»Meine Familie ist weg. Meine Papiere auch. Ich habe nur noch einen Buchstaben. I - so werde ich hier genannt. Ich bin ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Nur dass ich nicht wirklich unbegleitet bin, denn ich habe ja L und E und V. Sie sind meine Begleiter.« Steve Tasane erzählt die Geschichte von I ohne jeden Kitsch und Sentimentalität. I ist kein Opfer, er ist ein zehnjähriger Junge voller kindlichem Optimismus, welcher angesichts des großen Leids, das ihm widerfährt, den Leser gleichermaßen berührt wie aufrüttelt. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis »Das Schicksal der Flüchtlingskinder muss jeden berühren.« UNO-Flüchtlingshilfe
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.04.2019Leben im Müll
Die Geschichte eines Jungen und
seiner Freunde in einem Flüchtlingslager
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Das Buch, in dem diese Geschichte steht, ist wunderlich. So ein Jugendbuch hat man noch selten gesehen. Die Geschichte beginnt nämlich auf dem Buch, ganz recht: auf, nicht in dem Buch. Auf dem Buchdeckel steht nicht der Name des Autors Steve Tasane, sondern dort stehen die ersten Sätze der Erzählung eines etwa zehn Jahre alten Jungen, der seine Eltern und seine Geschwister verloren hat und schon so lange in einem Flüchtlingslager lebt, dass er nicht mehr genau weiß, wie alt er ist und wann er Geburtstag hat. Die Leser erfahren nicht, aus welchem Land er gekommen ist, und in welchem Land das Lager liegt. Sie erfahren auch nicht, wie er heißt. Er wird J genannt.
Eine Geschichte aus einem Flüchtlingslager: Welchen jungen Lesern mag man das zumuten? Himmel hilf! Also wirklich. Mädchen und Bub sollen doch Freude am Lesen und am Leben haben.
Freude am Leben hat allerdings auch J. Er hat nämlich Freunde, ein paar jedenfalls. Sie heißen L und E und V. Gemeinsam steigen sie über die Müllkippen und durch den regennassen Schlamm des Lagers. Und weil junge Menschen findig sind, entdecken sie auch immer mal wieder etwas, was man essen und womit man spielen kann. Weggeworfenes Brot lässt sich, mit Schlamm vermischt, zu einem Küchelchen rollen. Und wer da denkt, in einem Flüchtlingslager gebe es keine zehn Jahre alten Geheimagenten, hat sich getäuscht. Allerdings ist das Geheimagententum eine flüchtige Beschäftigung. Frische Äpfel, wenn man sie mal bekommt, sind aufregender. Und außerdem patrouillieren da mit echten Waffen ausgestattete Männer, die den Verwaltungsbau bewachen.
„Das Lager ist anders, als es sich die meisten Leute vorstellen“, erzählt J, „manche Leute kommen, um uns Lebensmittel und saubere Kleider zu bringen. Ihr solltet sie mal sehen – sie ziehen ein Gesicht, als wäre die Welt explodiert.“ Man sieht: J lässt sich nicht unterkriegen. Er hat Sinn für Sarkasmus und einen guten Humor, und er hat seine Freunde.
Eines Tages macht J einen besonderen Fund: Kleine Spielzeugfiguren – einen Soldaten, einen römischen Gladiator und einen Arzt. Mit den Augen von J gesehen, bringt der Autor diese Figuren zum Leben: Jede einzelne verkörpert eine ganze Welt, eine Welt von Freiheit und Abenteuer, wobei völlig klar ist, dass es sich wirklich um nichts anderes als billige Plastikteile handelt. Die Leser dieser Erzählung werden nicht für dumm verkauft. J selbst ist ja nicht blöd. Er findet ein Gemisch von aufgeweichtem Brot und Schlamm ekelhaft. Er weiß, dass er mit Müll spielt. Die Kunst – Js Kunst und die des Autors – besteht darin, aus Dreck etwas zu machen. Auch wer sich als Kleinkind vor Playmobilfiguren kaum hat retten können, mag nun den Soldaten, den Gladiator und den Arzt in dieser Geschichte interessanter finden, als das eigene vor Jahren schon weggelegte Spielzeug je gewesen ist.
Steve Tasane ist es gelungen, über schlimmes Schicksal zu schreiben, ohne kitschig zu klingen. Er schreibt mit Witz. Und Henning Ahrens’ Übersetzung ins Deutsche ist ganz vorzüglich. Tasanes hintersinniges Verständnis für kindliche Belange steht dem von großen Kinderbuchautoren wie Maurice Sendak und Tomi Ungerer nicht nach. Sein Buch ist allen zu empfehlen, die ein wenig oder sehr viel älter sind als die Kinder, von denen die Geschichte handelt. Wie hat der Autor das hinbekommen? Tasanes Name ist exotisch genug, dass die Leser annehmen könnten, er sei selbst ein Flüchtlingskind. Das ist er aber nicht. Am Ende erklärt er sich: Zwar sei er der Sohn eines Flüchtlings, wuchs in Britannien heran, war auf Schulspeisung angewiesen und brauchte lange, um Englisch zu lernen, aber deshalb habe er „Junge ohne Namen“ nicht geschrieben. Der Grund ist ein anderer: „Das Schlimmste aber war, dass mein Vater uns im Stich ließ, meine Mutter, meine drei Brüder und mich. Wir waren eine kaputte Familie. Ich hasste es, ein ,kaputtes‘ Kind zu sein.“ Deshalb habe er sein Buch geschrieben. Alle beschriebenen Dinge, fügt er an, „sind wahre Ereignisse, die wahre Kinder in wahren Lagern während der letzten Monate überall auf der Welt erlebt haben“.
Steve Tasane: Junge ohne Namen. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Fischer (Sauerländer), Frankfurt 2019. 144 Seiten, 16 Euro.
Das Lager ist anders, als
es sich die meisten Leute
vorstellen
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Die Geschichte eines Jungen und
seiner Freunde in einem Flüchtlingslager
VON FRANZISKA AUGSTEIN
Das Buch, in dem diese Geschichte steht, ist wunderlich. So ein Jugendbuch hat man noch selten gesehen. Die Geschichte beginnt nämlich auf dem Buch, ganz recht: auf, nicht in dem Buch. Auf dem Buchdeckel steht nicht der Name des Autors Steve Tasane, sondern dort stehen die ersten Sätze der Erzählung eines etwa zehn Jahre alten Jungen, der seine Eltern und seine Geschwister verloren hat und schon so lange in einem Flüchtlingslager lebt, dass er nicht mehr genau weiß, wie alt er ist und wann er Geburtstag hat. Die Leser erfahren nicht, aus welchem Land er gekommen ist, und in welchem Land das Lager liegt. Sie erfahren auch nicht, wie er heißt. Er wird J genannt.
Eine Geschichte aus einem Flüchtlingslager: Welchen jungen Lesern mag man das zumuten? Himmel hilf! Also wirklich. Mädchen und Bub sollen doch Freude am Lesen und am Leben haben.
Freude am Leben hat allerdings auch J. Er hat nämlich Freunde, ein paar jedenfalls. Sie heißen L und E und V. Gemeinsam steigen sie über die Müllkippen und durch den regennassen Schlamm des Lagers. Und weil junge Menschen findig sind, entdecken sie auch immer mal wieder etwas, was man essen und womit man spielen kann. Weggeworfenes Brot lässt sich, mit Schlamm vermischt, zu einem Küchelchen rollen. Und wer da denkt, in einem Flüchtlingslager gebe es keine zehn Jahre alten Geheimagenten, hat sich getäuscht. Allerdings ist das Geheimagententum eine flüchtige Beschäftigung. Frische Äpfel, wenn man sie mal bekommt, sind aufregender. Und außerdem patrouillieren da mit echten Waffen ausgestattete Männer, die den Verwaltungsbau bewachen.
„Das Lager ist anders, als es sich die meisten Leute vorstellen“, erzählt J, „manche Leute kommen, um uns Lebensmittel und saubere Kleider zu bringen. Ihr solltet sie mal sehen – sie ziehen ein Gesicht, als wäre die Welt explodiert.“ Man sieht: J lässt sich nicht unterkriegen. Er hat Sinn für Sarkasmus und einen guten Humor, und er hat seine Freunde.
Eines Tages macht J einen besonderen Fund: Kleine Spielzeugfiguren – einen Soldaten, einen römischen Gladiator und einen Arzt. Mit den Augen von J gesehen, bringt der Autor diese Figuren zum Leben: Jede einzelne verkörpert eine ganze Welt, eine Welt von Freiheit und Abenteuer, wobei völlig klar ist, dass es sich wirklich um nichts anderes als billige Plastikteile handelt. Die Leser dieser Erzählung werden nicht für dumm verkauft. J selbst ist ja nicht blöd. Er findet ein Gemisch von aufgeweichtem Brot und Schlamm ekelhaft. Er weiß, dass er mit Müll spielt. Die Kunst – Js Kunst und die des Autors – besteht darin, aus Dreck etwas zu machen. Auch wer sich als Kleinkind vor Playmobilfiguren kaum hat retten können, mag nun den Soldaten, den Gladiator und den Arzt in dieser Geschichte interessanter finden, als das eigene vor Jahren schon weggelegte Spielzeug je gewesen ist.
Steve Tasane ist es gelungen, über schlimmes Schicksal zu schreiben, ohne kitschig zu klingen. Er schreibt mit Witz. Und Henning Ahrens’ Übersetzung ins Deutsche ist ganz vorzüglich. Tasanes hintersinniges Verständnis für kindliche Belange steht dem von großen Kinderbuchautoren wie Maurice Sendak und Tomi Ungerer nicht nach. Sein Buch ist allen zu empfehlen, die ein wenig oder sehr viel älter sind als die Kinder, von denen die Geschichte handelt. Wie hat der Autor das hinbekommen? Tasanes Name ist exotisch genug, dass die Leser annehmen könnten, er sei selbst ein Flüchtlingskind. Das ist er aber nicht. Am Ende erklärt er sich: Zwar sei er der Sohn eines Flüchtlings, wuchs in Britannien heran, war auf Schulspeisung angewiesen und brauchte lange, um Englisch zu lernen, aber deshalb habe er „Junge ohne Namen“ nicht geschrieben. Der Grund ist ein anderer: „Das Schlimmste aber war, dass mein Vater uns im Stich ließ, meine Mutter, meine drei Brüder und mich. Wir waren eine kaputte Familie. Ich hasste es, ein ,kaputtes‘ Kind zu sein.“ Deshalb habe er sein Buch geschrieben. Alle beschriebenen Dinge, fügt er an, „sind wahre Ereignisse, die wahre Kinder in wahren Lagern während der letzten Monate überall auf der Welt erlebt haben“.
Steve Tasane: Junge ohne Namen. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Fischer (Sauerländer), Frankfurt 2019. 144 Seiten, 16 Euro.
Das Lager ist anders, als
es sich die meisten Leute
vorstellen
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Ein ergreifendes Buch, das man lesen sollte. Andrea Wanner Titel Kulturmagazin 20200527