"Martin Simons hat den Bericht eines Jahres geschrieben, das mit einer Blutung im Kopf beginnt und mit einem geheilten Herzen endet. Dazwischen liegt fast ein ganzes Leben." Dirk von Lowtzow. An einem grauen Dezembernachmittag entgleitet Martin Simons mitten auf der Straße die Kontrolle über seinen Körper. Statt Weihnachten mit seiner jungen Familie zu verbringen, findet er sich auf der Intensivstation eines Krankenhauses wieder: Jederzeit kann der Finger aus Blut auf seinem Ausschalter, wie eine Ärztin es formuliert, sein Leben beenden. Während die Ärzte nach Gründen für die Hirnblutung suchen, geraten die inneren Kontinente des Erzählers in Bewegung. Der Beginn einer persönlichen Wandlung. In poetischer Dichte und großer Klarheit erzählt Martin Simons vom menschlichen Ausnahmezustand.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.12.2019Kalt, nicht sprachlos
Martin Simons erzählt von der Nähe zum Tod
Die Beispiele für große Krankheitsschilderungen in der jüngeren deutschen Literatur sind zahlreich: Beginnend mit Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil" im Jahr 2011, kam etwa eine ganze Reihe von meist auf die eigenen Eltern bezogenen Demenzschicksalen auf den Markt, erst kürzlich noch einmal bereichert um David Wagners "Der vergessliche Riese" (F.A.Z. vom 5. September). Beide Bücher kamen bezeichnenderweise ohne Gattungsbezeichnungen heraus, denn zu erkennbar hatte das jeweils eigene Erlebnis Geiger und Wagner den Stift geführt: Namen, Orte, Familienkonstellationen - Realität und Buchinhalte deckten sich eins zu eins, und so verhielt es sich auch mit einem anderen Buch von David Wagner, das bereits 2013 erschienen war und einen profanen, aber umso pathetischeren Titel trug, der über allen literarischen Erfahrungsberichten der Vergänglichkeit stehen könnte: "Leben".
Aus dem Amerikanischen ist für solche Erfahrungsberichte der Neologismus "Memoir" zu uns herübergeschwappt, aber so richtig wagen die deutschsprachigen Verlage sich doch noch nicht an ihn heran, wohl wegen der Verwechslungsgefahr mit der eingeführten, aber altertümlich klingenden und deshalb kaum noch verwendeten Gattungsbezeichnung "Memoiren". In denen geht es ja auch stets ums pralle Leben, im Memoir dagegen meist um Todesnähe.
Nun hat auch Martin Simons einen solchen Erfahrungsbericht geschrieben, dessen Titel "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" die Vergänglichkeit überdeutlich anspricht. Das Buch erzählt aus der Ich-Perspektive von einem in jedem erwähnten und nachprüfbaren Detail (Alter, Name, Beruf, Wohnort, Familienverhältnisse) mit dem Autor identischen Mann, der kurz vor Weihnachten 2017 mit einer akuten Blutung im Gehirn in ein Berliner Spital eingeliefert wird und dort einige Monate verbleibt. Der Bericht ist mit 186 Seiten schmal, aber unterteilt in insgesamt fünfzig Kapitel, und diese vielfache Unterbrechung macht die einzelnen Abschnitte nur noch dringlicher: Es ist, als erzählte da jemand mit extrem kurzer Konzentrationsspanne, aber höchster Intensität. Wie ein Fiebernder, könnte man meinen, doch der dokumentierende Blick ist klar und kühl, und das bei allen seinen Beobachtungen - egal, ob es um die Möglichkeit des eigenen Todes in der nächsten Minute geht oder um den Alltag im Krankenhaus. Diese Perspektive vermittelt eine Anschaulichkeit, die in jeder Zeile Realität beschwört. Und trotzdem ist das Buch als Roman ausgewiesen.
Warum? Weil es in den Augen des Verlags literarisch nichts zur Sache tat, ob dieser Ich-Erzähler mit seinem Autor identisch ist. Damit hat er recht. Und mutmaßlich ist ein Roman für den Großteil des Lesepublikums immer noch verlockender als ein Erlebnisbericht - Belletristik macht gegenüber Sachbüchern den weitaus größeren Teil am Umsatz im deutschsprachigen Buchhandel aus. Doch auf welche Weise liest man in einem Roman eine Passage wie die folgende, die die Wartesituation des Patienten vor einer entscheidenden Untersuchung beschreibt? "Ich blickte aus dem Fenster. Es wäre naheliegend gewesen, zur Zerstreuung ein Buch oder mein Telefon in die Hand zu nehmen, zu lesen, ein Video zu schauen oder einen Podcast zu hören. Doch stattdessen blickte ich auf giftgrün gestrichene Fünfziger-Jahre-Mietskasernen, laublose Bäume, kalte Mauern, in ein niederdrückendes Himmelsgrau. Irgendwo klirrten im Wind Fahnen. Ich dachte daran, dass die Hälfte meines Lebens jedenfalls vergangen war. Hatte ich meine Zeit genutzt?"
Als ein fiktionalisierter Protagonist erschiene der Erzähler hier arg bildungsbeflissen. Nimmt jemand im Angesicht des drohenden Todes und in der Anspannung des Wartens auf eine wiederholt verschobene wichtige Untersuchung phänomenologisch Zuflucht zu Hölderlin? Es liest sich nicht wahrhaftig, und doch war es wohl so. Ein Memoir proklamiert Wahrheit, während der Roman es bei Wahrhaftigkeit belassen muss, da im fiktionalisierten Leben kein wahres stecken kann. Martin Simons aber wird tatsächlich unter dem Eindruck des Fahnengeknatters an "Hälfte des Lebens" gedacht haben. Es sind solche Aspekte, die Charakter und Reiz seines Buches ausmachen: jedoch als eines Zeugnisses, nicht einer Fiktion.
ANDREAS PLATTHAUS
Martin Simons: "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon".
Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 186 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Martin Simons erzählt von der Nähe zum Tod
Die Beispiele für große Krankheitsschilderungen in der jüngeren deutschen Literatur sind zahlreich: Beginnend mit Arno Geigers "Der alte König in seinem Exil" im Jahr 2011, kam etwa eine ganze Reihe von meist auf die eigenen Eltern bezogenen Demenzschicksalen auf den Markt, erst kürzlich noch einmal bereichert um David Wagners "Der vergessliche Riese" (F.A.Z. vom 5. September). Beide Bücher kamen bezeichnenderweise ohne Gattungsbezeichnungen heraus, denn zu erkennbar hatte das jeweils eigene Erlebnis Geiger und Wagner den Stift geführt: Namen, Orte, Familienkonstellationen - Realität und Buchinhalte deckten sich eins zu eins, und so verhielt es sich auch mit einem anderen Buch von David Wagner, das bereits 2013 erschienen war und einen profanen, aber umso pathetischeren Titel trug, der über allen literarischen Erfahrungsberichten der Vergänglichkeit stehen könnte: "Leben".
Aus dem Amerikanischen ist für solche Erfahrungsberichte der Neologismus "Memoir" zu uns herübergeschwappt, aber so richtig wagen die deutschsprachigen Verlage sich doch noch nicht an ihn heran, wohl wegen der Verwechslungsgefahr mit der eingeführten, aber altertümlich klingenden und deshalb kaum noch verwendeten Gattungsbezeichnung "Memoiren". In denen geht es ja auch stets ums pralle Leben, im Memoir dagegen meist um Todesnähe.
Nun hat auch Martin Simons einen solchen Erfahrungsbericht geschrieben, dessen Titel "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon" die Vergänglichkeit überdeutlich anspricht. Das Buch erzählt aus der Ich-Perspektive von einem in jedem erwähnten und nachprüfbaren Detail (Alter, Name, Beruf, Wohnort, Familienverhältnisse) mit dem Autor identischen Mann, der kurz vor Weihnachten 2017 mit einer akuten Blutung im Gehirn in ein Berliner Spital eingeliefert wird und dort einige Monate verbleibt. Der Bericht ist mit 186 Seiten schmal, aber unterteilt in insgesamt fünfzig Kapitel, und diese vielfache Unterbrechung macht die einzelnen Abschnitte nur noch dringlicher: Es ist, als erzählte da jemand mit extrem kurzer Konzentrationsspanne, aber höchster Intensität. Wie ein Fiebernder, könnte man meinen, doch der dokumentierende Blick ist klar und kühl, und das bei allen seinen Beobachtungen - egal, ob es um die Möglichkeit des eigenen Todes in der nächsten Minute geht oder um den Alltag im Krankenhaus. Diese Perspektive vermittelt eine Anschaulichkeit, die in jeder Zeile Realität beschwört. Und trotzdem ist das Buch als Roman ausgewiesen.
Warum? Weil es in den Augen des Verlags literarisch nichts zur Sache tat, ob dieser Ich-Erzähler mit seinem Autor identisch ist. Damit hat er recht. Und mutmaßlich ist ein Roman für den Großteil des Lesepublikums immer noch verlockender als ein Erlebnisbericht - Belletristik macht gegenüber Sachbüchern den weitaus größeren Teil am Umsatz im deutschsprachigen Buchhandel aus. Doch auf welche Weise liest man in einem Roman eine Passage wie die folgende, die die Wartesituation des Patienten vor einer entscheidenden Untersuchung beschreibt? "Ich blickte aus dem Fenster. Es wäre naheliegend gewesen, zur Zerstreuung ein Buch oder mein Telefon in die Hand zu nehmen, zu lesen, ein Video zu schauen oder einen Podcast zu hören. Doch stattdessen blickte ich auf giftgrün gestrichene Fünfziger-Jahre-Mietskasernen, laublose Bäume, kalte Mauern, in ein niederdrückendes Himmelsgrau. Irgendwo klirrten im Wind Fahnen. Ich dachte daran, dass die Hälfte meines Lebens jedenfalls vergangen war. Hatte ich meine Zeit genutzt?"
Als ein fiktionalisierter Protagonist erschiene der Erzähler hier arg bildungsbeflissen. Nimmt jemand im Angesicht des drohenden Todes und in der Anspannung des Wartens auf eine wiederholt verschobene wichtige Untersuchung phänomenologisch Zuflucht zu Hölderlin? Es liest sich nicht wahrhaftig, und doch war es wohl so. Ein Memoir proklamiert Wahrheit, während der Roman es bei Wahrhaftigkeit belassen muss, da im fiktionalisierten Leben kein wahres stecken kann. Martin Simons aber wird tatsächlich unter dem Eindruck des Fahnengeknatters an "Hälfte des Lebens" gedacht haben. Es sind solche Aspekte, die Charakter und Reiz seines Buches ausmachen: jedoch als eines Zeugnisses, nicht einer Fiktion.
ANDREAS PLATTHAUS
Martin Simons: "Jetzt noch nicht, aber irgendwann schon".
Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 186 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Simons verdichtet, komponiert und reflektiert das Erlebte. Das Buch ist intensiv und schonungslos, es ist ein Roman über Menschlichkeit im Angesicht Todes. Es bleibt das Positive und die Erkenntnis über das, was wichtig ist im Leben.« ZDF 20191113