Vernon Little sitzt im städtischen Gefängnis von Martirio, der "Barbecuesaucen-Hauptstadt von Texas". Er hat ein ernsthaftes Problem: Sein Kumpel Jesus hat soeben 16 Klassenkameraden ins Jenseits befördert und sich anschließend selbst erschossen. Auf Vernon konzentrieren sich nun die gesamten Rachegelüste der Stadt und die Sensationsgier der Medien. Ausgezeichnet mit dem renommierten Booker-Preis, bejubelt von der Kritik und wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste - eine literarische Sensation. "Wütend wie ein Song von Eminem und witzig wie ein Film von Tarantino." Bayerischer Rundfunk. "Raffinierter und treffsicherer als Michael Moore. Wir schwören, etwas Besseres hat man lange nicht gelesen." AMICA. "Die böseste und beste Satire auf Amerika." Die Welt. "Ein perfektes Buch." Literaturen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2004Durchfall in Texas
Der tumbe Tor lernt von Kant: DBC Pierres Booker-Roman
Die angelsächsische Kultur hat ein Faible für zornige Jungs in der Klemme. Literarisch zieht sich die Linie von Huck Finn über Holden Caulfield bis hin zu aktuellen Lieblingen wie Christopher Boone aus Mark Haddons Roman "Supergute Tage". Kino und Fernsehen sind voll von Verwandten im Geiste: Bart Simpson, Eminem, der kindliche Kinderschreck Ozzy Osbourne - all diese Aussteigertypen prangern in rotzigem "Ihr könnt mich alle mal"-Jargon die verlogene Welt der Erwachsenen an und träumen von einem Dasein am Rande der Zivilisation, wo sie in Ruhe darüber nachdenken können, was sie mit diesem Leben anfangen wollen.
Ähnlich isoliert, genervt und verzweifelt war wohl auch der 1962 in Australien geborene, in Mexiko aufgewachsene und heute in Irland lebende Peter Warren Finlay, als er sich vor knapp vier Jahren hinsetzte, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Das war insofern nötig, als er Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar hatte, sich bei Freunden, die er jahrzehntelang ausgenommen und über den Tisch gezogen hatte, nicht mehr blicken lassen konnte, gegen seine Drogen- und Spielsucht ankämpfen mußte und die Folgen eines Autounfalls zu überwinden hatte. Er gab sich das Pseudonym DBC (für "dirty but clean") Pierre und verfaßte innerhalb von fünf Wochen anfallartig einen Roman, den er anschließend monatelang akribisch überarbeitete. Das Ergebnis, "Jesus von Texas", gewann im Herbst in Großbritannien den mit 50 000 Pfund dotierten Man-Booker-Preis; die Geschichte des geläuterten Autors half beim anschließenden Buchverkauf mindestens so sehr wie die populäre Auszeichnung, und so bekommen nun die Gläubiger ihr Geld und das Publikum gleich zwei tolle Geschichten, und alle könnten erleichtert den Fernseher ausschalten.
Können sie aber nicht. Denn "Jesus von Texas" sucht den Leser heim mit ebenjenen Bildern eines Schulmassakers, wie sie uns in den Abendnachrichten längst nicht mehr nur aus Amerika entgegenflackern. Der Roman erzählt die Geschichte des fünfzehnjährigen Vernon Gregory Little, der just zu dem Zeitpunkt, als sein bester Freund Jesus Navarro erst sechzehn Schulkameraden und dann sich selbst umbringt, ein ganz anderes Problem hat, nämlich akuten Durchfall auf freier Flur. Vernon weiß also von nichts, hat nichts gesehen und nichts geahnt, aber das glaubt ihm natürlich keiner im Kaff Martirio, dieser "Barbecuesaucen-Hauptstadt von Texas". Vernon wird zum Sündenbock gemacht und von den Medien verfolgt, vom Gerichtspsychologen mißbraucht, von seinem Schwarm verraten. Seine einfältige Mutter ist von ihrer Existenz zwischen Fast-food-Kartons, Lockenwicklern und hysterischen Bekannten ohnehin überfordert, und jene, die Vernon entlasten könnten, haben selbst Dreck am Stecken. Und so beginnt Vernon, aus Scham, Naivität, Ratlosigkeit und, man muß es sagen, auch aus einer gewissen eigenen Geistesschlichtheit heraus, verzweifelt und ungemein ungeschickt zu lügen. Er türmt in Richtung gelobtes Land, gen Mexiko, und landet am Ende doch in einer Todeszelle der "Big Brother"-Welt: Jede Woche können Fernsehzuschauer einen Insassen "abwählen", in den Tod schicken. Am Ende siegt nicht die Gerechtigkeit, beim derzeitigen Stand der "Kondischn-Üh-Mähn" (Vernons Version der condition humaine) ohnehin nicht zu haben, sondern eher die irrwitzige Logik der Medien, welche die Rettung in letzter Sekunde Clint-Eastwood-mäßig neu erfunden haben.
Das alles rückt dem Leser in Vernons pubertierender, müffelnder Gestalt - "störrische braune Haare, Wimpern wie von einem Kamel und ein überdimensioniertes Welpengesicht" - und vor allem mit schnoddrigem Tonfall auf den Leib; ein Bewußtseinsstrom, der in seiner wortgewaltig vor sich hin pestenden Unmittelbarkeit manchmal kaum zu ertragen ist. Das Deutsche bleibt zwangsläufig hinter der Drastik des englischen Originals zurück, doch hat Karsten Kredel eine überzeugende Fassung für die Haßtirade gefunden, die nur so strotzt vor amerikanischen Stereotypen. Obszön verfettete, minderbemittelte Hausfrauen, geifernde Reporter und frühreife, mediengeile Teenager: alle wittern die Chance, aus dem Blutbad Karrieren zu zimmern, während Vernon in seiner Unschuld noch vom Neuanfang mit seiner großen Liebe träumt. Die Lehre verkündet ihm denn auch, gerichtsserien- und gospelmäßig folgerichtig, ein verhinderter Priester und Axtmörder auf dem Todesstreifen: Vertrau keiner höheren Macht, sondern nimm das Leben selbst in die Hand und schlag die Mistkerle da draußen mit ihren eigenen Waffen.
DBC Pierres Roman ist eine bösartige, streckenweise brillante, aber eben auch vorhersehbare Mediensatire, die so völlig politisch unkorrekt ist, daß es schon wieder nach übertriebener political correctness gerochen hätte, sie nicht auszuzeichnen. Es gibt wunderbare, irrlichternd komische Momente, etwa wenn Vernon und Jesus über Kant reden: ",Der große Denker, den wir letzte Woche in der Schule hatten.' - ,Der wie ,Manual Cunt' klang?' - ,Ja, der gesagt hat, daß nichts tatsächlich passiert, solange man es nicht passieren sieht.'" Leider aber krankt auch der Roman an jenem philosophischen Fluch, von dem Vernon sich verfolgt fühlt: "Ich sag's euch: Sobald man weiß, was passieren kann, wartet man drauf, daß es passiert." Seiner Erfahrung nach ist das vor allem eines: "Shit happens." Der Leser derweil, anfänglich mitgerissen, gibt das Warten auf große Literatur irgendwann frustriert auf.
DBC Pierre: "Jesus von Texas". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Karsten Kredel. Aufbau-Verlag, Berlin 2004. 383 S., geb., 19,90 [Euro].
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Der tumbe Tor lernt von Kant: DBC Pierres Booker-Roman
Die angelsächsische Kultur hat ein Faible für zornige Jungs in der Klemme. Literarisch zieht sich die Linie von Huck Finn über Holden Caulfield bis hin zu aktuellen Lieblingen wie Christopher Boone aus Mark Haddons Roman "Supergute Tage". Kino und Fernsehen sind voll von Verwandten im Geiste: Bart Simpson, Eminem, der kindliche Kinderschreck Ozzy Osbourne - all diese Aussteigertypen prangern in rotzigem "Ihr könnt mich alle mal"-Jargon die verlogene Welt der Erwachsenen an und träumen von einem Dasein am Rande der Zivilisation, wo sie in Ruhe darüber nachdenken können, was sie mit diesem Leben anfangen wollen.
Ähnlich isoliert, genervt und verzweifelt war wohl auch der 1962 in Australien geborene, in Mexiko aufgewachsene und heute in Irland lebende Peter Warren Finlay, als er sich vor knapp vier Jahren hinsetzte, um sein Leben in den Griff zu bekommen. Das war insofern nötig, als er Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar hatte, sich bei Freunden, die er jahrzehntelang ausgenommen und über den Tisch gezogen hatte, nicht mehr blicken lassen konnte, gegen seine Drogen- und Spielsucht ankämpfen mußte und die Folgen eines Autounfalls zu überwinden hatte. Er gab sich das Pseudonym DBC (für "dirty but clean") Pierre und verfaßte innerhalb von fünf Wochen anfallartig einen Roman, den er anschließend monatelang akribisch überarbeitete. Das Ergebnis, "Jesus von Texas", gewann im Herbst in Großbritannien den mit 50 000 Pfund dotierten Man-Booker-Preis; die Geschichte des geläuterten Autors half beim anschließenden Buchverkauf mindestens so sehr wie die populäre Auszeichnung, und so bekommen nun die Gläubiger ihr Geld und das Publikum gleich zwei tolle Geschichten, und alle könnten erleichtert den Fernseher ausschalten.
Können sie aber nicht. Denn "Jesus von Texas" sucht den Leser heim mit ebenjenen Bildern eines Schulmassakers, wie sie uns in den Abendnachrichten längst nicht mehr nur aus Amerika entgegenflackern. Der Roman erzählt die Geschichte des fünfzehnjährigen Vernon Gregory Little, der just zu dem Zeitpunkt, als sein bester Freund Jesus Navarro erst sechzehn Schulkameraden und dann sich selbst umbringt, ein ganz anderes Problem hat, nämlich akuten Durchfall auf freier Flur. Vernon weiß also von nichts, hat nichts gesehen und nichts geahnt, aber das glaubt ihm natürlich keiner im Kaff Martirio, dieser "Barbecuesaucen-Hauptstadt von Texas". Vernon wird zum Sündenbock gemacht und von den Medien verfolgt, vom Gerichtspsychologen mißbraucht, von seinem Schwarm verraten. Seine einfältige Mutter ist von ihrer Existenz zwischen Fast-food-Kartons, Lockenwicklern und hysterischen Bekannten ohnehin überfordert, und jene, die Vernon entlasten könnten, haben selbst Dreck am Stecken. Und so beginnt Vernon, aus Scham, Naivität, Ratlosigkeit und, man muß es sagen, auch aus einer gewissen eigenen Geistesschlichtheit heraus, verzweifelt und ungemein ungeschickt zu lügen. Er türmt in Richtung gelobtes Land, gen Mexiko, und landet am Ende doch in einer Todeszelle der "Big Brother"-Welt: Jede Woche können Fernsehzuschauer einen Insassen "abwählen", in den Tod schicken. Am Ende siegt nicht die Gerechtigkeit, beim derzeitigen Stand der "Kondischn-Üh-Mähn" (Vernons Version der condition humaine) ohnehin nicht zu haben, sondern eher die irrwitzige Logik der Medien, welche die Rettung in letzter Sekunde Clint-Eastwood-mäßig neu erfunden haben.
Das alles rückt dem Leser in Vernons pubertierender, müffelnder Gestalt - "störrische braune Haare, Wimpern wie von einem Kamel und ein überdimensioniertes Welpengesicht" - und vor allem mit schnoddrigem Tonfall auf den Leib; ein Bewußtseinsstrom, der in seiner wortgewaltig vor sich hin pestenden Unmittelbarkeit manchmal kaum zu ertragen ist. Das Deutsche bleibt zwangsläufig hinter der Drastik des englischen Originals zurück, doch hat Karsten Kredel eine überzeugende Fassung für die Haßtirade gefunden, die nur so strotzt vor amerikanischen Stereotypen. Obszön verfettete, minderbemittelte Hausfrauen, geifernde Reporter und frühreife, mediengeile Teenager: alle wittern die Chance, aus dem Blutbad Karrieren zu zimmern, während Vernon in seiner Unschuld noch vom Neuanfang mit seiner großen Liebe träumt. Die Lehre verkündet ihm denn auch, gerichtsserien- und gospelmäßig folgerichtig, ein verhinderter Priester und Axtmörder auf dem Todesstreifen: Vertrau keiner höheren Macht, sondern nimm das Leben selbst in die Hand und schlag die Mistkerle da draußen mit ihren eigenen Waffen.
DBC Pierres Roman ist eine bösartige, streckenweise brillante, aber eben auch vorhersehbare Mediensatire, die so völlig politisch unkorrekt ist, daß es schon wieder nach übertriebener political correctness gerochen hätte, sie nicht auszuzeichnen. Es gibt wunderbare, irrlichternd komische Momente, etwa wenn Vernon und Jesus über Kant reden: ",Der große Denker, den wir letzte Woche in der Schule hatten.' - ,Der wie ,Manual Cunt' klang?' - ,Ja, der gesagt hat, daß nichts tatsächlich passiert, solange man es nicht passieren sieht.'" Leider aber krankt auch der Roman an jenem philosophischen Fluch, von dem Vernon sich verfolgt fühlt: "Ich sag's euch: Sobald man weiß, was passieren kann, wartet man drauf, daß es passiert." Seiner Erfahrung nach ist das vor allem eines: "Shit happens." Der Leser derweil, anfänglich mitgerissen, gibt das Warten auf große Literatur irgendwann frustriert auf.
DBC Pierre: "Jesus von Texas". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Karsten Kredel. Aufbau-Verlag, Berlin 2004. 383 S., geb., 19,90 [Euro].
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»Die perfekte Mischung aus Tarantinos Trash und Eminems Wut. « NEON 20050908