Lange Zeit war es üblich, den Ersten Weltkrieg primär als Wendemarke der Kulturgeschichte aufzufassen, ging in ihm doch jener Fortschrittsglaube zugrunde, der für das bürgerliche Selbstverständnis konstitutiv gewesen war. Auch wenn inzwischen die meisten Historiker darin übereinstimmen, dass dieser Krieg als "Urkatastrophe dieses Jahrhunderts" aufgefasst werden muss, wissen wir doch vergleichsweise wenig darüber, wie die Jahre zwischen 1914 und 1918 von den Menschen erlebt und gedeutet wurden. Den Fokus des Buches bildet die deutsch-jüdische Kultur im Ersten Weltkrieg: Der "jüdische Geist" führte keine "Ghettoexistenz", sondern stand in regem Kontakt mit den einflussreichen Zeitströmungen. Nicht selten erweisen sich dem ersten Anschein nach spezifisch jüdische Interpretamente als hochgradig abhängig von der kulturellen Großwetterlage. Gerade aus diesem Grund empfiehlt es sich, das kulturelle und soziale Umfeld jüdischer Intellektueller näher zu betrachten.
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Beeindruckende Studie über deutsche Juden im Ersten Weltkrieg
Ulrich Sieg: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe. Akademie Verlag, Berlin 2001. 400 Seiten, 39,80 Euro.
"Deutschtum und Judentum" - so lautet der Titel einer programmatischen Abhandlung, die der angesehene Marburger Philosophieprofessor Hermann Cohen im Jahr 1915 veröffentlichte. Der Neukantianer und Vordenker des deutschen liberalen Judentums beschwor darin die tiefe Interessengleichheit von Deutschtum und Judentum und warb für eine deutsch-jüdische Kultursynthese: Das Beste an der deutschen Kultur entspreche dem Besten in der jüdischen Tradition. Cohens Essay fand lebhafte Resonanz. In den liberaljüdischen Organen war die Zustimmung stark und einhellig, massive Kritik kam hingegen von kulturzionistischer Seite. Hier lehnte man die harmonisierende Vorstellung einer kulturellen Synthese von Deutschtum und Judentum entschieden ab und stellte das Weltbild des liberalen Judentums prinzipiell in Frage.
Über diese Auseinandersetzung von schlüsselhafter Bedeutung sowie über die anderen weltanschaulichen Debatten, die während der Weltkriegsjahre von und zwischen den deutschen Juden geführt wurden, berichtet Ulrich Sieg in seinem Buch, das - einem erweiterten Kulturbegriff verpflichtet - im Schnittpunkt von Ideen-, Mentalitäts- und Politikgeschichte angesiedelt ist. Gestützt auf reichhaltiges Quellenmaterial, geht Sieg der Frage nach, wie die jüdischen Intellektuellen (die er allerdings als Gruppe nicht klar definiert) auf den Zusammenbruch der bürgerlichen Wertewelt und die Erschütterung des Kulturvertrauens reagierten, in welcher Form sie die Kriegserfahrungen verarbeiteten und wie sich im Verlauf des Krieges ihr Weltbild veränderte.
Im Zentrum des Interesses steht dabei die postassimilatorische Jugendgeneration, die mit der liberalen Weltsicht der Eltern gebrochen hatte und zur Lösung ihrer Identitätsprobleme das Projekt einer "Jüdischen Renaissance" entwickelte - allen voran Martin Buber, der 1901 diesen Ausdruck prägte. Die jungen jüdischen Intellektuellen verstanden sich als kulturelle Avantgarde und erlebten den Krieg (in dem sie rückhaltlos für die Verteidigung ihrer deutschen Heimat eintraten) als einen "Aufbruch zu neuen Ufern".
Die Konzentration auf die junge jüdische Intellektuellengeneration und deren kulturelle Neuentwürfe, auf Martin Buber, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und die Mitglieder der Prager Vereinigung "Bar Kochba", ist verständlich, denn in rückblickender Betrachtung waren sie es, die historisch recht behielten, nicht die Verfechter einer deutsch-jüdischen Kultursynthese. Gleichwohl lag in den Weltkriegsjahren selbst die kulturelle Meinungsführerschaft durchaus bei den liberalen, betont deutsch akkulturierten Juden, die in der Darstellung etwas zu kurz kommen; etliche werden gar nicht, andere nur beiläufig erwähnt. Allerdings betont Sieg immer wieder, wie breit und differenziert das Meinungsspektrum innerhalb der deutschen Judenheit damals war. Man darf auch nicht übersehen, daß die Frontstellungen zwischen alten und jungen, liberalen, orthodoxen und zionistischen Juden in den Weltkriegsjahren weniger schroff verliefen, als es oft den Anschein hatte. So war es kein Geringerer als Hermann Cohen, der den Begriff "Assimilation" deutlich zurückwies. In seiner Auseinandersetzung mit Gustav Schmoller (auf die Sieg nicht eingeht) bezeichnete er Assimilation als das "falsche Wort": "Erfunden und gebraucht, um die Tendenz zu verbergen, eine Religion und ihre Bekenner als solche vertilgen und ausrotten zu wollen . . . Hinweg mit diesem plumpen und gleisnerischen Wort der Assimilation."
Zu den ausführlich analysierten Bereichen jüdischer Wahrnehmung und Verarbeitung zählen die Radikalisierung des Antisemitismus und die "Entdeckung" des Ostjudentums. Während im Gefolge der Begegnungen jüdischer Soldaten mit polnischen und russischen Glaubensgenossen an der Ostfront die Lebenswelt und die religiöse Ursprünglichkeit der Ostjuden zu einem idealisierten Bild stilisiert wurden, riß die seit 1916 sich verstärkende antisemitische Agitation eine Kluft auf. Dies trat deutlich zutage anläßlich der sogenannten "Judenzählung". Angeblich um den Vorwürfen jüdischer "Drückebergerei" begegnen zu können, ordnete das Kriegsministerium im Herbst 1916 eine Feststellung der Konfessionszugehörigkeit aller Soldaten an. Auf jüdischer Seite gab es einen Aufschrei, so daß das Ergebnis nicht veröffentlicht wurde, obwohl die Zählung den Nachweis erbrachte, daß die jüdische Bevölkerung in etwa den auf sie entfallenden Anteil von Kriegsteilnehmern stellte und auch hohe Menschenopfer brachte: Von den 550 000 reichsdeutschen Juden dienten im Krieg rund 100 000 Mann (davon 80 000 an der Front), mindestens 12 000 sind gefallen.
Sieg konstatiert den Zäsurcharakter des Jahres 1916, will aber die Bedeutung der "Judenzählung" nicht so hoch gewichten, wie dies bislang der Fall war; zahlreiche jüdische Intellektuelle hätten bereits vor der Judenzählung ein desillusioniertes Bild des Kaiserreichs gewonnen. Dies mag für viele jüdische (wie nichtjüdische) Intellektuelle zutreffen. Aber zumindest für die große Masse jüdischer Kriegsteilnehmer und ihre Familienangehörigen bedeutete die Judenzählung ein Schlüsselerlebnis.
Auf imponierend breiter Quellenbasis entwirft der Autor ein faszinierendes, klar konturiertes, aber auch die Ambivalenzen nicht ausblendendes Bild von Wahrnehmung und (produktiver) Verarbeitung des Weltkriegs innerhalb der deutsch-jüdischen Kultur und insbesondere im Kreis der jungen jüdischen Intellektuellen.
EBERHARD KOLB
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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"This is a work of wideranging research and considerable intellectual depth." (Helmut Walser Smith in: German History 21 (2004))
"Trotz einer immensen Anzahl an Quellen eine überaus anregende, gut lesbare Arbeit." (Claudia Albert in: Germanistik 44 (2003))
"die Habilitationsschrift von Ulrich Sieg, die man getrost einen großen Wurf nennen kann. Philosophen, die sich künftig mit dem Denken während des Ersten Weltkrieges beschäftigen, werden daran zu messen sein, inwiefern sie auf den Sieg Bezug nehmen." (Thomas Meier in: Süddeutsche Zeitung vom 5. 2. 2002)