Paul wird in einem Dorf nördlich von Celle von der Polizei aufgegriffen. Er hat siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen. Weil er zu dem Vorfall beharrlich schweigt, wird er in eine psychiatrische Klinik gebracht. Von dort soll ihn sein jüngerer Bruder Johann abholen - die beiden haben sich seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Als Paul seinen Bruder schließlich bittet, ihn auf eine Reise zu begleiten, willigt Johann ein. Ihre erste Station ist jenes Dorf bei Celle: Altensalzkoth. Dort versteckte sich zwischen 1946 und 1950 Adolf Eichmann, dessen Weg Paul minutiös verfolgt und aufgezeichnet hat. Johann erkennt bald, was es mit den Hühnern auf sich hat und warum Paul und er in Richtung niederländische Nordseeküste weiterreisen, immer entlang des 52. Breitengrades. Stephan Lohse nimmt uns in seinem neuen Roman mit auf eine Reise in die Geschichte: in eine Familiengeschichte voller Gewalt und in das dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit. Empfindsam und eindringlich erzählt er von einem ungleichen Brüderpaar und zugleich vom Holocaust in Europa - von einer überraschend wiederaufgetauchten Liebe sowie einer ungeheuren Wut, die einen verstummen lassen, aber auch zum Handeln zwingen kann.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Miryam Schellbach wird ein komisches Gefühl nicht los beim Lesen von Stephan Lohses zweitem Roman. Gelungen findet sie die Brudergeschichte im Text, in der Lohse von zwei lange getrennten, aus Anlass psychischer Probleme des einen wiedervereinten ungleichen Brüdern erzählt, die erinnernd in ihre Kindheit zurückkehren. Hier geht es laut Schellbach um familiäre Verluste und Verzeihen. Schwierigkeiten hat die Rezensentin mit der anderen Textebene, einem "Schoa-Roman" um einen Nazifunktionär und seine Karriere nach dem Krieg, der mit der Brudergeschichte eher vage verbunden ist, wie Schellbach erklärt. Für die Rezensentin eine "größenwahnsinnige Engführung", zudem scheint ihr Lohse keinen originären "Zugriff auf die Schoa" zu finden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2020Negative Symbiose
In "Johanns Bruder" erzählt Stephan Lohse von einem Hühnermassaker in der deutschen Provinz
Veröffentlicht ein gefeierter Debütautor seinen zweiten Roman, so wird sich dieser am Erstling messen lassen müssen. Bei Stephan Lohse, der vor seiner Schriftsteller- schon eine Schauspielkarriere vorgelegt hat, also in doppelter Hinsicht ein Wortkünstler ist, liegt der Vergleich auch thematisch nahe. Wie schon "Ein fauler Gott" ist der zweite Roman, "Johanns Bruder", eine Geschichte über innerfamiliären Verlust und über das schmerzhafte Aussöhnen des übrig gebliebenen Familienrests.
Erstaunlich ist, dass man diesen langen Weg zur Aussöhnung und damit die Handlung des Romans auf zwei gänzlich verschiedene Weisen beschreiben kann. Einmal handelt es sich um die Erzählung über zwei sehr ungleiche Brüder, die einander im jungen Erwachsenenalter verlieren und erst 28 Jahre später wiedersehen. In einer nicht genau definierten Gegenwart wird Paul, der Ältere, in die Psychiatrie eingeliefert, weil er in einem niedersächsischen Provinznest siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen hat. Nach seiner Motivation für diesen Tiermord gefragt, äußert er sich nicht. Paul spricht seit Jahrzehnten nicht mehr, seit seine Mutter die beiden Söhne im Kindesalter verließ. Bei sich trägt Paul ein Handy, in das als einzige Nummer die seines jüngeren Bruders Johann eingespeichert ist. Von den Ärzten alarmiert, reist Johann sofort an, obwohl der letzte Kontakt mehr als ein Vierteljahrhundert her ist. Auf Wunsch des frisch Entlassenen begibt sich das Geschwisterpaar auf eine Reise entlang des 52. Breitengrades, von Norddeutschland bis in die Niederlande. Dabei reaktivieren sie eine alte Technik der Kindheit, sie kommunizieren mit Hilfe eines Wunderblocks, diesem altertümlichen Schreibgerät mit Griffel und Wachsblock, mit dem Sigmund Freud die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnis samt seiner bewussten und unbewussten Schichten beschrieben hatte.
So ist dies auch eine Reise in die tieferen Schichten des Bewusstseins und der kindlichen Erinnerung. Mit jeder Etappe intensiviert sich die Bindung der Brüder. Ihre Gespräche scheuen nicht länger den damals so verstockt schweigenden Vater, dessen religiöser Fanatismus nicht selten Ausdruck in körperlicher Gewalt gegen den jüngeren Sohn fand, während der ältere zusehen musste.
Diese Brudergeschichte ist aber nur die eine Dimension. Im einem zweiten Anlauf ist "Johanns Bruder" ein mit dokumentarischen Elementen, historischen Berichten und einem Quellenverzeichnis versehener Schoa-Roman, in dessen Zentrum ein hochrangiger Nazifunktionär und dessen Laufbahn nach der Kapitulation Deutschlands stehen. Mit tatkräftiger Unterstützung ehemaliger Parteigenossen gelingt es dem einstigen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, nach Kriegsende abzutauchen. Unter dem Namen Otto Heninger heuert der Massenmörder 1946 im niedersächsischen Altensalzkoth, einem 65-Seelen-Dorf in der Lüneburger Heide, als Waldarbeiter an. Später betreibt er dort eine Hühnerfarm mit mehr als hundert Legehennen. Mehrere Jahrzehnte nach der Verhaftung Eichmanns in Argentinien und dem Gerichtsprozess in Jerusalem reist nun im Roman Paul nach Altensalzkoth, er kennt jedes historische Detail über den Naziverbrecher, er sei "besessen" von Eichmann, heißt es einmal. Er will ein Stück unbegreiflicher Historie fassbarer machen.
Eingebettet in eine mehrschichtige Erzählsituation, in szenische Dialoge, in Landschaftsbeschreibungen der Heideregion und in zettelkastenartige historische und biographische Notizen Pauls erzählt der Roman zwei ineinandergeschobene Geschichten. Er berichtet vom Verhältnis zweier Brüder, dessen Innigkeit an der Gewalt des Vaters gegen den einen Sohn zerbrochen ist. Und dann entwirft er, auf einer zweiten Ebene, im nüchtern historiographischen Ton in Form von in die Geschichte montierten faktentreuen Notizen eine Topographie des faschistischen Terrors in der niedersächsischen Provinz. Verbunden sind diese beiden Geschichten über die deutsche Herkunft der Brüder und eine zwischen den Zeilen liegende Suggestion, dass ihr Vater, Angehöriger der Tätergeneration, eine Menge zu verheimlichen oder zumindest im Schweigen zu ertränken hat.
Vor beinah 35 Jahren unternahm der Historiker Dan Diner den Versuch, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit zu bestimmen. Seit Auschwitz müsste man, so schrieb er 1986 in einem Aufsatz, von einer "negativen Symbiose" zwischen Juden und Deutschen ausgehen, denen "das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses" geworden sei. Es scheint, als würde der Roman dazu ansetzen, diese negative Symbiose beschreiben zu wollen, doch unterläuft ihm allzu oft eine Faszination für die Täter.
"Du befindest dich auf einer seltsamen Pilgerreise, um eine Schuld abzutragen, die du, offenbar ein bisschen größenwahnsinnig geworden, auf dich genommen hast", sagt Johann während der Reise einmal zu seinem Bruder. Dies ist einer der starken Momente des Romans, in denen eine Metaebene eröffnet wird, die dem Leser diese in der Tat größenwahnsinnige Engführung von Brudergeschichte und Schoa-Roman ansatzweise nahebringt. Doch es überwiegt der Eindruck, dass die Geschichte zu stark auf die individuelle Entwicklung der Bruderverbindung, an der sich wenig Exemplarisches finden lässt, zugeschnitten ist. Auf die Schoa hingegen, die von Anfang an und durchgängig als diffuse Referenz in den Text verwoben ist, findet die Erzählung keinen eigenen Zugriff und auch keine Distanz zur Eichmann-Obsession Pauls. Diese dient zu oft als Hintergrundfolie für die Stationen der Reinigung von der Vergangenheit, der individuellen Katharsis der Brüder.
Die Tradition der erzählenden Literatur über die Schoa unterhält ein enges Verhältnis auch zum Stilmittel des Humors. Das liegt daran, dass der Humor, etwa in Form der Groteske oder der Ironie, ein genuin antimimetisches, also distanznehmendes Verhältnis zu seinem Gegenstand aufbaut. Das muss aber nicht immer funktionieren. Im Roman heißt es einmal über die Lüneburger Heide: "Eichmann hatte recht, das Land war schön." In diesem Satz mag die Tradition der Schoa-Literatur widerhallen. Erinnert wird damit etwa an die zynisch-bedrückende Passage in Robert Schindels Roman "Gebürtig", in dem ein Österreicher einer Jüdin erklärt, dass Mauthausen "eine schöne Gegend" sei. Doch erzeugt die Ironie in "Johanns Bruder" mehr Ratlosigkeit denn Distanz. Es bleibt der unheimliche Zweifel, ob nicht in der Beschreibung einer zwanghaften Täter-Obsession immer auch ein Wiederholungszwang am Werk sein könnte.
MIRYAM SCHELLBACH
Stephan Lohse: "Johanns Bruder". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 343 S. geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In "Johanns Bruder" erzählt Stephan Lohse von einem Hühnermassaker in der deutschen Provinz
Veröffentlicht ein gefeierter Debütautor seinen zweiten Roman, so wird sich dieser am Erstling messen lassen müssen. Bei Stephan Lohse, der vor seiner Schriftsteller- schon eine Schauspielkarriere vorgelegt hat, also in doppelter Hinsicht ein Wortkünstler ist, liegt der Vergleich auch thematisch nahe. Wie schon "Ein fauler Gott" ist der zweite Roman, "Johanns Bruder", eine Geschichte über innerfamiliären Verlust und über das schmerzhafte Aussöhnen des übrig gebliebenen Familienrests.
Erstaunlich ist, dass man diesen langen Weg zur Aussöhnung und damit die Handlung des Romans auf zwei gänzlich verschiedene Weisen beschreiben kann. Einmal handelt es sich um die Erzählung über zwei sehr ungleiche Brüder, die einander im jungen Erwachsenenalter verlieren und erst 28 Jahre später wiedersehen. In einer nicht genau definierten Gegenwart wird Paul, der Ältere, in die Psychiatrie eingeliefert, weil er in einem niedersächsischen Provinznest siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen hat. Nach seiner Motivation für diesen Tiermord gefragt, äußert er sich nicht. Paul spricht seit Jahrzehnten nicht mehr, seit seine Mutter die beiden Söhne im Kindesalter verließ. Bei sich trägt Paul ein Handy, in das als einzige Nummer die seines jüngeren Bruders Johann eingespeichert ist. Von den Ärzten alarmiert, reist Johann sofort an, obwohl der letzte Kontakt mehr als ein Vierteljahrhundert her ist. Auf Wunsch des frisch Entlassenen begibt sich das Geschwisterpaar auf eine Reise entlang des 52. Breitengrades, von Norddeutschland bis in die Niederlande. Dabei reaktivieren sie eine alte Technik der Kindheit, sie kommunizieren mit Hilfe eines Wunderblocks, diesem altertümlichen Schreibgerät mit Griffel und Wachsblock, mit dem Sigmund Freud die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnis samt seiner bewussten und unbewussten Schichten beschrieben hatte.
So ist dies auch eine Reise in die tieferen Schichten des Bewusstseins und der kindlichen Erinnerung. Mit jeder Etappe intensiviert sich die Bindung der Brüder. Ihre Gespräche scheuen nicht länger den damals so verstockt schweigenden Vater, dessen religiöser Fanatismus nicht selten Ausdruck in körperlicher Gewalt gegen den jüngeren Sohn fand, während der ältere zusehen musste.
Diese Brudergeschichte ist aber nur die eine Dimension. Im einem zweiten Anlauf ist "Johanns Bruder" ein mit dokumentarischen Elementen, historischen Berichten und einem Quellenverzeichnis versehener Schoa-Roman, in dessen Zentrum ein hochrangiger Nazifunktionär und dessen Laufbahn nach der Kapitulation Deutschlands stehen. Mit tatkräftiger Unterstützung ehemaliger Parteigenossen gelingt es dem einstigen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, nach Kriegsende abzutauchen. Unter dem Namen Otto Heninger heuert der Massenmörder 1946 im niedersächsischen Altensalzkoth, einem 65-Seelen-Dorf in der Lüneburger Heide, als Waldarbeiter an. Später betreibt er dort eine Hühnerfarm mit mehr als hundert Legehennen. Mehrere Jahrzehnte nach der Verhaftung Eichmanns in Argentinien und dem Gerichtsprozess in Jerusalem reist nun im Roman Paul nach Altensalzkoth, er kennt jedes historische Detail über den Naziverbrecher, er sei "besessen" von Eichmann, heißt es einmal. Er will ein Stück unbegreiflicher Historie fassbarer machen.
Eingebettet in eine mehrschichtige Erzählsituation, in szenische Dialoge, in Landschaftsbeschreibungen der Heideregion und in zettelkastenartige historische und biographische Notizen Pauls erzählt der Roman zwei ineinandergeschobene Geschichten. Er berichtet vom Verhältnis zweier Brüder, dessen Innigkeit an der Gewalt des Vaters gegen den einen Sohn zerbrochen ist. Und dann entwirft er, auf einer zweiten Ebene, im nüchtern historiographischen Ton in Form von in die Geschichte montierten faktentreuen Notizen eine Topographie des faschistischen Terrors in der niedersächsischen Provinz. Verbunden sind diese beiden Geschichten über die deutsche Herkunft der Brüder und eine zwischen den Zeilen liegende Suggestion, dass ihr Vater, Angehöriger der Tätergeneration, eine Menge zu verheimlichen oder zumindest im Schweigen zu ertränken hat.
Vor beinah 35 Jahren unternahm der Historiker Dan Diner den Versuch, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit zu bestimmen. Seit Auschwitz müsste man, so schrieb er 1986 in einem Aufsatz, von einer "negativen Symbiose" zwischen Juden und Deutschen ausgehen, denen "das Ergebnis der Massenvernichtung zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses" geworden sei. Es scheint, als würde der Roman dazu ansetzen, diese negative Symbiose beschreiben zu wollen, doch unterläuft ihm allzu oft eine Faszination für die Täter.
"Du befindest dich auf einer seltsamen Pilgerreise, um eine Schuld abzutragen, die du, offenbar ein bisschen größenwahnsinnig geworden, auf dich genommen hast", sagt Johann während der Reise einmal zu seinem Bruder. Dies ist einer der starken Momente des Romans, in denen eine Metaebene eröffnet wird, die dem Leser diese in der Tat größenwahnsinnige Engführung von Brudergeschichte und Schoa-Roman ansatzweise nahebringt. Doch es überwiegt der Eindruck, dass die Geschichte zu stark auf die individuelle Entwicklung der Bruderverbindung, an der sich wenig Exemplarisches finden lässt, zugeschnitten ist. Auf die Schoa hingegen, die von Anfang an und durchgängig als diffuse Referenz in den Text verwoben ist, findet die Erzählung keinen eigenen Zugriff und auch keine Distanz zur Eichmann-Obsession Pauls. Diese dient zu oft als Hintergrundfolie für die Stationen der Reinigung von der Vergangenheit, der individuellen Katharsis der Brüder.
Die Tradition der erzählenden Literatur über die Schoa unterhält ein enges Verhältnis auch zum Stilmittel des Humors. Das liegt daran, dass der Humor, etwa in Form der Groteske oder der Ironie, ein genuin antimimetisches, also distanznehmendes Verhältnis zu seinem Gegenstand aufbaut. Das muss aber nicht immer funktionieren. Im Roman heißt es einmal über die Lüneburger Heide: "Eichmann hatte recht, das Land war schön." In diesem Satz mag die Tradition der Schoa-Literatur widerhallen. Erinnert wird damit etwa an die zynisch-bedrückende Passage in Robert Schindels Roman "Gebürtig", in dem ein Österreicher einer Jüdin erklärt, dass Mauthausen "eine schöne Gegend" sei. Doch erzeugt die Ironie in "Johanns Bruder" mehr Ratlosigkeit denn Distanz. Es bleibt der unheimliche Zweifel, ob nicht in der Beschreibung einer zwanghaften Täter-Obsession immer auch ein Wiederholungszwang am Werk sein könnte.
MIRYAM SCHELLBACH
Stephan Lohse: "Johanns Bruder". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 343 S. geb., 22,- [Euro].
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»Nie hat sich ein Wechselbad der Gefühle besser gelesen!« Roswitha Fitzinger OÖNachrichten 20201107