Der gefeierte Liebes- und Entwicklungsroman von Japans wichtigstem Autor: zeitlos und ortlos, voller Märchen und Mythen, zwischen Traum und Wirklichkeit – und dabei voller Weisheit. »Als mein fünfzehnter Geburtstag gekommen war, ging ich von zu Hause fort, um in einer fernen, fremden Stadt in einem Winkel einer kleinen Bibliothek zu leben.« – Es erzählt Kafka Tamura, und seine Reise führt in Wirklichkeit aus der realen Welt hinaus in sein eigenes Inneres. Eine schicksalhafte Prophezeiung, der Geschichte von Ödipus gleich, lenkt Kafkas labyrinthischen Weg. ›Kafka am Strand‹ heißt das Bild an der Wand von Saeki, der rätselhaften Leiterin jener kleinen Bibliothek. Und ›Kafka am Strand‹ heißt auch der Song aus der Zeit, als Saeki noch Pianistin war und einen jungen Mann leidenschaftlich liebte, sie waren ein Paar wie Romeo und Julia. Die Wege des Erzählers Kafka kreuzen sich auf geheimnisvolle Weise mit denen von Saeki und denen eines alten Mannes, der die Sprache der Katzen versteht und Spuren folgt, die in eine andere Welt weisen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.04.2004Das Geheimnis des Herrn Murakami
Einsamkeit und Musik, Spaghetti und Duschen. In "Kafka am Strand" zeigt er es wieder allen
Haruki Murakami macht eigentlich alles falsch: Seine Romane haben keinen Spannungsbogen, galoppieren nicht durch die Epochen, zeigen keine entlegenen sozialen Randgruppen und spielen nie im ewigen Eis, im Dschungel oder in New York. Im Literaturkurs eines Tom Wolfe käme der Mann also nicht weit. Seine neuen Bücher sind irgendwann einfach da, liegen in den Buchhandlungen herum, von einer begleitenden Medienkampagne kann man im Ernst nicht sprechen. Daß seine Bücher in Japan sogleich nach Veröffentlichung den ersten Platz der Bestsellerlisten erobern, kann man sich trotzdem grade noch so vorstellen - dort soll es ja in manchen Dingen anders zugehen als hier.
Wie es aber kommt, daß seine Bücher auch überall sonst auf der Welt so außerordentlich gut verkauft werden, daß sie außerdem so viel diskutiert, so heiß geliebt werden, das ist eine andere Frage, wie sie allerdings nur die stellen, die noch nie etwas von ihm gelesen haben. Es geht im Werk von Murakami weniger um einzelne Geschichten als vielmehr um eine spezielle Stimmung, eine Murakami-Mood, die sich so jazzmäßig in allen Büchern ausbreitet.
Wenn man allein den Plot seines neuesten Romans, "Kafka am Strand", betrachtet, verfehlt man jedenfalls den Kern der Sache. Die über sechshundert Seiten währende Suche des fünfzehnjährigen Kafka Tamura nach Liebe und Identität entlang der Ödipusgeschichte nimmt derart viele Abzweigungen und Windungen, daß man auch dreihundert Seiten mehr oder weniger mitgeht. Irgendwann gibt es eine wirklich ekelhaft grausame Szene, in der ein geistig behinderter älterer Herr, der mit Katzen sprechen kann, zusehen muß, wie Johnny Walker, der Mann aus der Werbung, einige Katzen quält und tötet, um aus ihren Seelen eine Flöte zu basteln. Das ist so schräg, daß man sich beim Lesen fragt, was man da eigentlich bitte gerade liest. Und es gibt, sehr zur Freude aller Rezensenten, die expliziten, dabei immer betont naiv daherkommenden Sexszenen. Zwischen solchen Spaziergängen zu den Extremen findet das Buch jedoch zurück zu den Murakami-Standardsituationen, schildert, wie ein einsamer Vormittag sich anfühlt, was einer macht, der eigentlich nichts macht. Murakami beschreibt alltägliche Handlungen wie Duschen und Spaghettikochen mit einer Intensität und Hingabe, die andere Schriftsteller nur bei Naturschilderungen aufbringen. Die andere große Liebe des Autors gehört Situationen, in denen zwei outcasts aufeinandertreffen. Nicht immer sind das Junge und Mädchen, manchmal auch Mann und Vogel oder Idiot und Katze, aber zu lesen, wie in diesen luziden und witzigen Dialogen auch zwischen den kompliziertesten Eigenbrötlern noch eine wirkliche Kommunikation möglich ist, eine Verständigung in welcher Sprache auch immer, zwischen Zeitsphären, selbst zwischen Gespenstern und Lkw-Fahrern, das ist die helle Freude an der Murakami-Lektüre. Zugleich eine romantische Darstellung einer nahezu autistischen Lebensführung in Einsamkeit und Musik geben zu können, wie auch den Ausgang daraus in der Liebe, damit macht Murakami süchtig.
Es stimmt schon - und er selbst weiß es wohl am besten -, daß er sein bestes Buch, es heißt "Naokos Lächeln", längst geschrieben hat und daß er seitdem die Motive daraus nur variiert. Aber auch zu allen späteren Büchern kann man nur, nein: muß man unbedingt sagen: Gut genug für uns.
mink
Haruki Murakami: Kafka am Strand. Roman DuMont. 637 Seiten. 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Einsamkeit und Musik, Spaghetti und Duschen. In "Kafka am Strand" zeigt er es wieder allen
Haruki Murakami macht eigentlich alles falsch: Seine Romane haben keinen Spannungsbogen, galoppieren nicht durch die Epochen, zeigen keine entlegenen sozialen Randgruppen und spielen nie im ewigen Eis, im Dschungel oder in New York. Im Literaturkurs eines Tom Wolfe käme der Mann also nicht weit. Seine neuen Bücher sind irgendwann einfach da, liegen in den Buchhandlungen herum, von einer begleitenden Medienkampagne kann man im Ernst nicht sprechen. Daß seine Bücher in Japan sogleich nach Veröffentlichung den ersten Platz der Bestsellerlisten erobern, kann man sich trotzdem grade noch so vorstellen - dort soll es ja in manchen Dingen anders zugehen als hier.
Wie es aber kommt, daß seine Bücher auch überall sonst auf der Welt so außerordentlich gut verkauft werden, daß sie außerdem so viel diskutiert, so heiß geliebt werden, das ist eine andere Frage, wie sie allerdings nur die stellen, die noch nie etwas von ihm gelesen haben. Es geht im Werk von Murakami weniger um einzelne Geschichten als vielmehr um eine spezielle Stimmung, eine Murakami-Mood, die sich so jazzmäßig in allen Büchern ausbreitet.
Wenn man allein den Plot seines neuesten Romans, "Kafka am Strand", betrachtet, verfehlt man jedenfalls den Kern der Sache. Die über sechshundert Seiten währende Suche des fünfzehnjährigen Kafka Tamura nach Liebe und Identität entlang der Ödipusgeschichte nimmt derart viele Abzweigungen und Windungen, daß man auch dreihundert Seiten mehr oder weniger mitgeht. Irgendwann gibt es eine wirklich ekelhaft grausame Szene, in der ein geistig behinderter älterer Herr, der mit Katzen sprechen kann, zusehen muß, wie Johnny Walker, der Mann aus der Werbung, einige Katzen quält und tötet, um aus ihren Seelen eine Flöte zu basteln. Das ist so schräg, daß man sich beim Lesen fragt, was man da eigentlich bitte gerade liest. Und es gibt, sehr zur Freude aller Rezensenten, die expliziten, dabei immer betont naiv daherkommenden Sexszenen. Zwischen solchen Spaziergängen zu den Extremen findet das Buch jedoch zurück zu den Murakami-Standardsituationen, schildert, wie ein einsamer Vormittag sich anfühlt, was einer macht, der eigentlich nichts macht. Murakami beschreibt alltägliche Handlungen wie Duschen und Spaghettikochen mit einer Intensität und Hingabe, die andere Schriftsteller nur bei Naturschilderungen aufbringen. Die andere große Liebe des Autors gehört Situationen, in denen zwei outcasts aufeinandertreffen. Nicht immer sind das Junge und Mädchen, manchmal auch Mann und Vogel oder Idiot und Katze, aber zu lesen, wie in diesen luziden und witzigen Dialogen auch zwischen den kompliziertesten Eigenbrötlern noch eine wirkliche Kommunikation möglich ist, eine Verständigung in welcher Sprache auch immer, zwischen Zeitsphären, selbst zwischen Gespenstern und Lkw-Fahrern, das ist die helle Freude an der Murakami-Lektüre. Zugleich eine romantische Darstellung einer nahezu autistischen Lebensführung in Einsamkeit und Musik geben zu können, wie auch den Ausgang daraus in der Liebe, damit macht Murakami süchtig.
Es stimmt schon - und er selbst weiß es wohl am besten -, daß er sein bestes Buch, es heißt "Naokos Lächeln", längst geschrieben hat und daß er seitdem die Motive daraus nur variiert. Aber auch zu allen späteren Büchern kann man nur, nein: muß man unbedingt sagen: Gut genug für uns.
mink
Haruki Murakami: Kafka am Strand. Roman DuMont. 637 Seiten. 24,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Susanne Messmer ist entzückt. Haruki Murakamis neuer Roman, einer seiner drei besten, wie sie gleich zu Beginn versichert, sei nämlich eines jener seltenen Bücher, die man so langsam wie möglich lese, "vor lauter Angst, dass sie zu schnell zu Ende gehen und dann lange keins wie dieses mehr kommt". Als Grundmotiv des Romans identifiziert die Rezensentin die Bewegung, sowohl auf inhaltlicher - sie bezeichnet den Roman als "Road Novel" - als auch auf sprachlicher Ebene. Die geschmeidige Art und Weise, wie Murakami die Geschichten des jungen Kafka Tamura und des heiligen Narren Nakata erzählt und schließlich ineinander fließen lässt, gefällt Messmer außerordentlich. Den "Zauber" von Murakamis Büchern erklärt sie sich aus der "Lust am Spiel mit dem Bedürfnis, allen Dingen einen Sinn zu geben". Nie rutscht der Autor dabei in Esoterische ab, weil er immer wieder das Bedeutsame mit dem Banalen bricht, lobt die Rezensentin, und weil er seine Geschichte in einer "bestrickend einfachen" Sprache erzählt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2004Unterm Fischregen
Zart, klug und jung: Haruki Murakamis „Kafka am Strand”
Heute ist der fünfzehnte Geburtstag von Kafka Tamura – ein guter Tag, um von daheim abzuhauen, meint er. Denn vorher wäre es vielleicht zu früh, später möglicherweise zu spät. Was er genau will, weiß er nicht, nur – weg: weg von der grässlichen Schule und von seinem kalten, abweisenden Vater, einem berühmten Bildhauer, mit dem er allein zusammengelebt hat, seit seine Mutter und ältere Schwester ohne ein Wort auf- und davongegangen sind. Da war er vier gewesen.
Natürlich heißt er nicht wirklich Kafka, den Namen hat er sich eigenmächtig zugelegt. Doch einen anderen erfährt der Leser nicht auf den 636 Seiten des neuen Buchs von Haruki Murakami, „Kafka am Strand”. Das Original heißt „Umibe no Kafuka” – „Kafka” könnte ein Japaner nicht aussprechen, wie dortzulande ja auch aus einem Picknick ein Pikuniku wird. Kafka und andere Versatzstücke der europäischen Kultur sind die Geheimzeichen, an denen die Figuren des Buchs, über alle äußeren Differenzen und Hindernisse hinweg, einander in ihrer seelischen Besonderheit erkennen. Kafka freundet sich mit Oshima an, dem Bibliothekar der kleinen edlen Privatbibliothek, die ihm Unterschlupf gewährt, in Wahrheit einem Hermaphroditen, der in seinem Körper unglücklich ist. Und beide verehren Saeki-san, die Chefin der Bibliothek, eine überaus gepflegte Dame mittleren Alters, die bloß immer ein bisschen absent wirkt. Selbst der Fernfahrer Hoshino, mit seinem Hang zu Frauengeschichten und Schlägereien, tritt in diese Sphäre ein, als ihm der Zauber der Musik an Beethovens Erzherzog-Trio aufgeht. (Wie „Erzherzog-Trio” auf Japanisch klingt, kann man nur mutmaßen.)
Nicht ohne Regenschirm
Das ist eindeutig mehr, als Nakata begreifen kann, der Idiot savant des Buchs und sein zweiter Handlungsträger, ein älterer, freundlicher Mann, der seit einem mysteriösen Unfall in seiner Kindheit nicht mehr lesen, schreiben und rechnen kann und von sich selbst in der dritten Person redet. Aber er spricht die Sprache der Katzen und verfügt über die Fähigkeit, gegebenenfalls Blutegel oder kleine Fische vom Himmel regnen zu lassen. Für diese Anlässe trägt er stets einen Regenschirm bei sich.
Der Reiz des Romans (und von Murakamis Schreiben überhaupt) liegt darin, wie er Menschen, die sich einsam und unverstanden fühlen, einander finden und verstehen lässt. Das Muster, dem diese Beziehungen zustreben, ist das geschwisterliche, dieses informellste und süßeste aller Privatverhältnisse, frei von Pflichten und Hierarchien, das märchenhafte Miteinanderverlorengehen von Brüderlein und Schwesterlein. Väter sind fern und bedrohlich, Mütter verschwinden und hinterlassen eine nie zu verschmerzende Leere. Aber Kafka begegnet an einer Raststätte zufällig der 21-jährigen Friseuse Sakura, sie nimmt ihn mit heim, und sie kriechen zusammen ins Bett. „Sie legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich an sich. Dann legt sie ihre Wange an meine und sagt: ,Du Armer.’ Natürlich bekomme ich eine Erektion. Eine überaus harte. Und es lässt sich nicht vermeiden, dass ich damit Sakuras Oberschenkel berühre.,Na, na’, sagt sie. ,Das ist keine böse Absicht’, entschuldige ich mich. ,Ich kann nichts dafür.’ ,Ich verstehe schon’, sagt sie. ,Ich weiß, wie lästig das ist. Ihr könnt das nicht kontrollieren.’ Ich nicke im Dunkeln.” Sie verschafft ihm Erleichterung.
Sex ist das natürlich nicht, sondern eine Vertiefung des Trosts, den sie ihm spendet. Im Grunde ist es auch nicht einmal Sex, als Kafka schließlich mit Saeki-san schläft, bei der manches dafür spricht, dass es sich bei ihr in Wahrheit um seine lang verschollene Mutter handelt: Sie schlafwandelt, und er kehrt in ihren Schoß zurück wie in einen vorgeburtlichen Zustand. Daran wird auch die Prophezeiung des bösen Vaters zunichte, der vorausgesagt hatte, der Sohn werde dereinst ihn, den Vater, töten und seine Mutter schänden: Zwar wird der Vater unter rätselhaften Umständen wirklich umgebracht; die Kindlichkeit der Vereinigung mit der Mutter jedoch nimmt dem Ödipus-Drama den Wind aus den Segeln und löst es auf in Unschuld. Saeki-san stirbt, wie nach Erfüllung einer lang überfälligen Aufgabe, der Sohn jedoch steht am Beginn seines neuen Lebens.
Leider lässt es sich Murakami an dieser zarten Privatwelt in der verwunschenen Bibliothek nicht genügen, sondern zieht im Fortgang des Buchs einen immer massiveren doppelten Boden ein: Nakata, der beschränkte bescheidene Katzenaufspürer, empfängt einen unklaren aber dringlichen Auftrag, der sich ihm erst allmählich erschließt, auf einer Reise, die er auf den Spuren von Kafka antritt, jedoch ohne von ihm zu wissen: Er muss den „weißen Eingangsstein” finden, der das Tor in eine andere Etage der Realität auftut und schließt; das Schicksal aller Beteiligten hängt daran.
Er und sein Begleiter Hoshino treiben den Stein schließlich auf (ein geisterhaftes Wesen, das sich als Colonel Sanders von Kentucky Fried Chicken verkörpert hat, hilft ihnen dabei), der Stein gewinnt plötzliche Schwere, so dass selbst der sehnige Hoshino ihn nur mit äußerster Muehe anheben und wenden kann, er tut es, die andere Welt öffnet sich, ohne dass man recht begreift, was eigentlich passiert ... So ähnlich hätte Stephen King das auch gemacht.
Die Verhältnisse zwischen den Figuren, nunmehr in einer mystisch jenseitigen Sphäre gestiftet, degenerieren vom Geheimnisvollen ins Geheimnistuerische, die Geschichte verflacht zum klassischen „Quest”, nun auch strukturell ganz schlicht gestrickt: immer ein Kapitel, das von der Gruppe Kafka – Oshima – Saeki-san, und eines, das von der Gruppe Nataka – Hoshino berichtet, eins links, eins rechts, bis zum Ende, auf das man dann gar nicht mehr so gespannt ist.
Trotzdem, da bin ich mir ziemlich sicher, wird das Buch seine Leser finden, und es werden vorwiegend junge Leser sein. Denn davon, wie es ist, verlassen zu sein, und auf welche überraschende Weise man aus dieser typischen Falle des Anfangs herauskommt, davon kann niemand so schreiben wie Murakami. Dass dabei in der Rede des Ich-Erzählers Kafka ein Ton getroffen wird, der zugleich der Jugendsprache angehört und doch eine feinfühlige Intelligenz widerspiegelt, dürfte weitgehend das Verdienst der Übersetzerin Ursula Graefe sein. Er tritt dem Leser nahe, ohne dass das Fremde der japanischen Kultur unterschlagen würde. Wie sie Kafka selbst es ausdrücken lässt: „Alles in Buddha!”
BURKHARD MÜLLER
HARUKI MURAKAMI: Kafka am Strand. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Graefe. DuMont Verlag, Köln 2004. 636 Seiten, 24,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Zart, klug und jung: Haruki Murakamis „Kafka am Strand”
Heute ist der fünfzehnte Geburtstag von Kafka Tamura – ein guter Tag, um von daheim abzuhauen, meint er. Denn vorher wäre es vielleicht zu früh, später möglicherweise zu spät. Was er genau will, weiß er nicht, nur – weg: weg von der grässlichen Schule und von seinem kalten, abweisenden Vater, einem berühmten Bildhauer, mit dem er allein zusammengelebt hat, seit seine Mutter und ältere Schwester ohne ein Wort auf- und davongegangen sind. Da war er vier gewesen.
Natürlich heißt er nicht wirklich Kafka, den Namen hat er sich eigenmächtig zugelegt. Doch einen anderen erfährt der Leser nicht auf den 636 Seiten des neuen Buchs von Haruki Murakami, „Kafka am Strand”. Das Original heißt „Umibe no Kafuka” – „Kafka” könnte ein Japaner nicht aussprechen, wie dortzulande ja auch aus einem Picknick ein Pikuniku wird. Kafka und andere Versatzstücke der europäischen Kultur sind die Geheimzeichen, an denen die Figuren des Buchs, über alle äußeren Differenzen und Hindernisse hinweg, einander in ihrer seelischen Besonderheit erkennen. Kafka freundet sich mit Oshima an, dem Bibliothekar der kleinen edlen Privatbibliothek, die ihm Unterschlupf gewährt, in Wahrheit einem Hermaphroditen, der in seinem Körper unglücklich ist. Und beide verehren Saeki-san, die Chefin der Bibliothek, eine überaus gepflegte Dame mittleren Alters, die bloß immer ein bisschen absent wirkt. Selbst der Fernfahrer Hoshino, mit seinem Hang zu Frauengeschichten und Schlägereien, tritt in diese Sphäre ein, als ihm der Zauber der Musik an Beethovens Erzherzog-Trio aufgeht. (Wie „Erzherzog-Trio” auf Japanisch klingt, kann man nur mutmaßen.)
Nicht ohne Regenschirm
Das ist eindeutig mehr, als Nakata begreifen kann, der Idiot savant des Buchs und sein zweiter Handlungsträger, ein älterer, freundlicher Mann, der seit einem mysteriösen Unfall in seiner Kindheit nicht mehr lesen, schreiben und rechnen kann und von sich selbst in der dritten Person redet. Aber er spricht die Sprache der Katzen und verfügt über die Fähigkeit, gegebenenfalls Blutegel oder kleine Fische vom Himmel regnen zu lassen. Für diese Anlässe trägt er stets einen Regenschirm bei sich.
Der Reiz des Romans (und von Murakamis Schreiben überhaupt) liegt darin, wie er Menschen, die sich einsam und unverstanden fühlen, einander finden und verstehen lässt. Das Muster, dem diese Beziehungen zustreben, ist das geschwisterliche, dieses informellste und süßeste aller Privatverhältnisse, frei von Pflichten und Hierarchien, das märchenhafte Miteinanderverlorengehen von Brüderlein und Schwesterlein. Väter sind fern und bedrohlich, Mütter verschwinden und hinterlassen eine nie zu verschmerzende Leere. Aber Kafka begegnet an einer Raststätte zufällig der 21-jährigen Friseuse Sakura, sie nimmt ihn mit heim, und sie kriechen zusammen ins Bett. „Sie legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich an sich. Dann legt sie ihre Wange an meine und sagt: ,Du Armer.’ Natürlich bekomme ich eine Erektion. Eine überaus harte. Und es lässt sich nicht vermeiden, dass ich damit Sakuras Oberschenkel berühre.,Na, na’, sagt sie. ,Das ist keine böse Absicht’, entschuldige ich mich. ,Ich kann nichts dafür.’ ,Ich verstehe schon’, sagt sie. ,Ich weiß, wie lästig das ist. Ihr könnt das nicht kontrollieren.’ Ich nicke im Dunkeln.” Sie verschafft ihm Erleichterung.
Sex ist das natürlich nicht, sondern eine Vertiefung des Trosts, den sie ihm spendet. Im Grunde ist es auch nicht einmal Sex, als Kafka schließlich mit Saeki-san schläft, bei der manches dafür spricht, dass es sich bei ihr in Wahrheit um seine lang verschollene Mutter handelt: Sie schlafwandelt, und er kehrt in ihren Schoß zurück wie in einen vorgeburtlichen Zustand. Daran wird auch die Prophezeiung des bösen Vaters zunichte, der vorausgesagt hatte, der Sohn werde dereinst ihn, den Vater, töten und seine Mutter schänden: Zwar wird der Vater unter rätselhaften Umständen wirklich umgebracht; die Kindlichkeit der Vereinigung mit der Mutter jedoch nimmt dem Ödipus-Drama den Wind aus den Segeln und löst es auf in Unschuld. Saeki-san stirbt, wie nach Erfüllung einer lang überfälligen Aufgabe, der Sohn jedoch steht am Beginn seines neuen Lebens.
Leider lässt es sich Murakami an dieser zarten Privatwelt in der verwunschenen Bibliothek nicht genügen, sondern zieht im Fortgang des Buchs einen immer massiveren doppelten Boden ein: Nakata, der beschränkte bescheidene Katzenaufspürer, empfängt einen unklaren aber dringlichen Auftrag, der sich ihm erst allmählich erschließt, auf einer Reise, die er auf den Spuren von Kafka antritt, jedoch ohne von ihm zu wissen: Er muss den „weißen Eingangsstein” finden, der das Tor in eine andere Etage der Realität auftut und schließt; das Schicksal aller Beteiligten hängt daran.
Er und sein Begleiter Hoshino treiben den Stein schließlich auf (ein geisterhaftes Wesen, das sich als Colonel Sanders von Kentucky Fried Chicken verkörpert hat, hilft ihnen dabei), der Stein gewinnt plötzliche Schwere, so dass selbst der sehnige Hoshino ihn nur mit äußerster Muehe anheben und wenden kann, er tut es, die andere Welt öffnet sich, ohne dass man recht begreift, was eigentlich passiert ... So ähnlich hätte Stephen King das auch gemacht.
Die Verhältnisse zwischen den Figuren, nunmehr in einer mystisch jenseitigen Sphäre gestiftet, degenerieren vom Geheimnisvollen ins Geheimnistuerische, die Geschichte verflacht zum klassischen „Quest”, nun auch strukturell ganz schlicht gestrickt: immer ein Kapitel, das von der Gruppe Kafka – Oshima – Saeki-san, und eines, das von der Gruppe Nataka – Hoshino berichtet, eins links, eins rechts, bis zum Ende, auf das man dann gar nicht mehr so gespannt ist.
Trotzdem, da bin ich mir ziemlich sicher, wird das Buch seine Leser finden, und es werden vorwiegend junge Leser sein. Denn davon, wie es ist, verlassen zu sein, und auf welche überraschende Weise man aus dieser typischen Falle des Anfangs herauskommt, davon kann niemand so schreiben wie Murakami. Dass dabei in der Rede des Ich-Erzählers Kafka ein Ton getroffen wird, der zugleich der Jugendsprache angehört und doch eine feinfühlige Intelligenz widerspiegelt, dürfte weitgehend das Verdienst der Übersetzerin Ursula Graefe sein. Er tritt dem Leser nahe, ohne dass das Fremde der japanischen Kultur unterschlagen würde. Wie sie Kafka selbst es ausdrücken lässt: „Alles in Buddha!”
BURKHARD MÜLLER
HARUKI MURAKAMI: Kafka am Strand. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Graefe. DuMont Verlag, Köln 2004. 636 Seiten, 24,90 Euro.
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