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Das schreckliche Schicksal der Juden im Getto Litzmannstadt
Überleben durch Arbeit war die Strategie von Mordechai Chaim Rumkowski, "Judenältester" des Gettos Litzmannstadt - in einem System, das ein Überleben nicht vorsah. Die Gettos waren als Zwangsquartiere für Juden im von Deutschland besetzten Osteuropa geschaffen worden, ihre Entstehung, Organisation und Auflösung unterschieden sich erheblich, aber alle entwickelten sich zu Zwischenstationen der Vernichtung. Die in Litzmannstadt umbenannte und dem Deutschen Reich einverleibte polnische Stadt Lodz hatte das größte Getto in den eingegliederten Gebieten und damit im Deutschen Reich. Auf 4,13 Quadratkilometern ohne Kanalisation drängten sich zeitweise 200 000 Menschen in katastrophalen hygienischen Verhältnissen, davon überlebten nach optimistischen Schätzungen etwa 7000. Mehr als 45 000 Menschen starben im Getto selbst, mindestens 145 000 wurden im Vernichtungslager Kulmhof und in Auschwitz ermordet oder starben auf den Transporten dorthin.
Die Historikerin Andrea Löw konzentriert sich in ihrer Studie auf die Lebensverhältnisse der Bewohner. Sie stützt sich dabei vor allem auf in erstaunlicher Vielfalt und Anzahl erhaltene Quellen in polnischer und jiddischer Sprache, die von deutschen Forschern bisher wenig genutzt wurden. Nach einer Zusammenfassung der Verhältnisse vor dem Krieg und in den ersten Monaten der Besatzung beschreibt sie zunächst die Phase der Einschließung des Gettos am 30. April 1940. Es folgt die Schilderung der in mehreren Wellen erfolgten weiteren "Aussiedlungen" bis zum September des Jahres und der Phase zwischen Ende 1942 und Juni 1944, in der das Getto zur reinen Produktionsstätte wurde. Die Auflösung des Gettos von Juni bis August 1944, als bis auf einen kleinen Rest alle Bewohner, darunter Rumkowski, abtransportiert und ermordet wurden, bildet den Schluss der Darstellung. Dabei folgt Löw nicht immer streng der Chronologie, doch die dann teilweise mehr sachthematisch aufgebauten Abschnitte dienen bei der Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der besseren Anschaulichkeit.
Zum "Ältesten der Juden" bestimmte die deutsche Verwaltung Mordechai Chaim Rumkowski, der schon vorher in der jüdischen Gemeinde engagiert war. Er blieb der wichtigste Ansprechpartner der "Macht", wie die deutschen Behörden im Getto genannt wurden. Er allein war den Deutschen verantwortlich und bezog daraus seine Machtfülle gegenüber den Getto-Bewohnern. Die Selbstverwaltung blieb jedoch stets eine Scheinautonomie. Rumkowski erhielt direkte Anweisungen und hatte minimalen Spielraum. Er machte sich jedoch mit großem Eifer an die ihm gestellte Aufgabe und baute innerhalb kurzer Zeit einen hochdifferenzierten Verwaltungsapparat auf. Die wichtigsten Aufgaben waren Unterbringung und Versorgung der Bevölkerung. Arbeitskraft war, nachdem alles, was auch nur irgendeinen Wert hatte, abgegeben worden war, das einzige, was die Einwohner des Gettos zu bieten hatten. Eine breite Palette von Waren wurde hier produziert, die Rohstoffe wurden bereitgestellt und dann verarbeitet, dafür wurden Lebensmittel geliefert, die allerdings nie ausreichten.
Neben der Behebung unmittelbarer Notlagen durch Gesundheitswesen und Fürsorge für Bedürftige hatten Bildung für Kinder und Jugendliche sowie Theater und Konzerte einen hohen Stellenwert. Wichtig für die Menschen war, mit dem Fortbestehen des kulturellen Lebens an die Zeit vor dem Krieg anzuknüpfen und durch die Schulen in die Zukunft zu investieren. Diese Anknüpfung an eine Normalität trug zum Überlebenswillen wesentlich bei. Eine eigene Abteilung der Verwaltung widmete sich der Dokumentation, die bewusst auch Quellen für Historiker späterer Zeiten schaffen sollte.
Die hierarchische Struktur schuf auch soziale Unterschiede, und ein zentrales Thema war die Verteilung der Lebensmittel. Um seine Macht durchzusetzen, standen Rumkowski eine Polizei - der "Ordnungsdienst" -, ein Justizapparat und auch Strafvollzug zur Verfügung, und er machte Gebrauch davon. Unmut und Groll über die Lebensverhältnisse richteten sich in der Folge vor allem gegen Rumkowski und nicht gegen die eigentlichen Urheber. Die Einweisung von 20 000 Juden aus dem Deutschen Reich sorgte durch Sprachschwierigkeiten und Mentalitätsunterschiede für erhebliche Spannungen, eine vollständige Integration gelang nie.
Zu den Aufgaben der Selbstverwaltung zählte auch die Auswahl derjenigen, die deportiert werden sollten. Etwa fünf Monate nach den ersten Transporten erreichten Litzmannstadt erste Informationen über das schreckliche Schicksal dieser Menschen. Die Verwaltung entschied weiterhin, wer zu den Transporten eingeteilt wurde, im festen Glauben, Schlimmeres zu verhüten. Tatsächlich schockierte das brutale Eingreifen der Deutschen, als die vorgegebene Anzahl nicht rechtzeitig erreicht wurde, die Bevölkerung dermaßen, dass dieses Mittun gerechtfertigt schien. Historische Analyse und Bewertung werden hier schwierig, doch Andrea Löw nimmt sie abwägend und sensibel vor. Im Mittelpunkt dieser sorgfältigen Untersuchung steht nicht die Frage, wie es zur Judenverfolgung kam, sondern wie sie sich im konkreten Fall von Litzmannstadt auf die Menschen auswirkte. Andrea Löw gelingt es, dies für eine Vielzahl von Aspekten darzustellen.
KLAUS A. LANKHEIT.
Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten. Wallstein Verlag, Göttingen 2006. 584 S., 46,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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