Natürlich fällt es ihm leichter, nicht an sie zu denken, wenn er wieder weg ist. Schon auf der Heimreise nach Köln, die fast zu einem Ritual geworden ist, versucht er sie zu verdrängen, wenigstens erst mal Abstand von ihr zu gewinnen. Nachdem er sich im Wienerwald mit Dosenbier eingedeckt hat, zischt er vor der Abfahrt seines Zuges in der Bahnhofspinte noch ein kühles Blondes - ah, noch eins, und er wischt sich den Schaum vom Mund, spürt die Wirkung des Alkohols, der sich bereits nach dem ersten Glas wohlig in ihm ausbreitet: eine euphorische Welle scheint sein Bewußtsein zu überschwemmen, es aufzuhellen, für einen Moment sogar zu vergolden, aber das hält ohne Nachschub nicht lange an, verkehrt sich sogar ins Gegenteil, weshalb er auch zu trinken nicht aufhören kann, nein, er hat Angst, die angenehme Heiterkeit, die ihn jetzt warm durchrieselt und alles verklärt, könnte verblassen und ihn, eben noch schwebend, abstürzen lassen in diese furchtbare Depression, die das eh schon Trostlose im nüchternen Zustand noch schrecklicher macht, ihm etwas Monströses verleiht, das er einfach nicht aushält, und so trinkt er während der Zugfahrt eine Dose nach der anderen, geht zwischendurch pinkeln, kichert, wenn sein Strahl im Geschuckel danebentrifft, taumelt zurück in sein Abteil, das bis Düsseldorf meistens leer ist, sich dort aber schlagartig füllt: Typen mit Aktenkoffer und Schlips, junge gepflegte Frauen, die etwas Einschüchterndes für ihn haben, ja, er fühlt sich plötzlich ganz schäbig, hat Angst, sie könnten seine Fahne riechen, und schon rümpft eine die Nase, während sie in ihr Handy spricht und ihn anstarrt, und er senkt schnell die Augen, holt die nächste Dose, die letzte, aus seiner Tasche, trinkt und denkt: blöde Tussi, denkt es gleichsam mit bösem Blick, mit dem er sie nun seinerseits anstarrt, und sie, eben noch arrogant, senkt plötzlich selber die Augen, tut so, als müßte sie ihr Handy verstauen, aber er hat sie durchschaut, spürt ihre Angst, und er grinst vor sich hin, wiederholt im Geiste blöde Tussi und trinkt, sieht hinaus in die Abenddämmerung - blöde Tussi, und er meint damit jetzt seine Mutter, von der er sich, nicht nur räumlich, immer weiter entfernt, froh, nein, eher erleichtert, und auch das stimmt nicht ganz, denn die Erleichterung ist geliehen von der Wirkung des Alkohols, der ihn aufputscht mit fragwürdigem Behagen, das wie durch ein Leck aus ihm rausrinnt, so daß er immerzu nachkippen muß, und der Pißdruck nimmt schon wieder zu.
Köln Hauptbahnhof, und er läßt sich mit dem Menschenstrom hinausdrücken auf den Bahnsteig, die Treppe hinab, durch die Gänge, viel zu eng, weil hier überall Absperrungen sind, denn der Bahnhof ist eine einzige Baustelle, wird von Grund auf entkernt und erneuert, in ein modernes Einkaufszentrum umfunktioniert, mit zahllosen Futterstellen, die schon jetzt, im Bauschutt und Lärm, aufblitzen mit ihren poppig bunten Neonreklamen:
überall Trauben von essenden, würsteverschlingenden Menschen, den Koffer bei Fuß und das Gesicht in Papierservietten getaucht, aus denen sie Brocken reißen mit ihren gebleckten Zähnen, und er geht verekelt an Senf-, Fleisch- und Biergerüchen vorbei, in die Eingangshalle, die nicht mehr wiederzuerkennen ist, will schon runter zur U-Bahn, stoppt aber, verursacht einen kleinen Menschenauflauf, bekommt die Kante eines Koffers in die Kniekehle, knickt ein und setzt zu einem Fluch an - aber da ist keiner mehr, den er anschnauzen könnte, und er dreht sich um die eigene Achse, um sich erst mal zu orientieren.
Überall Wachpersonal, Männer mit violetten Käppis, Schlagstöcken, Handschellen und Walkie-talkies am Gürtel, Schäferhunden oder Dobermännern mit Maulkorb kurzgehalten an der Leine, auch grüne Männchen vom Bundesgrenzschutz , und er spürt wieder den Riesenhaß auf diese Schlägertruppenpräsenz, die den Staat und die Bahn-AG ein Vermögen kostet, scheinbar nur dazu da, Penner draußen zu halten oder Typen wie ihn einzuschüchtern: wehe, er macht eine falsche Bewegung - wie soll hier, am bestbewachten Platz der Stadt, überhaupt noch was laufen? Vorbei die Zeiten, als wenigstens noch ein Blick oder Kopfnicken möglich war und man unbemerkt Richtung Ausgang schlendern konnte, wo es immer nach Pisse stank, ein Geruch, der dazugehörte, unangenehm, doch irgendwie geil. Jetzt wird hier alles auf Hochglanz poliert, und Frauen in Kitteln latschen durch die Gänge mit ihren Wischern, fahrbaren Eimern und Kübeln, um jede Kippe gleich verschwinden zu lassen. Vorbei die miefende Schäbigkeit mit dem eisig pfeifenden Wind am Hinterausgang, wo die Jungs frierend auf der Stelle tänzelten und nach einer Mark oder einer Zigarette fragten, worauf er, obwohl Nichtraucher, seine Camels aus der Brusttasche zog, sein Feuerzeug aufflammen ließ, und dieser kurze Moment, da der Typ sich herabbeugte, die Hände schützend ums Feuer gelegt, war der spannendste, der sein Herz kurz zum Stillstand brachte, und dann, nach einem nervösen Luftschnappen, der Sprung ins Wasser: Augenkontakt, knappe Frage oder nur Zucken eines Augenlids, ja oder nein, worauf die Spannung sich entlud im Sichwegdrehen oder Verhandeln - wo findet das heute bloß statt? Und er zieht noch eine Runde in diesem Konsumpalast, wo nicht mal mehr Zeugen Jehovas stehen, den Prospekt in Brusthöhe und mit brennendem Blick in den Pulk der Sünder starrend, nein, Mist, hier kann man sich vollfressen, und das war's dann, und willste mal pinkeln, zahlste ne Mark, fürs Kacken sogar zwei, und er muß dringend, läuft los Richtung U-Bahn, aber halt! Steht da nicht einer und guckt? Ja, wirklich:
lässig lehnt er am Eingang, wo er den besten Überblick hat, und man könnte meinen, er wartet auf einen, mit dem er sich dort verabredet hat, und Luz nähert sich ihm, mit geschulterter Tasche, die ihn wie einen Durchschnittsreisenden aussehen läßt, und der Junge schaut auch nur kurz her, dann wieder weg, zu einem Fetten im Lodenmantel, der da flaniert, als warte er auf seine Zugverbindung, und dann Richtung Stricher schlendert, wobei er höflich einen Wachtrupp mit Köter vorbeiläßt, ehe er zielstrebig auf die Glastür zuhält, wo der Junge sich strafft - Mann, ist der geil, und Luz, den es zwickt und zwackt in der Blase, steigt frustriert die Stufen hinab.
Inhalt
Lauge Stricknadel Blutsturz
Dosenbier Lottchen Wichsen
Damals im Heim
Umzug ins Schülerwohnheim
Wunsch, Märtyrer zu werden
Selbstbetrug
Ein Leidensgenosse
Niedergang
Ein Vorzeigeschwuler
Neurotische Störungen
Rückblende
Im Loch
Aggressionen
Der Gottesmann
Aus der Vorzeit
Schule
Silke
Markus
Überfall
Kalamitäten
Hermann
Ein Freund
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