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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Den Bestand sichern: Jürgen Beckers Journalroman "Jetzt die Gegend damals"
Als Jürgen Becker im vergangenen Jahr den Büchner-Preis erhielt, eröffnete er seine Dankesrede mit einer Episode aus den fünfziger Jahren. Sie handelte von Jörn und Nora, die auf ihrer Tramp-Reise von einem belgischen Ehepaar in einem französischen Dorf in ein Café eingeladen werden: "Bevor sie hineingingen, bat Monsieur die beiden jungen Deutschen, jetzt nicht mehr deutsch zu sprechen, es gebe in der Gegend hier noch ein paar ungute Erinnerungen."
Dies ist offenbar eine Schlüsselszene für Beckers neues Buch "Jetzt die Gegend damals": nicht bloß der Augenblick politisch-historischer Erkenntnis, sondern auch, wie Becker betont, der Moment, in dem er seine Unbefangenheit, seine sprachliche Unschuld verloren hat. Jörn und Nora sind die Protagonisten, denen er die eigene Erfahrung zuschreibt.
Solche Übertragungen gehören zur Regel dessen, was Becker einen "Journalroman" nennt. "Jetzt die Gegend damals" ist bereits sein dritter. Der Verfasser teilt sich Erfahrung wie Tagebucharbeit mit einem fingierten Koautor, eben seinem Jörn Winter. Das bringt den Vorzug der zweiten Perspektive. Man kann auch à la Rimbaud sagen: Ich ist ein anderer. Becker ist Winter, und trotzdem reklamiert er seinem Jörn ausdrücklich eine eigenständige Identität.
Man kennt diesen Jörn Winter aus Beckers letztem Journalroman "Schnee in den Ardennen" (2003), wo der Name trefflich zu Stoff und Titel passte. Dort war Winter eine Nebenfigur, ein Zuträger von Nachrichten. Im neuen Buch avanciert er zum hauptamtlichen Doppelgänger. Mühelos könnte man den Buchtitel als Schreibanweisung, ja als Imperativ auffassen: "Jetzt die Gegend damals". Im Jetzt des Journals wird die Welt von damals aufgerufen, ein Erzählraum, die dem Jürgen-Becker-Leser vertraut ist. Also die Kölner Bucht, nämlich Köln und Odenthal, wo Becker seit vielen Jahren lebt. Von hier erkunden Beobachtungen, Berichte und Einfälle die Tiefe der dreißiger Jahre und die Aktualität der deutsch-deutschen Geschichte. Über all dem könnte ein Satz aus einem älteren Bändchen mit Journalgeschichten stehen: "Nie hört die Nachkriegszeit auf, so viele können das gar nicht mehr sagen." Jürgen Becker vom schon gelichteten Jahrgang 1932 kann es.
Jörn Winter hat Anfang der fünfziger Jahre als Oberprimaner ein Theaterstück geschrieben: "Das Haus mit den zwei Türen". Darin ging es um "Vorgänge in der Küche eines Bauernhauses, das geteilt war vom Verlauf der Zonengrenze; links zur Küchentür ging es hinaus zum Hof im Osten; rechts die Küchentür hinaus, und man stand auf der Straße im Westen." Dieser Plot - ob nun referiert oder erfunden - wird in einigen Details ausgeführt, so dass in der überdeutlichen Allegorie etwas vom damaligen Zeitgeist aufscheint.
Mehr als vom Ost-West-Konflikt war das Bewusstsein jener Zeit von den Relikten des kaum überstandenen Krieges bestimmt, von Schuldanerkennung und Schuldverdrängung. Jörn erinnert sich (ähnlich wie Karl Heinz Bohrer in seinem Erinnerungsbuch "Granatsplitter") an die Flak- und Bombensplitter, wie sie jeder Junge damals sammelte. Ja, er stellt sie in einen überraschenden Kulturzusammenhang, wenn er auf der zweiten Documenta in Kassel die ersten abstrakten Skulpturen sieht: "Jörn hatte zwar den Bescheid mitbekommen, daß abstrakte Kunst anekdotische Bedeutungen nicht zulasse, aber er hielt sich nicht daran." Poetischer als solche Reflexionen sind die vielen Erinnerungspartikel, die manchmal als Epiphanien aufleuchten. So in den wenigen Worten, die ein Prosa-Kurzgedicht ergeben: "Wenn ein Sonnenstrahl darauf fiel, glitzerten die winzigen Glassplitter, die nach der Bombennacht noch in den Türen des Küchenschranks steckten."
Der Journalroman ist auch ein Alltagsjournal, bei dem man vergessen kann, wer es führt; und auch, mit welcher historisch-gesellschaftlichen Intention: "Alles eng und quer im Gehöft, und weil das Sofa durch die Tür nicht paßte, hievten wir es durchs Fenster." Solche Alltäglichkeiten durchziehen unauffällig den Text, quasi als Füllmaterial, das kaschiert, wie stark das historische Motiv das Innerste bestimmt. Denn der Beobachter, der hier am Werk ist, wird nicht müde, nach den Spuren der Vergangenheit zu suchen. So registriert er die überwachsenen Bombentrichter, von denen er annimmt, dass sie spätere Archäologen interessieren. Und anlässlich der Entschärfung eines Blindgängers vermutet er gar, derlei werde Arbeitsplätze für eine ewig lange Zukunft sichern. Eine Übertreibung, die auf die riskante Pointe hinausläuft: "Der Bombenkrieg hat nicht aufgehört."
Nicht aufgehört hat jedenfalls Beckers Beschäftigung mit dem Komplex Erinnerung, seine Suche nach einer immer neu zu rekonstruierenden Zeit. Davon zeugt (selbst in seinen Schwächen) das neue Journalbuch. Für die Erinnerung an die Gegend von damals gibt es keine leere Wiederholung. Auf die Frage, ob ihm denn nichts Neues einfalle, lässt Becker seinen Protagonisten antworten: "Es geht nicht um Neues, sagt Jörn, es geht darum, den Bestand zu sichern. Was ist noch vorhanden, was ist vielleicht vorhanden, was ist vielleicht hinzugekommen, was weiß ich noch, was ist weg."
Das ist ein Bekenntnis Jörn Winters. Sollte es auch das Bekenntnis Jürgen Beckers sein, dann ist es diskret plaziert. Aber so kennen wir Becker. So mögen wir ihn.
HARALD HARTUNG
Jürgen Becker: "Jetzt
die Gegend damals".
Journalroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 162 S., geb., 19,95 [Euro].
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