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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Morde
Sie verrieten Aktivisten, Juden, Widerständler:
In kühlem Ton erzählt Helga Schubert zehn
Geschichten von NS-Denunziantinnen
VON GUSTAV SEIBT
Drei Wochen nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 wurde Carl Goerdeler, der von den Verschwörern als Reichskanzler vorgesehen war, verhaftet. Goerdeler, mit Steckbrief gesucht, war von einer Frau erkannt und denunziert worden, die ihn zuletzt 21 Jahre zuvor gesehen hatte. Die Geschichte dieser Frau, ihrer Denunziation mit nachfolgender Belohnung - eine Million Reichsmark samt einem Händedruck des Führers -, schließlich den Prozess und die Bestrafung nach dem Krieg erzählt Helga Schubert auf elf Druckseiten.
Die Denunziantin, damals 44 Jahre alt, arbeitete als Schreibkraft, war politisch nicht interessiert, kein Mitglied der NSDAP. Als junge Frau war sie zufällig Nachbarin der Goerdelers gewesen, man hatte sich gegrüßt. Als der Steckbrief zu kursieren begann, „vertrat sie in der Frühstückspause ihren Kollegen gegenüber sehr entschieden die Überzeugung, dass sie Goerdeler nach dem Zeitungsfoto ohne Weiteres wiedererkennen könne“. Das hatten die Kollegen bezweifelt. Doch die Frau fand wenige Tage später die Gelegenheit, ihren Scharfblick unter Beweis zu stellen. Die Geschichte endete 1947 mit einer Zuchthausstrafe von sechs Jahren.
Offen bleiben abschließende Fragen nach den Motiven der Denunziantin: „War es der Sieg in dem Wettlauf: Ich kann besser als ihr alle beobachten, mich besser als Sie, mein Vorgesetzter erinnern? Ich bin nicht klein und nicht dumm.“ Oder: „Hat sie vom Blut gekostet, das die Mächtigen der Welt an jedem Tag trinken?“ Nach dem Motiv der Geldgier fragt Schubert nicht mehr eigens, denn zuvor hatte sie schon berichtet, dass die Denunziantin von der Belohnungssumme kaum Gebrauch machte. Die Geschichte schließt mit Ungewissheit.
Helga Schuberts Buch „Judasfrauen“, das von zehn Fällen weiblichen Verrats in der Nazi-Zeit berichtet, erschien 1990. Schubert hatte es in den letzten Jahren der DDR aus Prozessakten und zeithistorischer Forschung erarbeitet, dabei zwischen Ost- und West-Berlin pendelnd (als Mitglied im Schriftstellerverband der DDR genoss sie Privilegien). Jetzt erscheint es wieder, als Teil der Neuentdeckung der großen Autorin, die 2020 im Alter von 80 Jahren den Bachmannpreis gewann. Das aus eigener Diktaturerfahrung gespeiste Interesse an Spitzelei und Verrat konnte die Autorin 1990 schon freimütig erklären.
Denunziationen waren die elfte von zwölf verschiedenen Arten, mit denen man in der Hitlerzeit am Tod eines anderen schuldig werden konnte, so haben es Historiker aufgezählt. Solche Anschwärzungen waren eine unblutige Art von Mord. Sie stand machtlosen Zivilpersonen zu Gebote, darunter vielen Frauen. Für den Geschlechteraspekt interessiert Schubert sich besonders, weil sie, so schreibt sie einleitend, „die Frauenveredelung stört“. „So sensibel, so zart, so kooperativ, so mütterlich, so kreativ, so authentisch sind wir nicht.“
Die Fälle, die sie dann eben nicht ausbreitet, sondern in meisterhafter Knappheit auf immer andere Punkte bringt, zeigen ein Spektrum menschlicher Niedertracht, das von der Rache am eigenen Ehemann bis zum besonders scheußlichen Ende eines strahlenden jungen Pianisten - Karlrobert Kreiten - oder der Zerschlagung eines christlichen Widerstandskreises reicht.
Die Stillage der meisten Erzählungen ist die kühle, Tatsachen zusammenfügende juristische Falldarstellung. Nur im längsten, riskantesten, bravourösesten Stück schlüpft die Erzählerin in erlebter Rede in die Haut einer Täterin, die der Schwedin Dagmar Imgart, die für die Gestapo den „Kaufmann-Will-Kreis“ der „Bekennenden Kirche“ ausforschte. Schubert anonymisiert die Täterin, weil sie 1990 nicht sicher war, ob Imgart noch am Leben war (sie starb 1980). Heute kann man ihre Geschichte bei Wikipedia erfahren.
Jede einzelne Geschichte hat das Bleigewicht einer Tragödie, alle sind sie spannend, man schwankt zwischen Verschlingen, Ratlosigkeit, Wiederlesen, Nachdenken. Jeder Fall ist besonders, gemeinsam ist ihnen nur der Mechanismus, dass für persönliche Motive der Gewaltapparat einer Diktatur gehebelt wurde. Dass dies mit wenigen Handgriffen weitgehend risikolos möglich war - ein anonymer Brief, ein Gedächtnisprotokoll, ein Gang zur Polizei, Vorgänge von wenigen halben Stunden -, zeigt die strukturelle Seite: Terrorregime stellen der Tücke die Staatsgewalt zur Verfügung.
Diese Niedertracht hat viele Ausgangspunkte und Formen: Kränkungen, Enttäuschung in einer Ehe, Leichtsinn, Neid, Beweis, dass man es kann, Machtgefühle. Im Hintergrund der juristischen Erzählweise taucht die ältere Form des moralischen Exempels auf. Das Exempel bezieht einen Einzelfall auf eine „Lehre“ (fabula docet), das macht seine Nähe zur Rechtskasuistik mit ihrer Subsumtionstechnik aus. In beiden Formen geht es um den Bezug von Besonderem und Allgemeinem. Das neuzeitliche Genre der Novelle ging aus der Individualisierung ihrer moralisch-juristischen Vorgängerformen hervor, als Sieg des besonderen Falls, der nun als unverrechenbar und moralisch ambivalent erfahren wird.
Doch die Grenze zur novellistischen Relativierung überschreitet Schubert an keiner Stelle, nicht einmal in dem Stück zu Dagmar Imgart, das die Pathologie von Selbstbetrug und Realitätsverleugnung von innen zeigt. Die besonderen Fälle bleiben durchsichtig für moralische Befragung, dem Äquivalent gerichtlicher Urteilssuche. Der Unterschied ist, dass Helga Schubert keine Urteile ausspricht, sondern diese dem Nachdenken ihrer Leserinnen und Leser überlässt.
Am wenigsten allerdings lässt sich die Frage nach dem spezifisch Weiblichen klären, beispielsweise, ob die unblutige Form des Mordens typischer für Frauen als für Männer ist oder ob Frauen andere Gelegenheiten nutzten als Männer. Das könnten nur umfassende Reihenuntersuchungen beantworten. Doch scheint in etlichen der zehn Geschichten eine eigentümliche Stumpfheit der Täterinnen auf, ein Mangel an Fantasie für die Folgen des eigenen, zunächst unblutigen, erst in den Folgen blutigen Tuns. Das erstaunt angesichts der Nähe der Verräterinnen zu ihren Opfern.
Ein Beispiel nachfolgenden Innewerdens allerdings erwähnt Schubert. Die Verräterin des jungen Pianisten Kreiten, eine enge Freundin seiner Mutter, lief, nachdem sie von seiner Hinrichtung erfahren hatte, in ein brennendes Haus, wo sie umkam. Hier wird das Judasmotiv handgreiflich, die Intimität im Verrat, die Selbstbestrafung im Suizid.
Bedeutsam ist der Rahmen dieser Fälle-Sammlung, die einleitende Entstehungsgeschichte, in der die Autorin sich als Zeitgenossin vorstellt. Er reflektiert die historische Bedingtheit der Wahrnehmung in der Spannung zwischen östlichem Antifaschismus und westlich früh einsetzender Nachsicht. So setzt die Erzählsituation einer Autorin in der DDR ein zweites Koordinatensystem, hinter dem auch die stalinistischen Denunziationen auftauchen. Der Nazi-Richter Freisler hatte sein Demütigungsgebrüll den Moskauer Schauprozessen abgelernt. In der DDR hätte so etwas kaum gedruckt werden können.
Doch weder die Geschlechterdifferenz noch die Diktaturanalogie entlässt die Leser aus der Frage nach dem Menschenmöglichen.
In etlichen Geschichten scheint
eine eigentümliche
Stumpfheit der Täterinnen auf
Helga Schubert: Judasfrauen. Zehn Fallgeschichten weiblicher Denunziation im Dritten Reich. Mit einem aktualisierten Vorwort der Autorin.
Dtv, München 2021.
176 Seiten, 11 Euro.
„So sensibel, so zart, so kooperativ, so mütterlich, so kreativ, so authentisch sind wir nicht": Mitgliederinnen des BDM-Werks „Glaube und Schönheit“ 1940 in Braunschweig.
Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo
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