass Wolfgang Hildesheimers Werk von Beginn an von einem tiefschwarzen Pessimismus Schopenhauerscher Qualität grundiert ist. Darüber ließ man sich wegen des satirischen Ansatzes und der extrem unteutonischen Eleganz seiner Schreibweise offenbar hinwegtäuschen.
Dieser Einwand muss leider auch gegen Stefan Braeses ansonsten sehr tiefgehende Biographie erhoben werden. Auch er sieht unausgesprochen einen Hildesheimer I, der das Werk bis etwa 1960 umfasst, und einen Hildesheimer II, der etwa mit den "Vergeblichen Aufzeichnungen" beginnt und dann in Büchern wie "Tynset" und "Masante" kulminiert. Deshalb wird etwa der Roman "Paradies der falschen Vögel" aus dem Jahr 1953 keiner weiteren Würdigung unterzogen, obwohl in ihm bereits alle Motive des Hildesheimerschen Werks entfaltet werden: die Auflösung des Begriffs Identität, die Ununterscheidbarkeit von Original und Fälschung und von Schein und Sein (in postfaktischen Zeiten hochaktuell), die Ablehnung jeglichen Nationalismus, bis hin zu einem Weltekel, der in der Feststellung Philipp Roskols gipfelt, am besten seien die dran, die niemals geboren seien, ergänzt durch den bedauernden Nachsatz: "Aber das kommt in tausend Fällen höchstens zwei- bis dreimal vor."
1957 schon hatte Hildesheimer mit seiner Frau Deutschland wieder verlassen und sich im graubündischen Poschiavo angesiedelt. Anfänglich hatte er dafür ausschließlich klimatische Gründe geltend gemacht. Klima ist ein polyvalenter Begriff. Es kann kein Zweifel bestehen, dass bei dieser Entscheidung die langsame Wiederkehr des Verdrängten, sprich die Erinnerung an die Inhalte der Nürnberger Prozesse, eine Rolle gespielt hat, die sich dann in "Tynset" niedergeschlagen hat. Obwohl das Erscheinen des Buchs - Hildesheimer hat es explizit nicht Roman genannt, weil er an die Romanform nicht mehr glaubte - ins selbe Jahr fiel wie die Uraufführung von Peter Weiss' "Die Ermittlung", hat ein Großteil der Kritik damals (mehrheitlich wohlwollend) darin nur den Monolog eines schweren Melancholikers erkannt, den Holocaust aber, der unmissverständlich, wenn auch nicht plakativ thematisiert wird, nicht wahrnehmen wollen.
Als Hildesheimer in den siebziger und achtziger Jahren in Interviews zunehmend seinen Fokus auf die ökologische Katastrophe richtete und daraus unter anderem die Obsoletheit fiktionaler Literatur ableitete, sah man in ihm immer stärker einen Propheten des Unheils, über den man sich mokierte. Volker Jehle hat in seiner Werkgeschichte die Reaktionen von Kollegen auf die Ankündigung des Autors aufgeführt, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie waren mehrheitlich pikiert, ja wütend. Offenbar sah man die eigene Arbeit in Frage gestellt. Zudem reihte ihn die "Titanic" an vierter Stelle unter den "sieben peinlichsten Persönlichkeiten" ein, was sie wenigstens in diesem Fall selbst zu einer peinlichen Zeitschrift machte. Dem Betrieb, so lernt man daraus, kann man sich offenbar nicht aus freien Stücken ungestraft entziehen; nur der Betrieb selbst kann einen Autor aussortieren. Das hat er bei Hildesheimer in der Folge dann nach und nach getan.
Ob Hildesheimer das persönlich sehr berührt hat, steht dahin. Wohl eher nicht, denn im Interview mit Tilman Jens sagte er 1984: "Ich glaube, dass in wenigen Generationen der Mensch die Erde verlassen wird, das heißt, auch der Hildesheimer-Leser." Das ist eine Einschätzung, die heute an Wahrscheinlichkeit keineswegs eingebüßt hat. Bis dahin sollte es allerdings, schon allein wegen der beinahe solitären sprachlichen Eleganz dieses Autors in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, doch möglichst neue Hildesheimer-Leser geben. Viele werden es vielleicht nicht sein, eher die happy few, zu denen sich 1984 auch Günter Kunert zählte, als er an Hildesheimer schrieb: "Ich wollte Ihnen nur sagen, wie sehr ich mich Ihnen verbunden fühle. Ich glaube, es ist überhaupt noch das einzige, was wir haben, dass wir uns anderen nahe wissen und spüren." Wenn Literatur das schafft, hat sie das Maximum erreicht.
JOCHEN SCHIMMANG
Wolfgang Hildesheimer: "Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts". Die Briefe an die Eltern.
Hrsg. von Volker Jehle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bde. im Schuber. Zusammen 1556 S., geb., 78,- [Euro].
Günter Häntzschel, Sven Hanuschek, Ulrike Leuschner (Hrsg.): "Treibhaus". Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre, Bd.12: Wolfgang Hildesheimer. Edition text + kritik, München 2016. 327 S., br., 38,- [Euro].
Stephan Braese: "Jenseits der Pässe". Wolfgang Hildesheimer - Eine Biographie.
Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 S., Abb., geb., 44,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2016Der freundliche Apokalyptiker
Eine ausgezeichnete Biografie und eine Ausgabe seiner Briefe an die Eltern laden dazu ein,
den finster-heiteren Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer neu zu entdecken
VON HILMAR KLUTE
Die frühen Achtzigerjahre waren eine nahrhafte Zeit für Apokalyptiker jeder Couleur: Nato-Nachrüstung, Kriege im Nahen Osten und die zunehmende Zerstörung der Umwelt. Wer sich daran erinnert, weiß auch noch um
die mahnenden Stimmen jener Intellektuellen, die entweder radikal gegen den Wahnsinn anschreiben oder lieber gleich demütig das Luthersche Apfelbäumchen pflanzen wollten. Im Empörungswettbewerb von damals fiel der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer durch besondere Radikalität auf. Er wolle angesichts der Unbelehrbarkeit der Menschen kein einziges Wort mehr schreiben, sagte er damals dem Stern. Den Verzicht werde er auch deshalb üben, weil seiner Ansicht nach „der Mensch die Erde bald verlassen wird, auch der Hildesheimer-Leser“.
Das war selbst den engagiertesten Kollegen zu viel: Einer, der seit Jahrzehnten den deutschen Literaturbetrieb aus der ersten Reihe mitbefeuert hat, zieht einfach so das Schweigen der verzweifelten Beredsamkeit vor? Ausgerechnet Hildesheimer, der zu den erfolgreichsten Autoren der Bundesrepublik gehörte, dessen Humoresken-Sammlung „Lieblose Legenden“ (1952) fast so etwas wie ein Hausbuch der Deutschen wurde und der 1977 „Mozart“ geschrieben hatte, ein biografisches Meisterwerk und zugleich einen Bestseller. Man kann sich in unseren überkommunikativen Zeiten nicht mehr vorstellen, dass es einmal das politisch-literarische Instrument der Sprachverweigerung gegeben hat und dass ein Autor damit auf großes Hallo stoßen konnte.
Dass Wolfgang Hildesheimers Schriftstellerkarriere in einem ungewöhnlichen und teilweise dramatischen Spannungsverhältnis zum intellektuellen Leben in der Bundesrepublik stand, erhellen zwei Veröffentlichungen, die jetzt zu Hildesheimers 100. Geburtstag erschienen sind. Volker Jehle, der Germanist und Nachlassverwalter Hildesheimers, hat in zwei penibel edierten Bänden jene Briefe gesammelt, die Hildesheimer zwischen 1937 und 1951 an seine Eltern schrieb. Es sind die Jahre, in denen Hildesheimer, der am 9. Dezember 1916 in Hamburg in eine jüdische Familie hineingeboren wurde, Erfahrungen macht, die ihn später zum radikalen Skeptiker der noch lange in Affekten der Geschichtsverleugnung sich windenden deutschen Öffentlichkeit werden ließen. Und Stephan Braese hat Hildesheimers sanften Radikalismus in einer spannenden Biografie nachgezeichnet. Braese verbindet intensive Werkexegese mit einer präzisen Darstellung jener literarischen Milieus, in denen sich Hildesheimer mit seinen Erfahrungen als von den Deutschen verfolgter Jude und Emigrant nur bedingt wohlfühlen konnte.
Der Weitsicht der Eltern verdankt der junge Wolfgang Hildesheimer sein Leben und Wohlergehen. 1933, mit sechzehn Jahren verlässt er die Odenwaldschule, nachdem die Nationalsozialisten dort die Reformpädagogen verjagt hatten, und zieht mit den Eltern in das unter britischem Mandat stehende Palästina. Hildesheimer beginnt eine Lehre als Möbeldesigner und geht 1937 nach London, um dort die Kunsthochschule zu besuchen. Er quält sich mit dem üblichen Programm ab, Aktzeichnen, Landschaft, Theorie – und fürchtet nichts so sehr wie die Entlarvung seines für den Malerberuf desaströsen Geheimnisses, seiner angeborenen Farbenblindheit.
Nach dem Krieg kehrt Hildesheimer – trotz der Bedenken seiner Eltern – nach Deutschland zurück; in seinen Briefen nach Israel, wo ein Großteil seiner Familie weiterhin lebt, bemüht er sich darum, ein befriedetes Nachkriegsdeutschland zu zeichnen – „eure Sorgen wegen Nazibauern sind ganz unberechtigt“, schreibt Hildesheimer, als er 1949 das Dorf Ambach besucht, das wenige Jahre später zum Initiationsort des Schriftstellers wird. Weil seine schwer heizbare Bude zu kalt ist, kann er nicht zeichnen und beginnt stattdessen, eine Geschichte zu schreiben. Es wird die erste seiner „Lieblosen Legenden“, die neben dem Kunstfälscher-Roman „Das Paradies der falschen Vögel“ (1953) seinen Erfolg begründen sollten. Dazwischen liegt Hildesheimers Zeit als Dolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen. Eine Tätigkeit, die wie Stephan Braese schreibt, an der Nutzeroberfläche eines „hochkomplexen medientechnologischen Verfahrens“ stattfand; lakonisch schreibt Hildesheimer in einem Brief an die Eltern: „Das einzige, was ich den ganzen Tag zu sagen hatte, war zwar nur I am not guilty (sechs Mal), aber es war doch eine feierliche Angelegenheit.“
Wie sehr Hildesheimer diese direkte Konfrontation mit den Verbrechern des Dritten Reichs geprägt hat, lässt sich literarisch erst Jahrzehnte später ablesen – im wuchtigen Monolog seines wohl bedeutendsten Werks „Tynset“ (1965), einer nach musikalischen Prinzipien gebauten Prosa, die auch von jenen „knochenbrechenden Familienvätern“ und „Lampenschirm-Bastlern“ erzählt, deren Psychogramme man seit den Auschwitz-Prozessen der Sechzigerjahre kannte – mit seinem folgenden Buch „Masante“ (1973) konnte er den Erfolg nicht wiederholen.
Braese beleuchtet auch immer wieder Hildesheimers Rezeptionsgeschichte, die ein erschreckendes Protokoll zeitgenössischer Ressentiments darstellt. Die Kritik an „Tynset“ wie an vielen anderen Arbeiten Hildesheimers in den deutschen Feuilletons kommt nämlich selten ohne Anspielung auf Hildesheimers Judesein aus.
Trotz der oft hämischen Verrisse seiner Theaterstücke und Hörspiele und obwohl Hildesheimer Deutschland bereits 1957 den Rücken kehrt und ins schweizerische Poschiavo zieht, wird er 1966 mit dem Bremer Literaturpreis und mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Preisrede widmet Hildesheimer dem Melancholiker Büchner, eine Zuordnung, die zugleich eine Absage an die parteinehmenden Kollegen Erich Fried und Peter Weiss bedeutet, mit denen er sich wenig später heftige Kontroversen über den Vietnam-Krieg liefert. Ansonsten lobt Hildesheimer das gute Essen und die „unter Küssen und Tränen“ stattfindende Preismahlzeit.
Hildesheimer ist ein pragmatischer Künstler, der den Ruhm genießt, seine Popularität für politische Interventionen nutzt und schnell lernt, dass es besser ist, Rezensionen nach ihrem merkantilen Nutzwert zu beurteilen, als sich über Einwände schwarz zu ärgern. Mitte der Siebzigerjahre ist der Suhrkamp-Autor Hildesheimer als bedeutender Schriftsteller der Nachkriegszeit kanonisiert – und leitet umgehend die Dekonstruktion seines dichterischen Portfolios ein: Mit seiner Rede „The end of fiction“, die Hildesheimer in Dublin, Cork und Galway hält, markiert er die programmatische Umgestaltung seiner literarischen Arbeit – Erzählwucht und Unterhaltsamkeit weichen zunehmender Skepsis darüber, ob sich die Welt in Texten abbilden lässt.
Braese gelingt ein bis in feine Werkverästelungen ausgeleuchtetes Porträt dieses Schriftstellers, der zeitlebens in einem Distanzverhältnis zu Deutschland stand. Hildesheimers Briefe an seine Eltern sind mehr als eine Ergänzung zur Lebensbeschreibung. Sie bilden ein eigenständiges biografisches Panorama, zumal da Volker Jehle die 507 Briefe mit einem aufschlussreichen Apparat versehen hat; was übrigens sehr selten ist bei derartigen philologischen Kraftanstrengungen: Jehles Anmerkungen kann man als Parallelerzählung zu den Briefen lesen.
Natürlich gerät man schnell in ein falsches Pathos, wenn man bei Wolfgang Hildesheimer von einem Unverstandenen spricht. Zu groß war sein Ruhm, zu hoch hat sich sein Renommee in Preisen und Ehrungen ausgezahlt. Und trotzdem war noch sein erfolgreiches Mozart-Buch den Kritikern suspekt. Als Hildesheimer das biografische Prinzip mit seiner Lebensbeschreibung des fiktiven Edelmanns Marbot ins Absurde drehte, gingen die mahnenden Finger hoch und das doof-deutsche Wort „Unbehagen“ stolperte durch die Rezensionen.
In seinen letzten Lebensjahren war Hildesheimer ein freundlicher Apokalyptiker, der gerne auf Symposien und zu Bundespräsidenten-Ereignissen geladen wurde und an seinen Collagen arbeitete – als bildender Künstler hatte Hildesheimer ja angefangen. Als er im Sommer 1991 mit
74 Jahren starb, riefen die Zeitungen dem Weltenbummler nach, dem Skurrilen und Eigensinnigen. Wer dagegen den großen Schriftsteller entdecken und für unsere Zeit deuten möchte, muss Braeses Biografie lesen, Jehles Briefe-Sammlung, vor allem aber: die finster-heiteren Bücher von Wolfgang Hildesheimer.
Wolfgang Hildesheimer: „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“– Die Briefe an die Eltern 1937– 1962. Herausgegeben von Volker Jehle. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bd., 1584 S., 78 Euro.
Stephan Braese: Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 Seiten, 44,90 Euro. E-Book 35,99 Euro.
Als verfolgter Jude konnte er
sich im Nachkriegsdeutschland
nur bedingt wohlfühlen
Über den skurril-eigensinnigen
Humoristen geriet der große
Schriftsteller in Vergessenheit
Wolfgang Hildesheimer (1916 - 1991), hier im Jahr 1973, in dem sein Roman „Masante“ erschien.
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Eine ausgezeichnete Biografie und eine Ausgabe seiner Briefe an die Eltern laden dazu ein,
den finster-heiteren Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer neu zu entdecken
VON HILMAR KLUTE
Die frühen Achtzigerjahre waren eine nahrhafte Zeit für Apokalyptiker jeder Couleur: Nato-Nachrüstung, Kriege im Nahen Osten und die zunehmende Zerstörung der Umwelt. Wer sich daran erinnert, weiß auch noch um
die mahnenden Stimmen jener Intellektuellen, die entweder radikal gegen den Wahnsinn anschreiben oder lieber gleich demütig das Luthersche Apfelbäumchen pflanzen wollten. Im Empörungswettbewerb von damals fiel der Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer durch besondere Radikalität auf. Er wolle angesichts der Unbelehrbarkeit der Menschen kein einziges Wort mehr schreiben, sagte er damals dem Stern. Den Verzicht werde er auch deshalb üben, weil seiner Ansicht nach „der Mensch die Erde bald verlassen wird, auch der Hildesheimer-Leser“.
Das war selbst den engagiertesten Kollegen zu viel: Einer, der seit Jahrzehnten den deutschen Literaturbetrieb aus der ersten Reihe mitbefeuert hat, zieht einfach so das Schweigen der verzweifelten Beredsamkeit vor? Ausgerechnet Hildesheimer, der zu den erfolgreichsten Autoren der Bundesrepublik gehörte, dessen Humoresken-Sammlung „Lieblose Legenden“ (1952) fast so etwas wie ein Hausbuch der Deutschen wurde und der 1977 „Mozart“ geschrieben hatte, ein biografisches Meisterwerk und zugleich einen Bestseller. Man kann sich in unseren überkommunikativen Zeiten nicht mehr vorstellen, dass es einmal das politisch-literarische Instrument der Sprachverweigerung gegeben hat und dass ein Autor damit auf großes Hallo stoßen konnte.
Dass Wolfgang Hildesheimers Schriftstellerkarriere in einem ungewöhnlichen und teilweise dramatischen Spannungsverhältnis zum intellektuellen Leben in der Bundesrepublik stand, erhellen zwei Veröffentlichungen, die jetzt zu Hildesheimers 100. Geburtstag erschienen sind. Volker Jehle, der Germanist und Nachlassverwalter Hildesheimers, hat in zwei penibel edierten Bänden jene Briefe gesammelt, die Hildesheimer zwischen 1937 und 1951 an seine Eltern schrieb. Es sind die Jahre, in denen Hildesheimer, der am 9. Dezember 1916 in Hamburg in eine jüdische Familie hineingeboren wurde, Erfahrungen macht, die ihn später zum radikalen Skeptiker der noch lange in Affekten der Geschichtsverleugnung sich windenden deutschen Öffentlichkeit werden ließen. Und Stephan Braese hat Hildesheimers sanften Radikalismus in einer spannenden Biografie nachgezeichnet. Braese verbindet intensive Werkexegese mit einer präzisen Darstellung jener literarischen Milieus, in denen sich Hildesheimer mit seinen Erfahrungen als von den Deutschen verfolgter Jude und Emigrant nur bedingt wohlfühlen konnte.
Der Weitsicht der Eltern verdankt der junge Wolfgang Hildesheimer sein Leben und Wohlergehen. 1933, mit sechzehn Jahren verlässt er die Odenwaldschule, nachdem die Nationalsozialisten dort die Reformpädagogen verjagt hatten, und zieht mit den Eltern in das unter britischem Mandat stehende Palästina. Hildesheimer beginnt eine Lehre als Möbeldesigner und geht 1937 nach London, um dort die Kunsthochschule zu besuchen. Er quält sich mit dem üblichen Programm ab, Aktzeichnen, Landschaft, Theorie – und fürchtet nichts so sehr wie die Entlarvung seines für den Malerberuf desaströsen Geheimnisses, seiner angeborenen Farbenblindheit.
Nach dem Krieg kehrt Hildesheimer – trotz der Bedenken seiner Eltern – nach Deutschland zurück; in seinen Briefen nach Israel, wo ein Großteil seiner Familie weiterhin lebt, bemüht er sich darum, ein befriedetes Nachkriegsdeutschland zu zeichnen – „eure Sorgen wegen Nazibauern sind ganz unberechtigt“, schreibt Hildesheimer, als er 1949 das Dorf Ambach besucht, das wenige Jahre später zum Initiationsort des Schriftstellers wird. Weil seine schwer heizbare Bude zu kalt ist, kann er nicht zeichnen und beginnt stattdessen, eine Geschichte zu schreiben. Es wird die erste seiner „Lieblosen Legenden“, die neben dem Kunstfälscher-Roman „Das Paradies der falschen Vögel“ (1953) seinen Erfolg begründen sollten. Dazwischen liegt Hildesheimers Zeit als Dolmetscher bei den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen. Eine Tätigkeit, die wie Stephan Braese schreibt, an der Nutzeroberfläche eines „hochkomplexen medientechnologischen Verfahrens“ stattfand; lakonisch schreibt Hildesheimer in einem Brief an die Eltern: „Das einzige, was ich den ganzen Tag zu sagen hatte, war zwar nur I am not guilty (sechs Mal), aber es war doch eine feierliche Angelegenheit.“
Wie sehr Hildesheimer diese direkte Konfrontation mit den Verbrechern des Dritten Reichs geprägt hat, lässt sich literarisch erst Jahrzehnte später ablesen – im wuchtigen Monolog seines wohl bedeutendsten Werks „Tynset“ (1965), einer nach musikalischen Prinzipien gebauten Prosa, die auch von jenen „knochenbrechenden Familienvätern“ und „Lampenschirm-Bastlern“ erzählt, deren Psychogramme man seit den Auschwitz-Prozessen der Sechzigerjahre kannte – mit seinem folgenden Buch „Masante“ (1973) konnte er den Erfolg nicht wiederholen.
Braese beleuchtet auch immer wieder Hildesheimers Rezeptionsgeschichte, die ein erschreckendes Protokoll zeitgenössischer Ressentiments darstellt. Die Kritik an „Tynset“ wie an vielen anderen Arbeiten Hildesheimers in den deutschen Feuilletons kommt nämlich selten ohne Anspielung auf Hildesheimers Judesein aus.
Trotz der oft hämischen Verrisse seiner Theaterstücke und Hörspiele und obwohl Hildesheimer Deutschland bereits 1957 den Rücken kehrt und ins schweizerische Poschiavo zieht, wird er 1966 mit dem Bremer Literaturpreis und mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Preisrede widmet Hildesheimer dem Melancholiker Büchner, eine Zuordnung, die zugleich eine Absage an die parteinehmenden Kollegen Erich Fried und Peter Weiss bedeutet, mit denen er sich wenig später heftige Kontroversen über den Vietnam-Krieg liefert. Ansonsten lobt Hildesheimer das gute Essen und die „unter Küssen und Tränen“ stattfindende Preismahlzeit.
Hildesheimer ist ein pragmatischer Künstler, der den Ruhm genießt, seine Popularität für politische Interventionen nutzt und schnell lernt, dass es besser ist, Rezensionen nach ihrem merkantilen Nutzwert zu beurteilen, als sich über Einwände schwarz zu ärgern. Mitte der Siebzigerjahre ist der Suhrkamp-Autor Hildesheimer als bedeutender Schriftsteller der Nachkriegszeit kanonisiert – und leitet umgehend die Dekonstruktion seines dichterischen Portfolios ein: Mit seiner Rede „The end of fiction“, die Hildesheimer in Dublin, Cork und Galway hält, markiert er die programmatische Umgestaltung seiner literarischen Arbeit – Erzählwucht und Unterhaltsamkeit weichen zunehmender Skepsis darüber, ob sich die Welt in Texten abbilden lässt.
Braese gelingt ein bis in feine Werkverästelungen ausgeleuchtetes Porträt dieses Schriftstellers, der zeitlebens in einem Distanzverhältnis zu Deutschland stand. Hildesheimers Briefe an seine Eltern sind mehr als eine Ergänzung zur Lebensbeschreibung. Sie bilden ein eigenständiges biografisches Panorama, zumal da Volker Jehle die 507 Briefe mit einem aufschlussreichen Apparat versehen hat; was übrigens sehr selten ist bei derartigen philologischen Kraftanstrengungen: Jehles Anmerkungen kann man als Parallelerzählung zu den Briefen lesen.
Natürlich gerät man schnell in ein falsches Pathos, wenn man bei Wolfgang Hildesheimer von einem Unverstandenen spricht. Zu groß war sein Ruhm, zu hoch hat sich sein Renommee in Preisen und Ehrungen ausgezahlt. Und trotzdem war noch sein erfolgreiches Mozart-Buch den Kritikern suspekt. Als Hildesheimer das biografische Prinzip mit seiner Lebensbeschreibung des fiktiven Edelmanns Marbot ins Absurde drehte, gingen die mahnenden Finger hoch und das doof-deutsche Wort „Unbehagen“ stolperte durch die Rezensionen.
In seinen letzten Lebensjahren war Hildesheimer ein freundlicher Apokalyptiker, der gerne auf Symposien und zu Bundespräsidenten-Ereignissen geladen wurde und an seinen Collagen arbeitete – als bildender Künstler hatte Hildesheimer ja angefangen. Als er im Sommer 1991 mit
74 Jahren starb, riefen die Zeitungen dem Weltenbummler nach, dem Skurrilen und Eigensinnigen. Wer dagegen den großen Schriftsteller entdecken und für unsere Zeit deuten möchte, muss Braeses Biografie lesen, Jehles Briefe-Sammlung, vor allem aber: die finster-heiteren Bücher von Wolfgang Hildesheimer.
Wolfgang Hildesheimer: „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“– Die Briefe an die Eltern 1937– 1962. Herausgegeben von Volker Jehle. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 2 Bd., 1584 S., 78 Euro.
Stephan Braese: Jenseits der Pässe: Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie. Wallstein Verlag, Göttingen 2016. 588 Seiten, 44,90 Euro. E-Book 35,99 Euro.
Als verfolgter Jude konnte er
sich im Nachkriegsdeutschland
nur bedingt wohlfühlen
Über den skurril-eigensinnigen
Humoristen geriet der große
Schriftsteller in Vergessenheit
Wolfgang Hildesheimer (1916 - 1991), hier im Jahr 1973, in dem sein Roman „Masante“ erschien.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Über die frühen Jahrzehnte Wolfgang Hildesheimers war bislang nur wenig bekannt. Dass die Stephan Braeses Biografie "Jenseits der Pässe" das nun ändert, freut Sven Hanuschek ungemein. Über das Aufwachsen in Deutschland, den Niederlanden und England liest der Rezensent hier, über den Umzug 1933 nach Palästina und die Rückkehr ins Nachrkeigsdeutschland. Aber auch Hildesheimers Werdegang als Schriftsteller, bildender Künstler und Intellektueller macht Braese nachvollziehbar, beleuchtet dabei insbesondere die Bedeutung der "jewishness" für Hildesheimer und gewährt nicht zuletzt einen Einblick in sein illustres Freundes- und Bekannten-Netzwerk, zeigt sich Hanuschek von dieser Biografie begeistert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Braese spiegelt in Hildesheimers Vita nicht weniger als eine Kulturgeschichte der Bundesrepublik« (Hartmut Buchholz, Badische Zeitung, 03.12.2016) »Stephan Braeses neue Hildesheimer-Biographie ist ein unentbehrliches Buch für Hildesheimer-Leser« (Arnulf Knafl, Wiener Zeitung extra, 03./04.12.2016) »ein lebendiges zeitgeschichtliches Jahrhundertbild« (Christiane Laubisch, ekz.bibliotheksservice, 05.12.2016) »eine substantielle Biographie« (Jochen Schimmang, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2016) »Stephan Braeses Verdienst ist es, genau herauszuarbeiten, wie Wolfgang Hildesheimer im geschichtlichen Prozess der Verdrängung und Neubefragung zu verorten ist.« (Anja Hirsch, WDR 3 Mosaik, 08.12.2016) »Stephan Braese hat Hildesheimers sanften Radikalismus in einer spannenden Biographie nachgezeichnet.« (Hilmar Klute, Süddeutsche Zeitung, 09.12.2016) »gründliche, mit vielen unbekannten (oder schwer zugänglichen) Details gestützte Darstellung von Leben und Werk« (Klaus Bellin, www.neues-deutschland.de, 09.12.2016) »ein genau recherchiertes und gut geschriebenes Werk über einen der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts« (Evelyn Adunka, Illustrierte Neue Welt, 4/2016) »Braeses lesenswertes Buch beleuchtet Leben und literarische Tätigkeit Hildesheimers mit reichhaltigem Hintergrundmaterial« (Monika Vasik, fixpoetry.com, 05.08.2017)