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Blick in ein Russland jenseits der großen Politik. Reportagen aus drei Jahrzehnten journalistischer Arbeit.
Russland haben die Deutschen im Laufe der Jahrzehnte in vielerlei Gestalt wahrgenommen: als ebenso gefürchteten wie geschundenen Weltkriegsgegner, als kommunistischen Hort des Bösen und als kapitalistisches Tollhaus der Superreichen, als exotisches, weib- und wodkaseliges Sehnsuchtsland. Bei alledem blieb die russische Seele dem Westen rätselhaft. Er hoffe, sang der britische Musiker Sting in seiner Kalter-Kriegs-Ballade "Russians", dass auch die Russen ihre Kinder liebten. Was Wladimir Putin betrifft, so dürfte diese Hoffnung spätestens mit dem Februar 2022 zerstoben sein: Die russischen Kinder, von seinen leiblichen mal abgesehen, sind für ihn höchstens dann von gewissem Interesse, wenn sie schlachtviehtaugliches Alter erreicht haben. Wie aber sieht es bei den anderen Russen aus?
"Jenseits von Putin" haben Gesine Dornblüth und Thomas Franke ihr Buch genannt, welches sich nicht dem Herrscher, sondern seinem Volk widmet. Irgendwann nämlich, schreiben sie, "wird Putin die Macht abgeben", und sei es aus biologischen Gründen. "Die russische Gesellschaft wird bleiben." Und dann wird sie gewiss nicht gleich in den Demokratiemodus umschalten, denn sie ist, wie es im Untertitel des Buches heißt, "toxisch". Mit Gift durchsetzt und damit schädlich für sich und andere.
Die Diagnose des Autorenduos ist durch allerlei Anschauung unterfüttert. Dornblüth und Franke haben als Journalisten einige Jahre in Moskau gelebt und sind immer wieder durch Russland gereist, von den ausgehenden 1980er- und beginnenden 1990er-Jahren, als plötzlich vieles möglich schien, bis in die bleierne Jetztzeit, in der auch die Berichterstattung längst wieder strengen Beschränkungen unterliegt. Sie haben viele Menschen getroffen, von idealistischen Politikern über Soldatenmütter bis zu Nazi-Funktionären, und gesellschaftliche Entwicklungen sich früh abzeichnen sehen: die Zermürbung der Opposition durch zusehends härtere Repressionen, die konzertierte Indoktrination junger Menschen in Schulen und Jugendverbänden, den moralischen Niedergang der orthodoxen Kirche.
Das über gut drei Jahrzehnte zusammengetragene Reportagematerial bildet das Fundament des Buches, es ist dessen große Stärke und bisweilen auch Schwäche. Die Autoren schöpfen aus persönlichen Begegnungen, Gesprächen und auch Freundschaften, die von den politischen Entfremdungen nicht unberührt bleiben. Zugleich werden uns in oft lang zurückliegenden Momentaufnahmen ein ums andere Mal Organisationen, Parteien und Akteure vorgestellt, die in der russischen Gegenwart gar keine Rolle mehr spielen; ein paar mehr Szenen von 2022 oder 2023 hätten es durchaus sein dürfen. Dass ein mit einer Russin verheirateter Ukrainer schon 2015 seine wachsende Beklemmung über den Alltag in einer zusehends feindseligen Umgebung beschreibt, ist hochinteressant; dass man nicht erfährt, wie es mit dem Paar weitergegangen ist und wo die beiden heute leben, ernüchternd.
Am stärksten ist das Buch, wenn es die Schicksale seiner Protagonisten über längere Zeit verfolgt. Den nationalistischen Soldaten Igor Manguschew, der 2022 mit dem vermeintlichen Totenschädel eines ukrainischen Kämpfers protzte und den es mittlerweile selbst erwischt hat, erlebten Dornblüth und Franke schon 2012 als Migrantenjäger, der verschreckte Zentralasiaten aus deren Kellerbehausung abführen ließ. Der Jungpolitiker Ilja Jaschin, mit dem sie 2005 über die Demokratiebewegung sprachen, sitzt 2023 wie so viele andere für lange Jahre im Gefängnis. Mit ihrer alten Freundin Mascha schließlich porträtierten die beiden eine Frau aus dem Volke, die sich vor den Widersprüchen der Gegenwart abschirmt und die Sowjetzeiten verherrlicht.
Dies ist etwas, das Russland unter den Autokratien dieser Welt zu einem besonders schwierigen Fall macht: dass das Land, wie es im Buch heißt, die "Folgen von siebzig Jahren unbewältigter Sowjetherrschaft" mit sich herumschleppt. Deren Zusammenbruch verhieß für viele nicht Freiheit, sondern Verunsicherung und Chaos; was Putin und die Seinen an die Macht brachte, sei die Hoffnung des Volks "auf Stabilität und Wohlstand" gewesen. Seit 2012 habe Putin das Land "zu einem mafiösen Geheimdienstregime umgebaut", einem Regime, welches viele aus den Sowjetjahren vertraute Züge trägt.
Die russische Gesellschaft sei heute verroht und verängstigt und "seit hundert Jahren mit Unterbrechungen Gehirnwäsche ausgesetzt", schreiben die Autoren. Der Krieg in der Ukraine schließlich sei der Bevölkerung gleich, solange er sie nicht persönlich betreffe: "Die Russen sind nicht fanatisch. Sie sind apathisch." Wirkliche Hoffnung lässt sich aus dieser Erkenntnis nicht ziehen. Jörg Thomann
Gesine Dornblüth/ Thomas Franke: Jenseits von Putin. Russlands toxische Gesellschaft.
Herder Verlag, Freiburg 2023. 208 S., 20,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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