Ein weites Feld
Eines muss man Petra Morsbach lassen, in ihren Romanen wagt sie sich mutig an große Fragen unserer Zeit, so auch in ihrem neuen, hoch prämierten Bildungsroman «Justizpalast», dem eine neunjährige Recherchearbeit der Nichtjuristin vorausging. Etwa fünfzig Juristen, unter ihnen
dreißig Richter, hätten ihr mit Rat und Tat bei dieser Fleißarbeit auf schwierigem, mitunter auch…mehrEin weites Feld
Eines muss man Petra Morsbach lassen, in ihren Romanen wagt sie sich mutig an große Fragen unserer Zeit, so auch in ihrem neuen, hoch prämierten Bildungsroman «Justizpalast», dem eine neunjährige Recherchearbeit der Nichtjuristin vorausging. Etwa fünfzig Juristen, unter ihnen dreißig Richter, hätten ihr mit Rat und Tat bei dieser Fleißarbeit auf schwierigem, mitunter auch vermintem Terrain geholfen, ließ sie wissen, jeweils mindesten zwei von ihnen haben Korrektur gelesen. Anders aber als in «Landgericht» stehen hier die Justiz und ihre ausführenden Organe selbst im Mittelpunkt, gespiegelt an der Vita einer extrem ehrgeizigen Juristin, und nicht, wie bei Ursula Krechel, das tragische Schicksal eines um Restitution kämpfenden jüdischen Richters nach dem Zweiten Weltkrieg. Der muss nämlich am eigenen Leibe erfahren, dass jenes von ihm immer so überkorrekt angewendete Recht rein gar nichts mit Gerechtigkeit zu tun hat. Eine Erfahrung übrigens, die auch Morsbachs Protagonistin machen muss. Ein weites Feld also, wie sich der potentielle Leser denken kann.
Thirza wird als Kind aus einem desaströsen Elternhaus vom Großvater und zwei Tanten liebevoll großgezogen und antwortet irgendwann auf die Frage des Opas, eines pensionierten Richters alter Schule, was sie denn mal werden möchte, unbeirrt: Richterin. Und das intelligente Mädchen erreicht schließlich auch mit Intelligenz und Fleiß ihr Traumziel, sie landet im Münchner Justizpalast. Ihr Werdegang und die Karriere sind das literarische Rückgrad einer bereichernden Erzählung, aus der in unzähligen Verästelungen mit Zitaten aus Schriftsätzen oder Skizzen der Vita sämtlicher Figuren allmählich ein beeindruckendes Panorama des rechtsuchenden Bürgers und der Organe der Rechtsprechung entsteht. In ihrem selbstlosen Eifer lebt Thirza gründlich am Leben vorbei und genießt, nach wenig ermunternden Versuchen mit der Männerwelt, ein viel zu kurzes, spätes Glück. Schließlich meldet sich dann auch bei ihr das Leben, denn überdeutlich bekommt sie, ganz unerwartet, gesundheitlich einen Schuss vor den Bug.
In hunderten von Einschüben erzählt die auktoriale Erzählerin von Thirzas Kollegen und Vorgesetzten, von den Klägern und Beklagten, von den Ränkespielen und Intrigen im Justizapparat, und natürlich von den teils aberwitzig komplizierten Rechtsfällen, mit denen ihre Protagonistin befasst ist. All die unzähligen Figuren in diesem Roman werden detailliert beschrieben, schon das Äußere erscheint dabei oft als Indiz für die Psyche, aber auch ihre Vita wird skizziert, sie geht in das individuelle Bild ihrer Persönlichkeit mit ein. Das ist für Thirza dann hilfreich, wenn verzwickte, aussichtslos scheinende Fälle zu richten sind oder, im Zivilrecht, wenn Vergleiche anstehen. Und der Roman ist gespickt mit rechtsphilosophischen Aphorismen, deren Urheber bis zu Augustinus und in die Antike zurückreichen und die den Gesprächstoff bilden in vielen Debatten Thirzas mit den Kollegen.
Dabei geht es oft lustig zu, in geradezu funkelnden, schlagfertigen Disputen werden da die Klingen gekreuzt, und vieles davon ist unübersehbar ironisch angelegt von der Autorin. Die narrativ äußerst schwierige Symbiose zwischen emotional aufgeladenem Geschehen und völlig seelenloser Rechtssystematik ist hier jedenfalls gut gelungen, die Lektüre ist ebenso bereichernd wie unterhaltend. Mit seiner seriellen Erzählweise ist der Roman zudem vom unkomplizierten Plot her leicht lesbar, auch in Etappen, wobei allerdings gewisse Längen nicht übersehbar sind. «Das Unrecht geht immer weiter, aber das Bemühen um Gerechtigkeit auch» heißt es zum Schluss versöhnlich. «Wunderbar … wenn das ein Roman wäre, müsste er hier enden» antwortet Thirza daraufhin, und das ist dann tatsächlich auch der letzte Satz. En passant erhält der Leser hier also einen tiefen Einblick in unser für Laien ziemlich abstraktes und oft auch unverständliches Rechtssystem, und genau darin aber liegt der Verdienst dieser Lektüre.