"Martin Simons hat den Bericht eines Jahres geschrieben, das mit einer Blutung im Kopf beginnt und mit einem geheilten Herzen endet. Dazwischen liegt fast ein ganzes Leben." Dirk von Lowtzow. An einem grauen Dezembernachmittag entgleitet Martin Simons mitten auf der Straße die Kontrolle über seinen Körper. Statt Weihnachten mit seiner jungen Familie zu verbringen, findet er sich auf der Intensivstation eines Krankenhauses wieder: Jederzeit kann der Finger aus Blut auf seinem Ausschalter, wie eine Ärztin es formuliert, sein Leben beenden. Während die Ärzte nach Gründen für die Hirnblutung suchen, geraten die inneren Kontinente des Erzählers in Bewegung. Der Beginn einer persönlichen Wandlung. In poetischer Dichte und großer Klarheit erzählt Martin Simons vom menschlichen Ausnahmezustand.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.10.2019Mensch, vom Ende her gesehen
Größenwahn und Selbsterkenntnis: Jostein Gaarder und Martin Simons bringen ihre Erzähler in
Todesnähe. Bezeichnend, wie unterschiedlich sie sich zur ihrer Endlichkeit verhalten
VON BURKHARD MÜLLER
Zwei Bücher, zwei Männer, ein Problem. Das Problem ist der Tod. Beide Männer sind nicht mehr jung, in den Sechzigern der eine, Mitte 40 der andere; und beide werden, nachdem sie die ersten Molesten nach Männerart abgetan hatten, damit konfrontiert, dass ihnen eine lebensbedrohliche Krankheit ins Haus steht.
Jostein Gaarder und Martin Simons haben bestimmt nichts voneinander gewusst, als sie ihre Bücher schrieben. Und doch gleicht sich die Situation, von der sie ausgehen, auf fast gespenstische Weise: Die Erzähler (sie sagen beide „Ich“) sind glücklich verheiratet, haben je ein Kind, scheinen gemütlich in ihrem Leben eingehaust – und plötzlich gehorchen ihnen die Muskeln der Hand nicht mehr.
Der Norweger Jostein Gaarder verdankt seinen Ruhm einem Buch, das vor einem Vierteljahrhundert erschien und ein Weltbestseller wurde: „Sofies Welt“. Darin hatte er es unternommen, als Briefschreiber Alberto Knox einem 14-jährigen Mädchen die Geheimnisse der Philosophie zu erklären. Es wurde in 65 Sprachen übersetzt und 40 Millionen mal verkauft. Jetzt versucht er in „Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, den großen philosophischen Fragen die Dringlichkeit der Todesnähe zu verschaffen. Es resultiert daraus ein eigentümlicher Zwitter aus Roman und Essay.
Albert (offenbar ein Nachfahr Albertos), seines Zeichens Lehrer für Englisch und Geschichte, hat die Diagnose ALS erhalten, Amyotrophische Lateralsklerose. Sie ist die wölfische Schwester der vergleichsweise milden MS. Wie diese setzt sie bei der Schnittstelle von Nerven und Muskeln an und führt zu lähmungsartigen Ausfallserscheinungen; der Tod tritt durch Atemstillstand ein. Zwischen ersten Symptomen und Exitus liegen im Schnitt 18 Monate; und es gibt bis heute nichts, was diese im Galopp voranschreitende Krankheit stoppen oder auch nur verlangsamen könnte.
Damit muss Albert umgehen. Er zieht sich allein auf die Hütte der Familie zurück, irgendwo in den menschenleeren Bergen Norwegens an einem See gelegen, während seine Frau Eirin, Süßwasserbiologin, an einem Kongress in Australien teilnimmt. Die Hütte war ihr Paradies gewesen; sie waren in ihrer ersten Verliebtheit als knapp Zwanzigjährige dort aufs Geratewohl eingebrochen, hatten sich durch alle verfügbaren Betten geliebt und Jahre später das Anwesen käuflich erworben. Albert setzt sich die Frist von 24 Stunden, um einen Rechenschaftsbericht seines Lebens zu verfassen – und dann?
Dann wäre es wohl das Beste, auf den schon herbstkalten See hinauszurudern, die Taschen des Mantels mit Äxten und anderem schweren Eisengerät befüllt, und sang- und klanglos über Bord zu gehen, ohne die Angehörigen mit dem eigenen elenden Ende zu belasten. Er träumt diesen Sprung in beklemmender Intensität, der Leser muss es für Wirklichkeit halten – da wacht er auf, ohne dass sich ansonsten irgendwas geändert hätte.
Bis hierhin besitzt das Buch durchaus novellistische Qualitäten: Es berichtet von einem besonderen einzelnen Ereignis. Aber nicht ein solches hat der Autor im Sinn. Sondern er mutet es seinem Protagonisten zu, sterbend die Wahrheit über das Allgemeine zu ergründen. „Vielleicht mache ich mir meine Gedanken stellvertretend für die gesamte Menschheit.“
Das muss man nun doch als einen ziemlich flauen Trick bezeichnen. Der Held stirbt; sein Autor aber lebt fröhlich weiter und borgt sich von ihm die Autorität des Moribundus. „Ich werde nichts Geringeres als in den eigentlichen Kern des Lebensmysteriums vordringen“ – wer würde es wagen, den letzten Worten eines Sterbenden zu widersprechen? „Was ist ein Mensch? Das war die Frage“, drunter tut es Albert nicht, und Gaarder entfaltet die (nicht mehr ganz taufrische) These, alle Umstände und Konstanten des Kosmos, alle physischen und chemischen Gesetze hätten sich sozusagen verschworen, um den Menschen hervorzubringen. So kann man ihn als Krone der Schöpfung retten, ohne einen Schöpfergott bemühen zu müssen.
Das ist, gelinde gesagt, Größenwahn, wenn man den Maßstab des Weltalls in Relation zum Lebensraum des Menschen setzt. Es ist auch nicht besonders erleuchtet, denn hier findet offenbar eine Verkehrung von Ursache und Wirkung statt. Ebenso gut könnte die Pfütze darüber jubeln, dass die Unebenheiten ihres Untergrunds so beschaffen sind, dass sie, die Pfütze, haargenau hineinpasst. So sinnreich ist die Welt beschaffen! „Obwohl ‚sinnreich‘ vielleicht eine tendenziöse Wortwahl ist, denn sie unterstellt beinahe, dass es hinter den physikalischen Gesetzen eine ‚sinnvolle‘ Instanz gibt, einen intelligenten ,Designer‘ hinter allem.“ In einem Satz erscheinen hier dreimal die Anführungszeichen des uneigentlichen Ausdrucks, die zu erkennen geben, dass der Verfasser sich die Anstrengung des rechten Begriffs erspart hat: Das sollte man sich als Leser wirklich nicht bieten lassen.
Nach diesem anmaßenden Stück Edelkitsch ist man vorab dankbar für ein Buch, das nur den konkreten, nämlich den persönlichen Fall verhandelt, ohne ihn als Sprungbrett für Exkurse zum erhabenen Sternenhimmel zu missbrauchen. Martin Simons heißt der Autor, Martin der Ich-Erzähler; Martins Frau heißt Teresa, Teresa ist das Buch gewidmet: die Differenz der beiden Ebenen ist offenbar gering.
Martin, ein Schriftsteller, der zu kämpfen hat wie sein Erfinder, erleidet beim Meditieren etwas, das sich später als lebensbedrohliche Hirnblutung erweist, obwohl es vorerst nur den Bewegungsapparat der Hand betrifft. Meditieren ist gefährlicher als man denkt. Er wird in die Stroke Unit des Krankenhauses eingeliefert, fühlt sich dort frustriert von der übermüdeten Routine des Personals, gereizt von den Eigenheiten seiner Mitpatienten, die mit erheblicher Geruchsentwicklung rauchen und scheißen, und begreift das heitere Interesse, das der Chefarzt an ihm, dem unerwartet komplexen Fall, nimmt, als Aasgeierei (wohl nicht ganz zu Unrecht).
Martin ist kein starker und eigentlich auch kein sympathischer Charakter; das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Albert, den wir nach dem Willen seines Autors bewundern sollen. Simons hat ein Foto von sich über den Klappentext gesetzt, auf dem er aussieht wie Harald Schmidt in seinen besten und ätzendsten Zeiten: So will er sich der Welt präsentieren.
Martin ist zudem, was er ausdrücklich thematisiert, ein schwacher Schriftsteller. Das ist natürlich auch ein Trick; aber jedenfalls einer, bei dem man, anders als bei Gaarder, gespannt ist, was er draus macht. „Worauf kam es mir wirklich an? Ich hatte aus Liebe geheiratet, ein Wunschkind gezeugt, aber mit dem Schreiben – ich hatte es lange für das Wichtigste gehalten – war ich aus Unernst, Feigheit oder mangelnder Veranlagung nie zu jener tiefer gehenden Kreativität gelangt, die als Einzige zählte.“ Indem er es zugibt, hat er es irgendwie hinter sich gelassen. Den eigenen Unernst einzuräumen, ist eine ernste Sache, von der eigenen Feigheit zu sprechen, erfordert Mut.
Die mangelnde Veranlagung – ein großer Stilist wird aus Martin/ Simons vermutlich nicht mehr werden. Aber das Mittelmäßige seines Duktus passt zum Unpathetischen dieses Auftritts: dem eines Menschen, dem in seinem Leben noch nichts wirklich Schlimmes passiert ist, etwas Außergewöhnliches freilich auch nicht, der auch seinen Lieben gegenüber zu einer gewissen Kälte neigt und von dem bald klar ist, dass er seinen Schlaganfall wohl mehr oder weniger heil überstehen wird.
Ein paar Ausrutscher gibt es, etwa wenn er Hölderlin oder Rilke zitiert oder davon spricht, die Zeit im Krankenhaus erscheine ihm wie ein Wandeln auf dunklem Pfad; aber insgesamt schreibt Simons mit bemerkenswerter Konsistenz. Man glaubt diesem Erzähler seine Gefasstheit am Rande des Todes, gerade weil er daraus kein Drama macht, sondern dem Leser das deutliche Gefühl vermittelt, letztlich habe solche Gemütsruhe ihren Grund in einer gewissen Fantasielosigkeit (denn für Todesangst braucht man Fantasie). Nein, ein großes Buch ist bei „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ nicht herausgekommen; aber doch das ehrliche Buch einer kleinen Seele, und damit bedeutend mehr als bei dem prätentiösen Gaarder.
Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2019. 125 Seiten, 16 Euro.
Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 186 Seiten, 20 Euro.
Dem Protagonisten wird
zugemutet, sterbend die Wahrheit
über das Allgemeine zu ergründen
Den eigenen Unernst einräumen
ist eine ernste Sache, von
Feigheit sprechen erfordert Mut
Martin Simons’ (links) Hauptfigur erklärt sich selbst zu einem schwachen Schriftsteller. Jostein Gaarder ist Bestsellerautor.
Fotos: Jan Friese ; Jens Kalaene / picture alliance
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Größenwahn und Selbsterkenntnis: Jostein Gaarder und Martin Simons bringen ihre Erzähler in
Todesnähe. Bezeichnend, wie unterschiedlich sie sich zur ihrer Endlichkeit verhalten
VON BURKHARD MÜLLER
Zwei Bücher, zwei Männer, ein Problem. Das Problem ist der Tod. Beide Männer sind nicht mehr jung, in den Sechzigern der eine, Mitte 40 der andere; und beide werden, nachdem sie die ersten Molesten nach Männerart abgetan hatten, damit konfrontiert, dass ihnen eine lebensbedrohliche Krankheit ins Haus steht.
Jostein Gaarder und Martin Simons haben bestimmt nichts voneinander gewusst, als sie ihre Bücher schrieben. Und doch gleicht sich die Situation, von der sie ausgehen, auf fast gespenstische Weise: Die Erzähler (sie sagen beide „Ich“) sind glücklich verheiratet, haben je ein Kind, scheinen gemütlich in ihrem Leben eingehaust – und plötzlich gehorchen ihnen die Muskeln der Hand nicht mehr.
Der Norweger Jostein Gaarder verdankt seinen Ruhm einem Buch, das vor einem Vierteljahrhundert erschien und ein Weltbestseller wurde: „Sofies Welt“. Darin hatte er es unternommen, als Briefschreiber Alberto Knox einem 14-jährigen Mädchen die Geheimnisse der Philosophie zu erklären. Es wurde in 65 Sprachen übersetzt und 40 Millionen mal verkauft. Jetzt versucht er in „Genau richtig – Die kurze Geschichte einer langen Nacht“, den großen philosophischen Fragen die Dringlichkeit der Todesnähe zu verschaffen. Es resultiert daraus ein eigentümlicher Zwitter aus Roman und Essay.
Albert (offenbar ein Nachfahr Albertos), seines Zeichens Lehrer für Englisch und Geschichte, hat die Diagnose ALS erhalten, Amyotrophische Lateralsklerose. Sie ist die wölfische Schwester der vergleichsweise milden MS. Wie diese setzt sie bei der Schnittstelle von Nerven und Muskeln an und führt zu lähmungsartigen Ausfallserscheinungen; der Tod tritt durch Atemstillstand ein. Zwischen ersten Symptomen und Exitus liegen im Schnitt 18 Monate; und es gibt bis heute nichts, was diese im Galopp voranschreitende Krankheit stoppen oder auch nur verlangsamen könnte.
Damit muss Albert umgehen. Er zieht sich allein auf die Hütte der Familie zurück, irgendwo in den menschenleeren Bergen Norwegens an einem See gelegen, während seine Frau Eirin, Süßwasserbiologin, an einem Kongress in Australien teilnimmt. Die Hütte war ihr Paradies gewesen; sie waren in ihrer ersten Verliebtheit als knapp Zwanzigjährige dort aufs Geratewohl eingebrochen, hatten sich durch alle verfügbaren Betten geliebt und Jahre später das Anwesen käuflich erworben. Albert setzt sich die Frist von 24 Stunden, um einen Rechenschaftsbericht seines Lebens zu verfassen – und dann?
Dann wäre es wohl das Beste, auf den schon herbstkalten See hinauszurudern, die Taschen des Mantels mit Äxten und anderem schweren Eisengerät befüllt, und sang- und klanglos über Bord zu gehen, ohne die Angehörigen mit dem eigenen elenden Ende zu belasten. Er träumt diesen Sprung in beklemmender Intensität, der Leser muss es für Wirklichkeit halten – da wacht er auf, ohne dass sich ansonsten irgendwas geändert hätte.
Bis hierhin besitzt das Buch durchaus novellistische Qualitäten: Es berichtet von einem besonderen einzelnen Ereignis. Aber nicht ein solches hat der Autor im Sinn. Sondern er mutet es seinem Protagonisten zu, sterbend die Wahrheit über das Allgemeine zu ergründen. „Vielleicht mache ich mir meine Gedanken stellvertretend für die gesamte Menschheit.“
Das muss man nun doch als einen ziemlich flauen Trick bezeichnen. Der Held stirbt; sein Autor aber lebt fröhlich weiter und borgt sich von ihm die Autorität des Moribundus. „Ich werde nichts Geringeres als in den eigentlichen Kern des Lebensmysteriums vordringen“ – wer würde es wagen, den letzten Worten eines Sterbenden zu widersprechen? „Was ist ein Mensch? Das war die Frage“, drunter tut es Albert nicht, und Gaarder entfaltet die (nicht mehr ganz taufrische) These, alle Umstände und Konstanten des Kosmos, alle physischen und chemischen Gesetze hätten sich sozusagen verschworen, um den Menschen hervorzubringen. So kann man ihn als Krone der Schöpfung retten, ohne einen Schöpfergott bemühen zu müssen.
Das ist, gelinde gesagt, Größenwahn, wenn man den Maßstab des Weltalls in Relation zum Lebensraum des Menschen setzt. Es ist auch nicht besonders erleuchtet, denn hier findet offenbar eine Verkehrung von Ursache und Wirkung statt. Ebenso gut könnte die Pfütze darüber jubeln, dass die Unebenheiten ihres Untergrunds so beschaffen sind, dass sie, die Pfütze, haargenau hineinpasst. So sinnreich ist die Welt beschaffen! „Obwohl ‚sinnreich‘ vielleicht eine tendenziöse Wortwahl ist, denn sie unterstellt beinahe, dass es hinter den physikalischen Gesetzen eine ‚sinnvolle‘ Instanz gibt, einen intelligenten ,Designer‘ hinter allem.“ In einem Satz erscheinen hier dreimal die Anführungszeichen des uneigentlichen Ausdrucks, die zu erkennen geben, dass der Verfasser sich die Anstrengung des rechten Begriffs erspart hat: Das sollte man sich als Leser wirklich nicht bieten lassen.
Nach diesem anmaßenden Stück Edelkitsch ist man vorab dankbar für ein Buch, das nur den konkreten, nämlich den persönlichen Fall verhandelt, ohne ihn als Sprungbrett für Exkurse zum erhabenen Sternenhimmel zu missbrauchen. Martin Simons heißt der Autor, Martin der Ich-Erzähler; Martins Frau heißt Teresa, Teresa ist das Buch gewidmet: die Differenz der beiden Ebenen ist offenbar gering.
Martin, ein Schriftsteller, der zu kämpfen hat wie sein Erfinder, erleidet beim Meditieren etwas, das sich später als lebensbedrohliche Hirnblutung erweist, obwohl es vorerst nur den Bewegungsapparat der Hand betrifft. Meditieren ist gefährlicher als man denkt. Er wird in die Stroke Unit des Krankenhauses eingeliefert, fühlt sich dort frustriert von der übermüdeten Routine des Personals, gereizt von den Eigenheiten seiner Mitpatienten, die mit erheblicher Geruchsentwicklung rauchen und scheißen, und begreift das heitere Interesse, das der Chefarzt an ihm, dem unerwartet komplexen Fall, nimmt, als Aasgeierei (wohl nicht ganz zu Unrecht).
Martin ist kein starker und eigentlich auch kein sympathischer Charakter; das unterscheidet ihn zu seinem Vorteil von Albert, den wir nach dem Willen seines Autors bewundern sollen. Simons hat ein Foto von sich über den Klappentext gesetzt, auf dem er aussieht wie Harald Schmidt in seinen besten und ätzendsten Zeiten: So will er sich der Welt präsentieren.
Martin ist zudem, was er ausdrücklich thematisiert, ein schwacher Schriftsteller. Das ist natürlich auch ein Trick; aber jedenfalls einer, bei dem man, anders als bei Gaarder, gespannt ist, was er draus macht. „Worauf kam es mir wirklich an? Ich hatte aus Liebe geheiratet, ein Wunschkind gezeugt, aber mit dem Schreiben – ich hatte es lange für das Wichtigste gehalten – war ich aus Unernst, Feigheit oder mangelnder Veranlagung nie zu jener tiefer gehenden Kreativität gelangt, die als Einzige zählte.“ Indem er es zugibt, hat er es irgendwie hinter sich gelassen. Den eigenen Unernst einzuräumen, ist eine ernste Sache, von der eigenen Feigheit zu sprechen, erfordert Mut.
Die mangelnde Veranlagung – ein großer Stilist wird aus Martin/ Simons vermutlich nicht mehr werden. Aber das Mittelmäßige seines Duktus passt zum Unpathetischen dieses Auftritts: dem eines Menschen, dem in seinem Leben noch nichts wirklich Schlimmes passiert ist, etwas Außergewöhnliches freilich auch nicht, der auch seinen Lieben gegenüber zu einer gewissen Kälte neigt und von dem bald klar ist, dass er seinen Schlaganfall wohl mehr oder weniger heil überstehen wird.
Ein paar Ausrutscher gibt es, etwa wenn er Hölderlin oder Rilke zitiert oder davon spricht, die Zeit im Krankenhaus erscheine ihm wie ein Wandeln auf dunklem Pfad; aber insgesamt schreibt Simons mit bemerkenswerter Konsistenz. Man glaubt diesem Erzähler seine Gefasstheit am Rande des Todes, gerade weil er daraus kein Drama macht, sondern dem Leser das deutliche Gefühl vermittelt, letztlich habe solche Gemütsruhe ihren Grund in einer gewissen Fantasielosigkeit (denn für Todesangst braucht man Fantasie). Nein, ein großes Buch ist bei „Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon“ nicht herausgekommen; aber doch das ehrliche Buch einer kleinen Seele, und damit bedeutend mehr als bei dem prätentiösen Gaarder.
Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Hanser Verlag, München 2019. 125 Seiten, 16 Euro.
Martin Simons: Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 186 Seiten, 20 Euro.
Dem Protagonisten wird
zugemutet, sterbend die Wahrheit
über das Allgemeine zu ergründen
Den eigenen Unernst einräumen
ist eine ernste Sache, von
Feigheit sprechen erfordert Mut
Martin Simons’ (links) Hauptfigur erklärt sich selbst zu einem schwachen Schriftsteller. Jostein Gaarder ist Bestsellerautor.
Fotos: Jan Friese ; Jens Kalaene / picture alliance
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2019Kalt, nicht sprachlos
Martin Simons erzählt von der Nähe zum Tod
Die Beispiele für große Krankheitsschilderungen in der jüngeren deutschen Literatur sind zahlreich: Beginnend mit Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil" im Jahr 2011, kam etwa eine ganze Reihe von meist auf die eigenen Eltern bezogenen Demenzschicksalen auf den Markt, erst kürzlich noch einmal bereichert um David Wagners "Der vergessliche Riese" (F.A.Z. vom 5. September). Beide Bücher kamen bezeichnenderweise ohne Gattungsbezeichnungen heraus, denn zu erkennbar hatte das jeweils eigene Erlebnis Geiger und Wagner den Stift geführt: Namen, Orte, Familienkonstellationen - Realität und Buchinhalte deckten sich eins zu eins, und so verhielt es sich auch mit einem anderen Buch von David Wagner, das bereits 2013 erschienen war und einen profanen, aber umso pathetischeren Titel trug, der über allen literarischen Erfahrungsberichten der Vergänglichkeit stehen könnte: "Leben".
Aus dem Amerikanischen ist für solche Erfahrungsberichte der Neologismus "Memoir" zu uns herübergeschwappt, aber so richtig wagen die deutschsprachigen Verlage sich doch noch nicht an ihn heran, wohl wegen der Verwechslungsgefahr mit der eingeführten, aber altertümlich klingenden und deshalb kaum noch verwendeten Gattungsbezeichnung "Memoiren". In denen geht es ja auch stets ums pralle Leben, im Memoir dagegen meist um Todesnähe.
Nun hat auch Martin Simons einen solchen Erfahrungsbericht geschrieben, dessen Titel "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" die Vergänglichkeit überdeutlich anspricht. Das Buch erzählt aus der Ich-Perspektive von einem in jedem erwähnten und nachprüfbaren Detail (Alter, Name, Beruf, Wohnort, Familienverhältnisse) mit dem Autor identischen Mann, der kurz vor Weihnachten 2017 mit einer akuten Blutung im Gehirn in ein Berliner Spital eingeliefert wird und dort einige Monate verbleibt. Der Bericht ist mit 186 Seiten schmal, aber unterteilt in insgesamt fünfzig Kapitel, und diese vielfache Unterbrechung macht die einzelnen Abschnitte nur noch dringlicher: Es ist, als erzählte da jemand mit extrem kurzer Konzentrationsspanne, aber höchster Intensität. Wie ein Fiebernder, könnte man meinen, doch der dokumentierende Blick ist klar und kühl, und das bei allen seinen Beobachtungen - egal, ob es um die Möglichkeit des eigenen Todes in der nächsten Minute geht oder um den Alltag im Krankenhaus. Diese Perspektive vermittelt eine Anschaulichkeit, die in jeder Zeile Realität beschwört. Und trotzdem ist das Buch als Roman ausgewiesen.
Warum? Weil es in den Augen des Verlags literarisch nichts zur Sache tat, ob dieser Ich-Erzähler mit seinem Autor identisch ist. Damit hat er recht. Und mutmaßlich ist ein Roman für den Großteil des Lesepublikums immer noch verlockender als ein Erlebnisbericht - Belletristik macht gegenüber Sachbüchern den weitaus größeren Teil am Umsatz im deutschsprachigen Buchhandel aus. Doch auf welche Weise liest man in einem Roman eine Passage wie die folgende, die die Wartesituation des Patienten vor einer entscheidenden Untersuchung beschreibt? "Ich blickte aus dem Fenster. Es wäre naheliegend gewesen, zur Zerstreuung ein Buch oder mein Telefon in die Hand zu nehmen, zu lesen, ein Video zu schauen oder einen Podcast zu hören. Doch stattdessen blickte ich auf giftgrün gestrichene Fünfziger-Jahre-Mietskasernen, laublose Bäume, kalte Mauern, in ein niederdrückendes Himmelsgrau. Irgendwo klirrten im Wind Fahnen. Ich dachte daran, dass die Hälfte meines Lebens jedenfalls vergangen war. Hatte ich meine Zeit genutzt?"
Als ein fiktionalisierter Protagonist erschiene der Erzähler hier arg bildungsbeflissen. Nimmt jemand im Angesicht des drohenden Todes und in der Anspannung des Wartens auf eine wiederholt verschobene wichtige Untersuchung phänomenologisch Zuflucht zu Hölderlin? Es liest sich nicht wahrhaftig, und doch war es wohl so. Ein Memoir proklamiert Wahrheit, während der Roman es bei Wahrhaftigkeit belassen muss, da im fiktionalisierten Leben kein wahres stecken kann. Martin Simons aber wird tatsächlich unter dem Eindruck des Fahnengeknatters an "Hälfte des Lebens" gedacht haben. Es sind solche Aspekte, die Charakter und Reiz seines Buches ausmachen: jedoch als eines Zeugnisses, nicht einer Fiktion.
ANDREAS PLATTHAUS
Martin Simons: "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon".
Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 186 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Simons erzählt von der Nähe zum Tod
Die Beispiele für große Krankheitsschilderungen in der jüngeren deutschen Literatur sind zahlreich: Beginnend mit Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil" im Jahr 2011, kam etwa eine ganze Reihe von meist auf die eigenen Eltern bezogenen Demenzschicksalen auf den Markt, erst kürzlich noch einmal bereichert um David Wagners "Der vergessliche Riese" (F.A.Z. vom 5. September). Beide Bücher kamen bezeichnenderweise ohne Gattungsbezeichnungen heraus, denn zu erkennbar hatte das jeweils eigene Erlebnis Geiger und Wagner den Stift geführt: Namen, Orte, Familienkonstellationen - Realität und Buchinhalte deckten sich eins zu eins, und so verhielt es sich auch mit einem anderen Buch von David Wagner, das bereits 2013 erschienen war und einen profanen, aber umso pathetischeren Titel trug, der über allen literarischen Erfahrungsberichten der Vergänglichkeit stehen könnte: "Leben".
Aus dem Amerikanischen ist für solche Erfahrungsberichte der Neologismus "Memoir" zu uns herübergeschwappt, aber so richtig wagen die deutschsprachigen Verlage sich doch noch nicht an ihn heran, wohl wegen der Verwechslungsgefahr mit der eingeführten, aber altertümlich klingenden und deshalb kaum noch verwendeten Gattungsbezeichnung "Memoiren". In denen geht es ja auch stets ums pralle Leben, im Memoir dagegen meist um Todesnähe.
Nun hat auch Martin Simons einen solchen Erfahrungsbericht geschrieben, dessen Titel "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" die Vergänglichkeit überdeutlich anspricht. Das Buch erzählt aus der Ich-Perspektive von einem in jedem erwähnten und nachprüfbaren Detail (Alter, Name, Beruf, Wohnort, Familienverhältnisse) mit dem Autor identischen Mann, der kurz vor Weihnachten 2017 mit einer akuten Blutung im Gehirn in ein Berliner Spital eingeliefert wird und dort einige Monate verbleibt. Der Bericht ist mit 186 Seiten schmal, aber unterteilt in insgesamt fünfzig Kapitel, und diese vielfache Unterbrechung macht die einzelnen Abschnitte nur noch dringlicher: Es ist, als erzählte da jemand mit extrem kurzer Konzentrationsspanne, aber höchster Intensität. Wie ein Fiebernder, könnte man meinen, doch der dokumentierende Blick ist klar und kühl, und das bei allen seinen Beobachtungen - egal, ob es um die Möglichkeit des eigenen Todes in der nächsten Minute geht oder um den Alltag im Krankenhaus. Diese Perspektive vermittelt eine Anschaulichkeit, die in jeder Zeile Realität beschwört. Und trotzdem ist das Buch als Roman ausgewiesen.
Warum? Weil es in den Augen des Verlags literarisch nichts zur Sache tat, ob dieser Ich-Erzähler mit seinem Autor identisch ist. Damit hat er recht. Und mutmaßlich ist ein Roman für den Großteil des Lesepublikums immer noch verlockender als ein Erlebnisbericht - Belletristik macht gegenüber Sachbüchern den weitaus größeren Teil am Umsatz im deutschsprachigen Buchhandel aus. Doch auf welche Weise liest man in einem Roman eine Passage wie die folgende, die die Wartesituation des Patienten vor einer entscheidenden Untersuchung beschreibt? "Ich blickte aus dem Fenster. Es wäre naheliegend gewesen, zur Zerstreuung ein Buch oder mein Telefon in die Hand zu nehmen, zu lesen, ein Video zu schauen oder einen Podcast zu hören. Doch stattdessen blickte ich auf giftgrün gestrichene Fünfziger-Jahre-Mietskasernen, laublose Bäume, kalte Mauern, in ein niederdrückendes Himmelsgrau. Irgendwo klirrten im Wind Fahnen. Ich dachte daran, dass die Hälfte meines Lebens jedenfalls vergangen war. Hatte ich meine Zeit genutzt?"
Als ein fiktionalisierter Protagonist erschiene der Erzähler hier arg bildungsbeflissen. Nimmt jemand im Angesicht des drohenden Todes und in der Anspannung des Wartens auf eine wiederholt verschobene wichtige Untersuchung phänomenologisch Zuflucht zu Hölderlin? Es liest sich nicht wahrhaftig, und doch war es wohl so. Ein Memoir proklamiert Wahrheit, während der Roman es bei Wahrhaftigkeit belassen muss, da im fiktionalisierten Leben kein wahres stecken kann. Martin Simons aber wird tatsächlich unter dem Eindruck des Fahnengeknatters an "Hälfte des Lebens" gedacht haben. Es sind solche Aspekte, die Charakter und Reiz seines Buches ausmachen: jedoch als eines Zeugnisses, nicht einer Fiktion.
ANDREAS PLATTHAUS
Martin Simons: "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon".
Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 186 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Simons verdichtet, komponiert und reflektiert das Erlebte. Das Buch ist intensiv und schonungslos, es ist ein Roman über Menschlichkeit im Angesicht Todes. Es bleibt das Positive und die Erkenntnis über das, was wichtig ist im Leben.« ZDF 20191113