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Albert von Schirnding beschenkt sich zum Achtzigsten
Als Albert von Schirnding 1982 den Johann-Heinrich-Merck-Preis für Literaturkritik entgegennahm, bewies er in der Danksagung seinen vielleicht vornehmsten Wesenszug: Bescheidenheit. Denn der Preis fordere selbst den hohen Preis, nicht mehr unscheinbar im Reich der Unerwachsenen - gleichsam unter einer Tarnkappe - eigenen Spiegelfechtereien nachgehen zu können, unbekümmert um gültige ästhetische Grundgesetze. Das war weder eine Floskel noch Koketterie, wohl aber Ausdruck einer stets prägenden Spannung zwischen Jugend und Alter, frühreifer Vorwegnahme und Nähe zum entfernten Gestern. Kaum zufällig folgt in der Merck-Rede sogleich die Rückbesinnung auf den Tübinger Lehrer Walter Jens und den glorreichen, aber gefährlichen Zustand der Präexistenz, wie ihn Hugo von Hofmannsthal, von Schirndings großes Vorbild, fasst.
Tatsächlich erfolgt der Eintritt in die literarische Welt außerordentlich früh: Schon als Sechzehnjähriger veröffentlicht von Schirnding erste Gedichte, ab 1955 ist er während des altphilologischen Studiums in Tübingen als Feriensekretär bei Ernst Jünger tätig und verfasst bereits Prosa, Essays und Kritiken. Zum heutigen 80. Geburtstag legt er sich seine Jugenderinnerungen auf den Gabentisch, um die eigene literarische Präexistenz zu durchleuchten. Der Reiz besteht in ihrer Ungleichzeitigkeit: Im ersten Teil blickt von Schirnding zurück auf die Kindheit in Adelskreisen - wo zu feine Manieren eher unfein wirken, denn Benehmen versteht sich da wie exzellentes Essen von selbst -; auf die Schulzeit, an die sich der später langjährige Lehrer am Münchner Ludwigsgymnasium meist gern, immer aber mit Interesse erinnert; auf die Nachkriegszeit und die Pubertät (in dritter Person!).
Faszinierender ist der zweite Teil, überschrieben mit dem katholisch klingenden Titel "Stundenbuch der Jugend". Es handelt sich um Aphorismen, von denen die meisten, ohne dass es ausdrücklich gesagt wird, offenbar vor sechs Jahrzehnten entstanden oder wenigstens die frühe, präexistente Perspektive beanspruchen. Den aktuellen Anlass ironisch umkehrend, heißt es da etwa: "Rätselhaft ist mir, wie ein Achtzigjähriger einfach so weiterleben kann, als wäre nichts passiert." Hier wimmelt es von feinen Beobachtungen über Ernst Jünger, "der leider Chef genannt sein will" und wenige Tage nach seinem 60. Geburtstag zu Schirndings Zwanzigstem ein Wachstuchheft für neue Aphorismen sowie einen Sonderdruck "mit der tiefsinnigen Widmung 3 × 20 = 60" überreicht. Da taucht neben dem einst amtierenden altphilologischen Papst Wilamowitz der verehrte Walter Jens auf, von dessen "Verletzungslust" sich der Student aber distanziert. Jens' Vorlesung über Hofmannsthal findet er gar ärgerlich, denn "sein" Dichter wird da als Folie für geistreiche Sätze missbraucht, statt den Ahndenden, Erfahrenden, Deutenden mit diesem gemeinsam zu erfassen, jenseits verarmender Worte. Der ebenso frühgereifte Hofmannsthal ist überhaupt stark präsent, bis hin zu Schirndings Rolle als Claudio in "Der Tor und der Tod" im elterlichen Wohnzimmer. Späterer Kommentar über den Sechzehnjährigen: "Jetzt bin ich einundzwanzig, blicke zurück auf die Vorwegnahme."
"Lebenslampenfieber" lautet die kürzeste Aufzeichnung, die als Titel für die ganze Sammlung taugen würde. Denn überall geht es um neugierige Erwartung, intellektuelle Ungeduld, um Wissensdurst und bemerkenswerte kritische Unabhängigkeit von bewunderten Autoritäten. Wenn der junge von Schirnding einmal festhält: "Die Wahrheit ist von zahlreichen Doppelgängerinnen umgeben", dann festigt sich der Eindruck, dass deren Suche ein langes Leben mit und für die Literatur bestimmt. Die "heitere Leidenschaft des Wissen-Wollens", von der Joachim Kaiser in seiner Laudatio zum Merck-Preis sprach, ist nach wie vor lebendig und wird es hoffentlich noch lange bleiben.
ALEXANDER KOSENINA
Albert von Schirnding:
"Jugend, gestern".
Jahre - Tage - Stunden.
Mit einem Nachwort von Rainald Goetz.
C. H. Beck Verlag,
München 2015. 176 S.,
geb., 16,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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