»Mach dir nicht so viele Gedanken dazu, sonst wirst du wahnsinnig.« |227
Wer mit »Judenfetisch« eine stringente und soziologisch objektivierbare Abhandlung davon erwartet, was "Jüdischsein" heute bedeutet, ist mit dem aus dem Subjektiven und Emotionalen schöpfenden, suchenden, streitbaren und
immer wieder auf Grenzen stoßenden politischen Essay von Feldman falsch gewickelt. Wer eine sich immer…mehr»Mach dir nicht so viele Gedanken dazu, sonst wirst du wahnsinnig.« |227
Wer mit »Judenfetisch« eine stringente und soziologisch objektivierbare Abhandlung davon erwartet, was "Jüdischsein" heute bedeutet, ist mit dem aus dem Subjektiven und Emotionalen schöpfenden, suchenden, streitbaren und immer wieder auf Grenzen stoßenden politischen Essay von Feldman falsch gewickelt. Wer eine sich immer wieder wundernde, humorvolle, darunterliegend mit Ernsthaftigkeit, Wut, Trauer und Liebe gespickte Selbstverortung von Deborah Feldman lesen und davon ausgehend über diese Gesellschaft, das Verhältnis zu-, die Vereinnahmung von Juden|tum und die eigene Verortung nachdenken möchte, greife zu diesem Essay. Ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist oder es gut täte, ihn in anderen gesellschaftlichen Stimmungen zu lesen, frage ich mich aber zunehmend.
In Israel steigt die durch ihren autobiographischen Roman »Unorthodox« breit bekannte Autorin mit Gedanken zu ihrer Positionierung als Jüdin und als sich selbst bestimmender Mensch ein, der die direkten Verbindungen zur orthodoxen jüdischen Religion abgelegt wissen wollte.
Mit Blick für Kuriositäten, Widersprüche und in Sorge beschreibt Feldman ihre Sicht auf die erstarkte Rechte und Orthodoxie in Israel und ihren zu der Zeit der Roman Entstehung wahrscheinlich noch ambivalenten Bezug zur israelischen Politik. Doch das Hauptaugenmerk von »Judenfetisch« liegt auf Jüdischsein in Deutschland aus Sicht einer Expat aus Amerika, den vielen Schichten, Ambivalenzen, unausgesprochenen Zuweisungen, Vereinnahmungen, Projektionen und Tabus, dem Anti- und Philosemitismus, dem Phänomen von Konvertiten, der Förderung von Judentum in Deutschland, den Ambivalenzen eines öffentlichen Jüdischseins, der gegenseitigen Härte bei unterschiedlichen Verortungen zum Jüdischsein und dem Gelingen einer sicheren familiären Verbundenheit mit Gleichgesinnten.
Assoziativ verbinden sich vielfältige Blickwinkel, Beobachtungen, Orientierungsversuche und beengende Zuschreibungen zum Jüdischsein, die oft viel über die Zuschreibenden erzählen.
Feldman verhält sich zu den Vereinnahmungen, Projektionen und ihrer eigenen Geschichte, reflektiert sie und möchte dabei nicht gefallen. Sie sticht in Ambivalenzen, vielschichtige Motivlagen und wie in der aktuellen Situation unmittelbar zu spüren ist, nicht nur ihre eigenen heißen Emotionen und Verletzlichkeiten. Die von Feldman aufgeworfen Fragen halten sich streitbar offen. Doch so sehr der Autorin ein Austeilen vorgeworfen werden kann und sich »Judenfetisch« heute kontroverser liest, bleibt sie auf Verständigung aus. Die Verteidigung von Subjektivität, Humanismus und der Universalität der Menschenrechte zieht sich durch den Text. Ob und wie sie darin verstanden wird, ihre Haltung gefällt oder sie der im Text immer wieder umkreisten Vereinnahmbarkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft entgehen kann, ist eine andere Frage.
Angesichts der aktuellen Situation und auch der Rolle, in die Feldman aktuell gekommen ist und damit mitten drin ist in emotional aufgehitzten Debatten, Diskussionen, Verletzungen und Vorwürfen, frage ich mich immer mehr. Geht es, diesen persönlichen von mir als wertvoll empfundenen Text, der zwei Jahre vor dem 07. Oktober entstanden ist, unabhängig davon zu lesen? Die Wahrscheinlichkeit halte ich für größer, dass er sich zerreibt insb. hier in Social Media in aktuellen Fragen zu Subjektivität, Repräsentation und Binarität "auf welcher Seite" Text und Autorin stehen oder vereinnahmt werden. Auch wenn unter anderem genau diese Vereinnahmung Thema des Essays ist, kann er aktuell wahrscheinlich kaum noch mit entschleunigtem und nüchternem Abstand betrachtet und diskutiert werden. Aber Texte bleiben, diesen möchte ich mit zeitlichem Abstand noch einmal zur Hand nehmen, fürs erste haben wir nur diese Zeit.