Eine sozialphilosophische Kritik des Rechts befragt nicht dessen Abweichen von moralischen oder naturrechtlichen Gesetzen, sondern problematisiert seine Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben. Daniel Loick zeigt in seinem grundlegenden und weit ausgreifenden Buch, dass und wie die problematische Dominanz des Rechts in bürgerlichen Gesellschaft ethisch deformierte, verzerrte oder defizitäre Formen der Subjektivität und Intersubjektivität erzeugt. Dieser Juridismus lässt sich aber nicht durch eine Überwindung oder Abschaffung des Rechts, sondern nur durch dessen radikale Transformation kurieren – hin zu einem wahrhaft menschlichen, das heißt sozialen Recht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.12.2017Was das Recht nicht alles soll bewirken können
Spätbürgerliche Theorieseligkeit: Daniel Loick folgt den Pfaden einer philosophischen Kritik der Rechte
Als Karl Marx 1844 in einer Rezension zweier Schriften Bruno Bauers mit dem Titel "Zur Judenfrage" die Idee der Grund- und Menschenrechte einer fundamentalen Kritik unterzog, blieb er damit politisch erfolglos. Rechte sind heute allgegenwärtig. Sie prägen staatliche und internationale Rechtsordnungen wie den politischen Diskurs mit einer Dominanz, die man sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht hätte vorstellen können. Stattdessen gründete Marx, ohne es zu wollen, ein eigenes wissenschaftliches Genre, eben die "Kritik der Rechte", die über die marxistischen Rechtstheorien Europas in die kritischen Rechtstheorien der Vereinigten Staaten migrierte und heute nicht zuletzt in der deutschen Theorielandschaft eine Renaissance erlebt. Neuere Bücher von Sonja Buckel, Axel Honneth und Christoph Menke bezeugen dies eindrücklich.
Daniel Loicks Frankfurter philosophische Habilitationsschrift steht in diesem Theoriezusammenhang. Die juridische Form deformiert Loick zufolge soziale Zusammenhänge in verschiedenen Dimensionen. Sie kreiert vereinzelte Subjekte, die durch das Instrument des Rechts zu psychologisch, sozial und politisch ausgezehrten Figuren werden. Sie macht aus Menschen Subjekte, die nur auf sich selbst bezogene Ansprüche zu formulieren vermögen. Recht, so die "Grundthese" des Buches, ist auf "Subjektivierungsprozesse angewiesen, die ein gutes oder gelingendes menschliches Leben als Zusammenleben untergraben".
Loicks Buch rekonstruiert diese These beginnend mit Hegels Frühwerk anhand genauer Lektüren namentlich von Hegel, Marx, Nietzsches Kritik der Moral, den Überlegungen von Gilles Deleuze zum Urteil und neueren Beiträgen der kritischen Theorie Frankfurter und angelsächsischer Bauart. In einer bereits etwas abgegrasten Diskussionslandschaft liegt die Stärke des Buches zunächst im sehr gut lesbaren, präzisen und klaren Nachvollzug des kritischen Arguments. Hier gelingt es Loick etwa, in seiner Relektüre von Hegels Text über den "Geist des Christentums" oder in der Deutung von Nietzsches Kritik der Moral als Kritik der Rechtsform neue Perspektiven zu entwickeln.
Dieser Zugang wird durch die vorsichtige Ambivalenz, mit der Loick seine These behandelt, besonders interessant. Dass Rechte auch emanzipatorischen Zwecken dienen können und dass die Kritik am Juridischen ihre eigene durchaus dunkle Geschichte hat, wird von ihm nicht nur schamhaft angedeutet, sondern offensiv behandelt, namentlich in einem furiosen Abschnitt über die antisemitischen Elemente der Juridismuskritik. Diese Ambivalenz sorgt auch dafür, dass Loick ans Ende seiner Überlegungen einen unvermeidlich nur skizzenhaften Gegenentwurf von Recht stellt, der die asozialen Folgen der Verrechtlichung vermeiden soll.
Wenig zwingend erscheint es freilich, hierzu eine hochidealisierte und quellenferne Rekonstruktion des "jüdischen Rechts" als Ausweg anzubieten. Sie schließt an ein ganzes Genre von Büchern deutscher Autoren über jüdisches Recht an, die allesamt keine Quelle im Original lesen können. Auch die These, ein menschlicheres Recht müsse sich transnational von der Staatsgewalt lösen, könnte den Intentionen des Autors zuwiderlaufen. Die Abkoppelung subjektiver Rechte von einer staatlichen Gemeinschaft ist der zentrale juristische Baustein der Globalisierung und eher geeignet, die von ihm beklagten Effekte zu verstärken.
Wer die Geschichte philosophischer Rechtskritik der deutschen Tradition in einer zugleich eigenständigen und gründlichen Aufbereitung kennenlernen will, ist mit der vorliegenden Untersuchung in jedem Fall auch dann exzellent bedient, wenn er ihre philosophischen Voraussetzungen nicht teilt. Dies ändert umgekehrt nichts daran, dass Leser, die diese Geschichte bereits etwas kennen, auf viel Erwartbares treffen und selten intellektuelle Überraschungen erleben werden.
So gut gearbeitet Loicks Untersuchung ist, so sehr ist sie auch Dokument einer Sozialphilosophie, die Einblick in gesellschaftliche Zustände beansprucht, aber introvertiert argumentiert. Dies beginnt bei der Verwendung eines bereits philosophieintern beschränkten Kanons, eben von Hegel bis Honneth, und endet beim vollständigen Desinteresse selbst an der rechtskritischen juristischen Literatur. War die kritische Rechtstheorie der späten 1920er und 1930er durch Autoren wie Otto Kirchheimer oder Franz Neumann noch gesättigt von juristischen Phänomenen, so hat sich die kritische Theorie der Rechte mehr und mehr zu einer philosophischen Selbstbeschäftigung entwickelt, die ihre Thesen mit keinem Blick in die Rechtsentwicklung bestätigen will oder kann.
Für Loicks Buch ist dies deswegen ein spezifisches Problem, weil seine Stärke mehr in der historischen Diskursbegleitung als in einer scharfen begrifflichen Bestimmung des Rechtsbegriffs liegt, wie man sie etwa bei Christoph Menke findet. Damit stellt sich umso dringlicher die Frage, welches Phänomen die dargestellten Kritiken beschreiben und ob die implizite, aber notwendige Unterstellung, die Form des Juridischen sei heute dieselbe wie 1800, zutrifft. Aus dem gleichen Grund wirkt der Bezug der Untersuchung auf genuin juridische Phänomene an manchen Stellen, namentlich bei der Nietzsche-Analyse, zwar anregend, aber auch weithergeholt. Und Loicks Feststellung, dass das europäische Recht "also nicht nur gelegentlich, sondern systematisch Subjekte [produziert], die ihre ethischen Potentiale nicht ausschöpfen, die vielmehr Unglück und Gewalt verursachen", wirft umso dringlicher die Frage auf, wer oder was dieser Akteur "Recht" eigentlich ist und wie er soziale Prozesse verursachen kann.
Aus einem unterbestimmten Gegenstand wird hier ein kausal wirkmächtiges Subjekt, ohne dass diese empirische These anders als durch Theorielektüren belegt werden könnte. Damit übernimmt der Text nicht nur sich selbst, sondern überschätzt auch die gesellschaftliche Relevanz von Recht. Zumindest Letzteres wäre Marx nicht passiert. Es bleibt die anregende Geschichte eines philosophischen Arguments, die in ihrer Phänomenferne nolens volens zu einer spätbürgerlichen, recht unpolitischen Angelegenheit gerät.
CHRISTOPH MÖLLERS
Daniel Loick: "Juridismus". Konturen einer kritischen Theorie des Rechts.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2017. 342 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Spätbürgerliche Theorieseligkeit: Daniel Loick folgt den Pfaden einer philosophischen Kritik der Rechte
Als Karl Marx 1844 in einer Rezension zweier Schriften Bruno Bauers mit dem Titel "Zur Judenfrage" die Idee der Grund- und Menschenrechte einer fundamentalen Kritik unterzog, blieb er damit politisch erfolglos. Rechte sind heute allgegenwärtig. Sie prägen staatliche und internationale Rechtsordnungen wie den politischen Diskurs mit einer Dominanz, die man sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nicht hätte vorstellen können. Stattdessen gründete Marx, ohne es zu wollen, ein eigenes wissenschaftliches Genre, eben die "Kritik der Rechte", die über die marxistischen Rechtstheorien Europas in die kritischen Rechtstheorien der Vereinigten Staaten migrierte und heute nicht zuletzt in der deutschen Theorielandschaft eine Renaissance erlebt. Neuere Bücher von Sonja Buckel, Axel Honneth und Christoph Menke bezeugen dies eindrücklich.
Daniel Loicks Frankfurter philosophische Habilitationsschrift steht in diesem Theoriezusammenhang. Die juridische Form deformiert Loick zufolge soziale Zusammenhänge in verschiedenen Dimensionen. Sie kreiert vereinzelte Subjekte, die durch das Instrument des Rechts zu psychologisch, sozial und politisch ausgezehrten Figuren werden. Sie macht aus Menschen Subjekte, die nur auf sich selbst bezogene Ansprüche zu formulieren vermögen. Recht, so die "Grundthese" des Buches, ist auf "Subjektivierungsprozesse angewiesen, die ein gutes oder gelingendes menschliches Leben als Zusammenleben untergraben".
Loicks Buch rekonstruiert diese These beginnend mit Hegels Frühwerk anhand genauer Lektüren namentlich von Hegel, Marx, Nietzsches Kritik der Moral, den Überlegungen von Gilles Deleuze zum Urteil und neueren Beiträgen der kritischen Theorie Frankfurter und angelsächsischer Bauart. In einer bereits etwas abgegrasten Diskussionslandschaft liegt die Stärke des Buches zunächst im sehr gut lesbaren, präzisen und klaren Nachvollzug des kritischen Arguments. Hier gelingt es Loick etwa, in seiner Relektüre von Hegels Text über den "Geist des Christentums" oder in der Deutung von Nietzsches Kritik der Moral als Kritik der Rechtsform neue Perspektiven zu entwickeln.
Dieser Zugang wird durch die vorsichtige Ambivalenz, mit der Loick seine These behandelt, besonders interessant. Dass Rechte auch emanzipatorischen Zwecken dienen können und dass die Kritik am Juridischen ihre eigene durchaus dunkle Geschichte hat, wird von ihm nicht nur schamhaft angedeutet, sondern offensiv behandelt, namentlich in einem furiosen Abschnitt über die antisemitischen Elemente der Juridismuskritik. Diese Ambivalenz sorgt auch dafür, dass Loick ans Ende seiner Überlegungen einen unvermeidlich nur skizzenhaften Gegenentwurf von Recht stellt, der die asozialen Folgen der Verrechtlichung vermeiden soll.
Wenig zwingend erscheint es freilich, hierzu eine hochidealisierte und quellenferne Rekonstruktion des "jüdischen Rechts" als Ausweg anzubieten. Sie schließt an ein ganzes Genre von Büchern deutscher Autoren über jüdisches Recht an, die allesamt keine Quelle im Original lesen können. Auch die These, ein menschlicheres Recht müsse sich transnational von der Staatsgewalt lösen, könnte den Intentionen des Autors zuwiderlaufen. Die Abkoppelung subjektiver Rechte von einer staatlichen Gemeinschaft ist der zentrale juristische Baustein der Globalisierung und eher geeignet, die von ihm beklagten Effekte zu verstärken.
Wer die Geschichte philosophischer Rechtskritik der deutschen Tradition in einer zugleich eigenständigen und gründlichen Aufbereitung kennenlernen will, ist mit der vorliegenden Untersuchung in jedem Fall auch dann exzellent bedient, wenn er ihre philosophischen Voraussetzungen nicht teilt. Dies ändert umgekehrt nichts daran, dass Leser, die diese Geschichte bereits etwas kennen, auf viel Erwartbares treffen und selten intellektuelle Überraschungen erleben werden.
So gut gearbeitet Loicks Untersuchung ist, so sehr ist sie auch Dokument einer Sozialphilosophie, die Einblick in gesellschaftliche Zustände beansprucht, aber introvertiert argumentiert. Dies beginnt bei der Verwendung eines bereits philosophieintern beschränkten Kanons, eben von Hegel bis Honneth, und endet beim vollständigen Desinteresse selbst an der rechtskritischen juristischen Literatur. War die kritische Rechtstheorie der späten 1920er und 1930er durch Autoren wie Otto Kirchheimer oder Franz Neumann noch gesättigt von juristischen Phänomenen, so hat sich die kritische Theorie der Rechte mehr und mehr zu einer philosophischen Selbstbeschäftigung entwickelt, die ihre Thesen mit keinem Blick in die Rechtsentwicklung bestätigen will oder kann.
Für Loicks Buch ist dies deswegen ein spezifisches Problem, weil seine Stärke mehr in der historischen Diskursbegleitung als in einer scharfen begrifflichen Bestimmung des Rechtsbegriffs liegt, wie man sie etwa bei Christoph Menke findet. Damit stellt sich umso dringlicher die Frage, welches Phänomen die dargestellten Kritiken beschreiben und ob die implizite, aber notwendige Unterstellung, die Form des Juridischen sei heute dieselbe wie 1800, zutrifft. Aus dem gleichen Grund wirkt der Bezug der Untersuchung auf genuin juridische Phänomene an manchen Stellen, namentlich bei der Nietzsche-Analyse, zwar anregend, aber auch weithergeholt. Und Loicks Feststellung, dass das europäische Recht "also nicht nur gelegentlich, sondern systematisch Subjekte [produziert], die ihre ethischen Potentiale nicht ausschöpfen, die vielmehr Unglück und Gewalt verursachen", wirft umso dringlicher die Frage auf, wer oder was dieser Akteur "Recht" eigentlich ist und wie er soziale Prozesse verursachen kann.
Aus einem unterbestimmten Gegenstand wird hier ein kausal wirkmächtiges Subjekt, ohne dass diese empirische These anders als durch Theorielektüren belegt werden könnte. Damit übernimmt der Text nicht nur sich selbst, sondern überschätzt auch die gesellschaftliche Relevanz von Recht. Zumindest Letzteres wäre Marx nicht passiert. Es bleibt die anregende Geschichte eines philosophischen Arguments, die in ihrer Phänomenferne nolens volens zu einer spätbürgerlichen, recht unpolitischen Angelegenheit gerät.
CHRISTOPH MÖLLERS
Daniel Loick: "Juridismus". Konturen einer kritischen Theorie des Rechts.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2017. 342 S., br., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Studie ist dafür zu loben, wie sie ältere Theoriesprachen ... in eine aktuelle Theoriesprache übersetzt. Sie ist klar und schlüssig aufgebaut und verbindet und integriert unterschiedliche Theoriestränge.« Dr. Wolfgang Hellmich ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 20210301